Das BGH-Urteil vom 03.11.1992 gegen die Grenzsoldaten W. und H. (5 StR 370/92) 5 StR 370/92

BGH-Urteil gegen Grenzsoldaten W. und H

Das BGH-Urteil vom 03.11.1992 gegen die Grenzsoldaten W. und H. (5 StR 370/92)

5 StR 370/92

Gericht:

BGH

Datum:

03.11.1992

Az:

5 StR 370/92

Fundstelle:

BGHSt 39, 1
NStZ 1993, 129
StV 1993, 9
EuGRZ 1993, 37
BGHR StGB § 25 II Mittäter 23
BGHR EGStGB Art. 315 DDR-Alttaten 3
BGHR GG Art. 25 Völkerrecht 1
BGHR WStG § 5 I Schuld 2

§§:

StGB § 2 III
StGB § 5 Nr. 6
StGB § 7 I
StGB § 11 I Nr. 5
StGB § 15
StGB § 17
StGB § 25 II
StGB § 212
StGB § 213
StGB § 213 2. Alt.
DDR-StGB § 1 III 2
DDR-StGB § 22
DDR-StGB § 95
DDR-StGB § 112
DDR-StGB § 113
DDR-StGB § 213
DDR-StGB § 213 III
DDR-StGB § 258
DDR-GrenzG § 17 II
DDR-GrenzG § 18 II
DDR-GrenzG § 27
DDR-GrenzG § 27 II
DDR-GrenzG § 27 V
EGBGB Art 6
EGStGB Art 315 I
EGStGB Art 315 IV
EinigungsV
EinigungsV Art 18
EinigungsV Art 19
EMRK Art 7
GG Art 11
GG Art 103 II
IPbürgR
IPbürgR Art 6
IPbürgR Art 12 II
IPbürgR Art 12 III
UZwG § 11
UZwGBw § 15
UZwGBw § 16
WStG § 5

Anmerkung:

Günther, Klaus StV 1993, 18
Fiedler, Wilfried JZ 1993, 206
Schroeder, Friedrich-Christian, JR 1993, 45
Amelung, Knut JuS 1993, 637
Ott, Hermann NJ 1993, 90
Solbach, G. JA 1993, 90
Hermann, Joachim NStZ 1993, 118
König, Peter JR 1993, 207
Jung, Heike JuS 1993, 601

Bemerkung:

dieser Fall Verteidigungsministerium 5 StR 176/98
dieser Fall Nationaler Verteidigungsrat 5 StR 98/94

Stichworte: Mauerschützen (1. Urteil) Schießbefehl Mauerschützen Tötungsvorsatz Verbotsirrtum Befehlsnotstand Territorialitätsprinzip DDR Weltrechtsprinzip Auslandstat DDR milderes Gesetz DDR Todesschuß finaler Rückwirkungsverbot DDR Bestimmtheitsgebot DDR Strafzumessung Gleichbehandlung Mauerschützen

BGH, Urt. vom 03.11.1992 – 5 StR 370/92

Leitsatz:

Zur Beurteilung vorsätzlicher Tötungshandlungen von Grenzsoldaten der DDR an der Berliner Mauer.

für Recht erkannt:

Die Revisionen der Angeklagten W. und H. gegen das Urteil des Landgerichts Berlin vom 5. Februar 1992 werden verworfen.

Jeder der Angeklagten hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.

– Von Rechts wegen –

Gründe

A.

Die Jugendkammer hat die Angeklagten W. (geboren am 11. April 1964) und H. (geboren am 16. Juli 1961) wegen Totschlages verurteilt, und zwar den Angeklagten W. zu einer Jugendstrafe von einem Jahr und sechs Monaten und den Angeklagten H. zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und neun Monaten; sie hat die Vollstreckung beider Strafen zur Bewährung ausgesetzt.

Die Angeklagten waren als Angehörige der Grenztruppen der DDR – W. als Unteroffizier und Führer eines aus zwei Personen bestehenden Postens, H. als Soldat – an der Berliner Mauer eingesetzt. Dort haben sie am 1. Dezember 1984 um 3.15 Uhr auf den 20 Jahre alten, aus der DDR stammenden Michael S. geschossen, der sich anschickte, die Mauer vom Stadtbezirk Pankow aus in Richtung auf den Bezirk Wedding zu übersteigen. Michael S. wurde, während er auf einer an die Mauer gelehnten Leiter hochstieg, von Geschossen aus den automatischen Infanteriegewehren der Angeklagten getroffen. Ein Geschoß aus der Waffe des Angeklagten W. drang in seinen Rücken ein, als er bereits eine Hand auf die Mauerkrone gelegt hatte; diese Verletzung führte zum Tode. S. wurde auch von einem Geschoß aus der Waffe des Angeklagten H. getroffen, und zwar am Knie; diese Verletzung war für den Tod ohne Bedeutung. Die zeitliche Abfolge der beiden Schußverletzungen ist nicht geklärt. Michael S. wurde erst kurz vor 5.30 Uhr in das Krankenhaus der Volkspolizei eingeliefert, wo er um 6.20 Uhr starb. Er wäre bei unverzüglicher ärztlicher Hilfe gerettet worden. Die Verzögerung war die Folge von Geheimhaltungs- und Zuständigkeitsregeln, die den Angeklagten nicht bekannt waren. Die Angeklagten sind nicht bei der Bergung und dem Abtransport des Opfers eingesetzt worden.
Bei den Schüssen, die Michael S. getroffen haben, waren die Gewehre der beiden Angeklagten auf „Dauerfeuer“ eingestellt. Der Angeklagte H. hat in den fünf Sekunden, während derer S. auf der Leiter nach oben stieg, insgesamt 25 Patronen verschossen; aus dem Gewehr des Angeklagten W. wurden 27 Patronen verschossen. Der Angeklagte W., der zuvor durch Zuruf zum Stehenbleiben aufgefordert und Warnschüsse abgegeben hatte, schoß aus einer Entfernung von 150 m aus dem Postenturm auf S… Der Angeklagte H., der beim Auftauchen des Flüchtlings auf Anweisung des Angeklagten W. den Turm verlassen hatte, schoß, an die Mauer gelehnt, aus einer Entfernung von ca. 110 m. Beide Angeklagte wollten S., den sie nicht für einen Spion, Saboteur oder „Kriminellen“ hielten, nicht töten. Sie erkannten aber die Möglichkeit eines tödlichen Treffers. „Auch um diesen Preis wollten sie aber gemäß dem Befehl, den sie für bindend hielten, das Gelingen der Flucht verhindern. Um die Ausführung des Befehls auf jeden Fall sicherzustellen, der zur Vereitelung der Flucht auch die bewußte Tötung des Flüchtenden einschloß, schossen sie – das als Vorstufe vorgeschriebene gezielte Dauerfeuer auslassend – in kurzen Feuerstößen Dauerfeuer. Sie wußten, daß dieses zwar die Trefferwahrscheinlichkeit, wenn auch nicht in dem anvisierten Bereich, erhöhte, damit aber auch das Risiko eines tödlichen Schusses.“
Die Angeklagten waren vor dem Antritt ihres Dienstes an der Grenze gefragt worden, ob sie bereit seien, gegen „Grenzverletzer“ die Waffe einzusetzen; sie hatten die Frage ohne innere Vorbehalte bejaht. Die §§ 26, 27 des Grenzgesetzes vom 25. März 1982 (GBl. DDR I S. 197) waren bei ihrer Ausbildung erörtert worden. Nach § 27 Abs. 2 Satz 1 dieses Gesetzes war die Anwendung der Schußwaffe „Gerechtfertigt, um die unmittelbar bevorstehende Ausführung oder die Fortsetzung einer Straftat zu verhindern, die sich den Umständen nach als ein Verbrechen darstellt“. Die Jugendkammer hat als wahr unterstellt, daß Verstöße gegen § 213 StGB-DDR („Ungesetzlicher Grenzübertritt“) mit unmittelbarem Kontakt zur Berliner Mauer zur Tatzeit in den meisten Fällen nach § 213 Abs. 3 StGB-DDR als Verbrechen gewertet und mit mehr als zwei Jahren Freiheitsstrafe bestraft wurden; der Tatrichter hält es für möglich, daß bei der Schulung der Angeklagten die Vorschrift des § 213 StGB-DDR, deren Grundtatbestand ein Vergehen war, ohne Differenzierung nach der Tatschwere besprochen, also der Fluchtversuch an der Mauer generell als Verbrechen dargestellt worden ist.
Zur Befehlslage heißt es in den Urteilsgründen: „Die auch für die Angeklagten maßgebliche, von ihnen so verstandene und akzeptierte Befehlslage ging dahin, daß auf jeden Fall und letztlich mit allen Mitteln zu verhindern, daß der Flüchtende ‘feindliches Territorium (hier: Berlin-West) erreichte.
Dementsprechend lautete eine der bei der ‘Vergatterung’ auch gegenüber den Angeklagten verwendeten Formulierungen in ihrem Kernsatz: ‘Grenzdurchbrüche sind auf keinen Fall zuzulassen. Grenzverletzer sind zu stellen oder zu vernichten’ … Vor jedem Ausrücken zum Grenzdienst erfolgte die Vergatterung; durch sie wurde den Grenzposten noch einmal der konkrete Einsatz und in allgemeiner Form die gestellte Aufgabe bewußt gemacht.“ Die in der Schulung behandelte Befehlslage sah folgendes Handlungsschema vor, wobei jeweils zur nächsten Handlungsstufe überzugehen war, wenn die vorherige keinen Erfolg zeigte oder sich von vornherein als nicht erfolgversprechend darstellte:

– Anrufen des Flüchtenden – Versuch des Postens, den Flüchtenden zu Fuß zu erreichen –
Warnschuß

– gezieltes Einzelfeuer, falls erforderlich mehrmals, auf die Beine – „Weiterschießen, egal wie, notfalls auch erschießen, bis die Flucht verhindert ist.“

Als Faustregel galt: „Besser der Flüchtling ist tot, als daß die Flucht gelingt.“

Die Jugendkammer nimmt an, daß die Angeklagten mit bedingtem Vorsatz einen gemeinschaftlichen Totschlag begangen haben. Sie wendet die §§ 212, 213 StGB als das gegenüber dem Strafrecht der DDR mildere Recht an (Art. 315 Abs. 1 EGStGB iV mit § 2 Abs. 3 StGB). Nach ihrer Ansicht war zwar das durch § 27 des Grenzgesetzes IV mit § 213 Abs. 3 StGB-DDR bestimmte Grenzregime an der Demarkationslinie mit den völkerrechtliche Verpflichtungen der DDR und mit dem ordre public der Bundesrepublik Deutschland unvereinbar. Daraus folgt aber nach Auffassung der Jugendkammer nicht, daß zum Nachteil der Angeklagten der im Recht der DDR vorgesehene Rechtfertigungsgrund außer Betracht bleiben kann. Die Jugendkammer beruft sich insoweit auf Artikel 103 Abs. 2 GG sowie auf den Gesichtspunkt der Rechtssicherheit; die Rechtssicherheit habe hier Vorrang, weil ein Extremfall, wie er etwa in BGHSt 2, 234 zur Entscheidung stand, nicht vorgelegen habe.

Die Jugendkammer führt jedoch weiter aus: Auch wenn hiernach ein Rechtfertigungsgrund nach dem Recht der DDR in Betracht komme, so sei er gleichwohl wegen der besonderen Umstände der Tat auf die Schüsse der Angeklagten nicht anwendbar. Wie sich aus der Systematik der §§ 26, 27 des Grenzgesetzes ergebe, seien diese Vorschriften, ebenso wie die Bestimmungen des UZwG über den Schußwaffengebrauch, am Prinzip der Verhältnismäßigkeit orientiert; § 27 Abs. 1 Satz 1 bezeichne die Anwendung der Schußwaffe als „die äußerste Maßnahme der Gewaltanwendung“. Eine den Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit beachtende Auslegung des Rechtfertigungsgrundes ergebe hier, daß das von den Angeklagten abgegebene Dauerfeuer nicht durch § 27 des Grenzgesetzes gedeckt, sondern nur Einzelfeuer gestattet gewesen sei; dafür spreche auch die Regelung des § 27 Abs. 5 des Grenzgesetzes, nach der Menschenleben nach Möglichkeit zu schonen sei. Zwar hätten die Angeklagten auf die Beine gezielt. Ihnen sei aber bewußt gewesen, daß bei einem Dauerfeuer mit kurzen Feuerstößen die Waffe nach dem ersten Schuß „auswandere“.
Das Verhalten der Angeklagten ist nach Ansicht des Landgerichts nicht durch dienstlichen Befehl (§ 5 WStG; § 258 StGB-DDR) entschuldigt gewesen. Befohlen sei in der Tatsituation Einzelfeuer auf die Beine gewesen; die Angeklagten seien in vorauseilendem Gehorsam über diesen Befehl hinausgegangen, um durch Dauerfeuer die Chance, den Flüchtling zu treffen und damit an der Überschreitung der grenze zu hindern, zu erhöhen. „Daß die Angeklagten dabei geglaubt haben, dieses Vorgehen sei durch den Befehl, den Grenzverletzer in jedem Fall zu stellen, ihn als letztes Mittel sogar zu vernichten, (= töten), gedeckt, vermag sie nicht zu entlasten, denn die Ausführung des Befehls, einen Flüchtling notfalls zu erschießen …, verstieß offensichtlich gegen das Strafgesetz, nämlich das Tötungsverbot der §§ 112, 113 StGB-DDR.“ Das Mißverhältnis des wirtschaftlichen und politischen Interesses der DDR an der Verhinderung einer unkontrollierten Ausreise ihrer Bürger zu dem Rechtsgut des Lebens sei offensichtlich gewesen; Rechtsblindheit werde auch durch § 258 StGB-DDR nicht privilegiert. Deswegen sei ein Verbotsirrtum (§ 17 StGB) vermeidbar gewesen.

Die Jugendkammer hat bei der Strafzumessung, auch hinsichtlich des Angeklagten W., angenommen, daß die Voraussetzungen des § 213 StGB (minder schwerer Fall des Totschlages) vorlägen.

B.

Die Revision des Angeklagten W. beanstandet, das Landgericht habe gegen ein „Bestrafungsverbot“ verstoßen, das aus der „act of state doctrine“ herzuleiten sei; der Angeklagte habe nämlich als Funktionsträger, im Auftrag und im Interesse eines anderen Staates, der DDR, gehandelt und dürfe deswegen nicht zur Verantwortung gezogen werden. Damit soll ersichtlich ein Verfahrenshindernis geltend gemacht werden. Es besteht nicht.

I.

Die in Staaten des angelsächsischen Rechtskreises in unterschiedlicher Weise formulierte „act of state doctrine“ ist keine allgemeine Regel des Völkerrechts im Sinne des Art. 25 GG. Sie betrifft vielmehr die Auslegung innerstaatlichen Rechtes, nämlich die Frage, ob und in welchem Maße von der Wirksamkeit der Akte fremder Staaten auszugehen ist (Ipsen, Völkerrecht, 3. Aufl. 1990, S. 335, 619; Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, 3. Aufl. 1984, S. 775; Dahm/Dellbrück/Wolfrum, Völkerrecht, 2. Aufl. 1989, S. 487; Kimminich, Völkerrecht, 4. Aufl. 1990, S. 316). Die kontinentaleuropäische, auch die deutsche, Rechtspraxis greift auf diese Doktrin nicht zurück (Dahm/Dellbrück/Wolfrum aaO S. 490 f.). Hier gibt es keine verbindliche Regel, daß die Wirksamkeit ausländischer Hoheitsakte bei der Anwendung innerstaatlichen Rechtes der gerichtlichen Nachprüfung entzogen sei (vgl. für den Bereich des Strafrechts insbesondere M. Herdegen, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 47, 1987, S. 221 ff). Im Einigungsvertrag ist nicht vereinbart worden, daß Akte, die der Staatstätigkeit der DDR zuzuordnen sind, der Nachprüfung durch Gerichte der Bundesrepublik Deutschland entzogen sein sollen. Das Gegenteil trifft zu: In den Artikeln 18 und 19 des Einigungsvertrages ist bestimmt, daß Entscheidungen der Gerichte und der Verwaltung der DDR zwar grundsätzlich wirksam bleiben, jedoch aufgehoben werden können, wenn sie mit rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht zu vereinbaren sind (vgl. auch die Anlage I zum Einigungsvertrag, Kapitel III, Sachgebiet A, Abschnitt III Nr. 14 d).

II.

Möglicherweise meint die Revision mit ihrem Einwand, Gerichte der Bundesrepublik Deutschland dürften mit Rücksicht auf die Immunität fremder Staaten und ihrer Repräsentanten keine Gerichtsbarkeit ausüben; die Revision beruft sich auf eine zu Immunitätsfragen ergangene Entscheidung des VI. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs (NJW 1979, 1101) sowie auf die Entscheidung BGHSt 33, 97, mit der dem Staatsratsvorsitzenden der DDR im Jahre 1984 Immunität zuerkannt worden ist, wie sie einem Staatsoberhaupt zukommt. Die Angeklagten sind schon deswegen nicht als Repräsentanten eines fremden Staates zu behandeln, weil die Deutsche Demokratische Republik nicht mehr besteht.

C.

Die sachlichrechtliche Nachprüfung ergibt, daß die Revisionen der Angeklagten im Ergebnis unbegründet sind.

I.

Die Angeklagten und das Tatopfer hatten zur Tatzeit ihre Lebensgrundlage in der DDR; dort ist das Opfer von den Schüssen der Angeklagten getroffen worden und gestorben. Das Landgericht hat Artikel 315 Abs. 1 EGStGB (idF des Einigungsvertrages, Anl. I, Kap. III, Sachgebiet C, Abschn. II Nr. 1 b) angewandt und ermittelt, ob das Recht der Bundesrepublik Deutschland oder das Recht der DDR milder im Sinne des § 2 Abs. 3 StGB sei. Dieser Ausgangspunkt entspricht der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (vgl. BHGSt 37, 320; 38, 1, 3; 38, 18; 38, 88; BGHR StGB § 2 Abs. 3 DDR-StGB 5).
Etwas anderes würde gelten, wenn die Tat schon vor dem 3. Oktober 1990 nach dem Recht der Bundesrepublik Deutschland zu beurteilen gewesen wäre (Art. 315 Abs. 4 EGStGB idF des Einigungsvertrages).
1. Der Senat hat die Frage geprüft, ob die in BGHSt 32, 293 im Jahre 1984 entwickelten Grundsätze mit dem Ergebnis anzuwenden sind, daß schon vor der Vereinigung Deutschlands Taten der hier in Rede stehenden Art nach dem Strafrecht der Bundesrepublik Deutschland zu beurteilen waren (vgl. Laufhütte in LK, 11. Aufl., vor § 80 Rdn. 35). Er hat die Frage verneint.
Der 3. Strafsenat hatte in der Entscheidung BGHSt 32, 293 im Anschluß an seine Entscheidung BGHSt 30, 1 ausgeführt, das Strafrecht der Bundesrepublik Deutschland gelte für eine in der damaligen DDR unter Einheimischen durch politische Verdächtigung bewirkte Freiheitsberaubung, und zwar aus folgenden Gründen: Zwar schütze das Strafrecht der Bundesrepublik Deutschland spätestens seit dem Grundlagenvertrag vom 21. Dezember 1972 (BGBl. 1973 II S. 421) nicht mehr alle in der DDR lebenden Deutschen in dem Sinne, daß die gegen sie auf dem Gebiet der DDR begangenen Taten ohne weiteres nach § 7 Abs. 1 StGB, mithin nach dem Strafrecht der Bundesrepublik Deutschland zu beurteilen seien. Etwas anderes gelte aber jedenfalls für Taten, in denen die mit politischer Verdächtigung oder Verschleppung verbundene Gefahr rechtsstaatswidriger Verfolgung in eine Verletzung, insbesondere in eine Freiheitsberaubung übergehe; der in § 5 Nr. 6 StGB gewährte umfassende Schutz (BGHSt 30, 1) könne nach dem Zweck dieser Vorschrift nicht auf die Ahndung des Gefährdungstatbestandes beschränkt bleiben (BGHSt 32, 293, 298).

Im vorliegenden Fall sind die Regeln des § 5 StGB nicht betroffen; eine Anknüpfung an die Vorschrift des § 5 Nr. 6 StGB ist, anders als in den Fällen BGHSt 30, 1; 32, 293, nicht möglich. Den Schüssen an der Mauer war kein Gefährdungsdelikt vorausgegangen. Michael S. ist zwar, ebenso wie die Opfer der in den §§ 234 a, 241 a StGB bezeichneten Straftaten, das Opfer eines Freiheitsrechte mißachtenden politischen Systems geworden. Dieser Gesichtspunkt ist für sich allein aber nicht bestimmt genug, um die gegen ihn begangene Tat im Hinblick auf das Rechtsanwendungsrecht (§§ 3 bis 7 StGB) hinreichend deutlich zu beschreiben und von anderen in der DDR begangenen Taten abzugrenzen, für die die Vorschrift des § 7 Abs. 1 StGB nicht galt.
Hinzu kommt folgende Überlegung: Der Gesetzgeber hat ersichtlich den Meinungsstand hinsichtlich der Anwendung der §§ 3 bis 7 StGB auf DDR-Fälle, insbesondere die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGHSt 30, 1; 32, 293), gekannt, als er mit der Neufassung des Artikels 315 EGStGB durch den Einigungsvertrag in das System des Rechtsanwendungsrechts eingriff. Würde die Rechtsprechung, die sich nur noch auf Taten bezieht, die vor dem Inkrafttreten des Einigungsvertrages begangen worden sind, im jetzigen Zeitpunkt wesentlich geändert, so erhielte die Neufassung des Art. 315 EGStGB einen Inhalt, mit dem der Gesetzgeber nicht gerechnet hat. Unter diesen Umständen ist der Anwendungsbereich des Artikels 315 Abs. 4 EGStGB nicht anders zu beurteilen, als es dem gesicherten Stand der bisherigen Rechtsprechung entspricht.

2. Aus den gleichen Gründen folgt der Senat nicht dem weitergehenden, in jüngster Zeit wieder aufgeriffenen Vorschlag, Deutsche, die ihren Lebensmittelpunkt in der DDR hatten, ausnahmslos als Deutsche im Sinne des § 7 Abs. 1 StGB aufzufassen (Küpper/Wilms ZRP 1992, 91; Bath Deutschland-Archiv 1990, 1733; im Ergebnis ähnlich Hruschka JZ 1992, 665; aus der Zeit vor 1989 vgl. Oehler JZ 1984, 948; Woesner ZRP 1976, 248 sowie OLG Düsseldorf NIW 1979, 59; 1983, 1277). Daß dem Einigungsvertrag diese Auslegung nicht zugrunde gelegen hat, ergibt sich schon aus der Beobachtung, daß für die Vorschrift des Artikels 315 Abs. 1 EGStGB nur ein sehr geringer Anwendungsbereich (Taten ohne individuelle Opfer sowie Taten gegen Ausländer) übrig bliebe, wenn alle Taten, die sich gegen DDR-Bürger richteten, unter Artikel 315 Abs. 4 EGStGB fielen; wie die Gesamtheit der in den Artikeln 315 bis 315 c EGStGB idF des Einigungsvertrages enthaltenen Regelungen zeigt, ist der Gesetzgeber aber ersichtlich davon ausgegangen, daß der Anwendungsbereich des – allerdings an § 2 Abs. 3 StGB zu messenden – DDR-Rechts breit sein werde.

II.

Das Recht der ehemaligen DDR wäre im Sinne des § 2 Abs. 3 StGB (iV mit Art. 315 Abs. 1 EGStGB idF des Einigungsvertrages) im Vergleich mit dem Recht der Bundesrepublik Deutschland das mildere Recht, wenn der abgeurteilte tödliche Schußwaffengebrauch nach dem Recht der DDR (§ 27 Abs. 2 des Grenzgesetzes iV mit § 213 Abs. 3 StGB-DDR) gerechtfertigt gewesen wäre und dieser Rechtfertigungsgrund auch heute zugunsten der Angeklagten betrachtet werden müßte. Die Nachprüfung ergibt, daß die Angeklagten zwar – nach der zur Tatzeit in der DDR praktizierten Auslegung – den in § 27 Abs. 2 des Grenzgesetzes bezeichneten Anforderungen entsprochen haben, daß sich daraus jedoch kein wirksamer Rechtfertigungsgrund ergibt.

1. Die Grenztruppen der DDR hatten nach § 18 Abs. 2 des Grenzgesetzes vom 25. März 1982 (GBl. DDR I S. 197) die „Unverletzlichkeit“ der Grenze zu „gewährleisten“; als Verletzung galt u.a. das widerrechtliche Passieren der Grenze (§ 17 Satz 2 Buchst. b des Grenzgesetzes).

Nach § 27 Abs. 2 Satz 1 des Grenzgesetzes war die Anwendung der Schußwaffe „gerechtfertigt, um die unmittelbar bevorstehende Ausführung oder die Fortsetzung einer Straftat zu verhindern, die sich den Umständen nach als ein Verbrechen darstellt“. In § 27 Abs. 5 Satz 1 des Gesetzes hieß es, das Leben von Personen sei bei der Anwendung der Schußwaffe „nach Möglichkeit zu schonen“. Als Verbrechen wurden nach § 1 Abs. 3 Satz 2 StGB-DDR u.a. „gesellschaftsgefährliche“ Straftaten gegen „Rechte und Interessen der Gesellschaft“ verstanden, die eine „schwerwiegende Mißachtung der sozialistischen Gesetzlichkeit darstellen und … für die innerhalb des vorgesehenen Strafrahmens im Einzelfall eine Freiheitsstrafe von über zwei Jahren ausgesprochen wird“. Mit einer solchen Strafe, nämlich mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu acht Jahren, war der ungesetzliche Grenzübertritt in schweren Fällen bedroht (§ 213 Abs. 3 StGB-DDR idF des 3. Strafrechtsänderungsgesetzes vom 28. Juni 1979, GBl. DDR I S. 139). Ein schwerer Fall lag nach § 213 Abs. 3 Nr. 2 StGB-DDR „insbesondere“ vor, wenn die Tat mit „gefährlichen Mitteln oder Methoden“ durchgeführt wurde. Daß die Praxis der DDR zur Tatzeit die „Republikflucht“ mit unmittelbarem Grenzkontakt in den meisten Fällen als Verbrechen wertete und mit Freiheitsstrafen von mehr als zwei Jahren ahndete, hat der Tatrichter unterstellt (UA S. 11). Dem entspricht es, daß das Oberste Gericht der DDR und der Generalstaatsanwalt der DDR am 15. Januar 1988 in ihrem „Gemeinsamen Standpunkt zur Anwendung des § 213 StGB“ ausgeführt haben, eine gefährliche Methode im Sinne des § 213 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StGB sei u.a. das Benutzen von „Steighilfen zur Überwindung von Grenzicherungsanlagen“ (OG-Informationen 2/1988 S. 9, 14): bereits am 17. Oktober 1980 war ein „Gemeinsamer Standpunkt“ des Obersten Gerichtes und des Generalstaatsanwalts mit entsprechendem Inhalt formuliert worden (OG-Informationen – Sonderdruck 1980 S. 3; vgl. auch UA S. 49).

Nach dem vom Ministerium der Justiz und der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft der DDR herausgegebenen Kommentar zum Strafgesetzbuch (Strafrecht der Deutschen Demokratischen Republik, 5. Aufl. 1987 – fortan als „DDR-Kommentar“ zitiert -, § 213 Anm. 16) fiel das Verhalten des Tatopfers auch unter § 213 Abs. 3 Satz 2 Nr. 5 StGB-DDR: Michael S. hatte bis zum Übersteigen der Hinterlandmauer gemeinschaftlich mit einem anderen gehandelt (UA S. 15); dessen Rücktritt vom Versuch des unerlaubten Grenzübertritts bewirkte nicht, daß für Michael S. die Voraussetzungen des § 213 Abs. 3 Satz 2 Nr. 5 StGB-DDR (Begehung der Tat „zusammen mit anderen“) wegfielen (DDR-Kommentar aaO).

2. Entgegen der Auffassung der Jugendkammer kommt eine Auslegung dieser Vorschriften in dem Sinne in Betracht, daß das Verhalten der Angeklagten von ihnen gedeckt war.

a) Der Wortsinn des § 27 des Grenzgesetzes läßt eine solche Auslegung zu: Der Grenzübertritt, der in Anwendung des § 213 Abs. 3 StGB-DDR als Verbrechen angesehen wurde, sollte, sofern er unmittelbar bevorstand, durch Anwendung der Schußwaffe „verhindert“ werden (§ 27 Abs. 2 Satz 1 des Grenzgesetzes). Zwar bezeichnete das Gesetz die Anwendung der Schußwaffe als „äußerste Maßnahme“ (§ 27 Abs. 1 Satz 1 des Grenzgesetzes); andere Mittel, den Grenzübertritt zu verhindern, standen den Angeklagten aber nicht zur Verfügung. Nach § 27 Abs. 5 des Grenzgesetzes war das Leben anderer „nach Möglichkeit“, also nicht in jedem Fall zu schonen. Hiernach läßt der Wortlaut des Gesetzes die Auslegung zu, daß auch mit (jedenfalls bedingtem) Tötungsvorsatz geschossen werden durfte, wenn das Ziel, Grenzverletzungen zu verhindern, nicht auf andere Weise erreicht werden konnte.

Voraussetzung für diese Auslegung des § 27 des Grenzgesetzes ist allerdings, daß das Ziel, Grenzverletzungen zu verhindern, im Konfliktfalle Vorrang vor der Schonung menschlichen Lebens hatte. Wie die Abwägung zwischen dem Leben des Flüchtlings und der „Unverletzlichkeit der Staatsgrenze“ auszufallen hatte, war aus dem Gesetz nicht abzulesen. Rechtsprechung von Gerichten der DDR ist zu dieser Frage nicht veröffentlicht worden. Äußerungen im Schrifttum der DDR zum Schußwaffengebrauch an der Grenze beschränken sich auf die Darlegung, daß die Bestimmungen über den Schußwaffengebrauch den westdeutschen Vorschriften entsprächen (Kaul/Graefrath NJ 1964, 272, 273) und im Einklang mit dem Völkerrecht dem Schutz der nationalen Sicherheit und öffentlichen Ordnung dienen (Buchholz/Wieland NJ 1977, 22, 26); diese Äußerungen stammen aus der Zeit vor dem Inkrafttreten des Grenzgesetzes. Unter diesen Umständen sind die vom Tatrichter festgestellte Befehlslage und die – ebenfalls auf vorgegebenen Befehlen beruhenden – Begleitumstände des Tatgeschehens heranzuziehen, um zu ermitteln, wie die Vorschrift des § 27 des Grenzgesetzes zur Tatzeit von den für ihre Anwendung und Auslegung Verantwortlichen verstanden worden ist.

aa) Die Befehlslage schloß „zur Vereitelung der Flucht auch die bewußte Tötung des Flüchtenden“ ein (UA S. 17), falls mildere Mittel zur Fluchtverhinderung nicht ausreichten (UA S. 22). Daß der Flüchtende den Westteil von Berlin erreichte, war danach „auf jeden Fall und letztlich mit allen Mitteln zu verhindern“ (UA S. 12). In der regelmäßig wiederkehrenden Vergatterung war nach den Feststellungen der „Kernsatz“ enthalten: „Grenzdurchbrüche sind auf keinen Fall zuzulassen. Grenzverletzer sind zu stellen oder zu vernichten“ (UA S. 12). Bei der Schulung der Grenzsoldaten galt die Faustregel: „Besser der Flüchtling ist tot, als daß die Flucht gelingt“ (UA S. 13). Das Interesse, die Flucht zu verhindern, hatte hiernach Vorrang vor dem Leben des Flüchtlings. Eine gelungene Flucht war „das Schlimmste, was der Kompanie passieren konnte, da sie der ihr gestellten Aufgabe nicht gerecht geworden wäre“ (UA S. 13). Die Erschießung eines Flüchtlings an der Mauer hatte dagegen „keine negativen Konsequenzen“; sie hat nie zu einem Verfahren gegen den Schützen geführt (UA S. 13, 28 f). Vielmehr wurde der Posten, der eine Flucht, wie auch immer, verhindert hatte, ausgezeichnet und belohnt (UA S. 13). Der Tatrichter hat keinerlei Anhaltspunkte dafür gefunden, daß Gerichte, Staatsanwaltschaften oder andere staatliche Instanzen der DDR jemals beanstandet hätten, der durch die Befehlslage bezeichnete Schußwaffengebrauch überschreite die in § 27 des Grenzgesetzes gesteckte Grenzen (UA S. 28 f).

bb) Daß der Schutz des Lebens von „Grenzverletzern“ hinter andere Ziele, auch das Ziel der Geheimhaltung schwerer Verletzungen, zurücktrat, zeigen auch die folgenden Feststellungen des Tatrichters:

Obwohl § 27 Abs. 5 des Grenzgesetzes vorschrieb, das Leben von Personen nach Möglichkeit zu schonen und unter Beachtung der notwendigen Sicherheitsmaßnahmen Erste Hilfe zu gewähren, hat keiner der nach den Schüssen der Angeklagten hinzugekommenen Angehörigen der Grenztruppen und anderer Einheiten Michael S. geholfen, obwohl dieser mehrfach darum bat. Der Verletzte wurde zu einem Turm „geschleift“ und dort an einer vom Westen nicht einsehbaren Stelle „abgelegt“. Michael S. ist nicht mit dem gewöhnlichen Krankenwagen der „Schnellen medizinischen Hilfe“, sondern mit dem Sanitätswagen des Regiments, der zunächst 45 Minuten für die Anfahrt benötigt hatte, abtransportiert worden, und zwar nicht zum nächstgelegenen Krankenhaus, sondern zu dem entfernteren Krankenhaus der Volkspolizei, wo er mehr als zwei Stunden nach den Verletzungen eingeliefert wurde. In dem Sanitätswagen war kein Arzt, weil bei der Anforderung des Wagens nicht mitgeteilt werden durfte, daß jemand schwer verletzt worden war. Bei schneller ärztlicher Hilfeleistung hätte Michael S. gerettet werden können. Die genannten Maßnahmen, die eine erhebliche Verzögerung bewirkten, entsprachen der Befehlslage, die vorrangig nicht an der Lebensrettung, sondern an dem Interesse orientiert war, daß der Vorfall auf beiden Seiten der Grenze unerkannt blieb; möglicherweise galt diese Geheimhaltung als „notwendige Sicherheitsmaßnahme“ im Sinne des § 27 Abs. 5 Satz 2 des Grenzgesetzes. Dem Vorrang der Geheimhaltung vor der Lebensrettung entsprach es, daß die Sanitäter die Fahrt nicht ihrem Regimentsarzt melden durften, daß der Zugführer unterschreiben mußte, der Nachtdienst sei ohne besondere Vorkommnisse verlaufen, und daß der Name des Opfers im Eingangsbuch des Krankenhauses sowie auf dem Totenschein nicht genannt wurde; auch wurde der Vater des Opfers erst am 4. Dezember 1984 vom Tod seines Sohnes unterrichtet.

Ein Hinweis auf die Bedeutung politischer Interessen ergibt sich auch daraus, daß der Befehl, an der Grenze zu schießen, anläßlich von Staatsbesuchen, Parteitagen und FDJ-Treffen auf Fälle der Notwehr, der Verwendung „schwerer Technik“ und der Fahnenflucht beschränkt wurde. Gleichzeitig wurde die Postendichte verstärkt.

cc) Die genannten tatsächlichen Umstände ergeben in ihrer Gesamtheit, daß die Verhinderung des Grenzübertritts als überragendes Interesse aufgefaßt wurde, hinter das persönliche Rechtsgüter einschließlich des Lebens zurücktraten. Der Senat gelangt deswegen zu dem Ergebnis, daß nach der zur Tatzeit in der DDR geübten Staatspraxis die Anwendung von Dauerfeuer ohne vorgeschaltetes, auf die Beine gerichtetes Einzelfeuer nicht als rechtswidrig angesehen worden wäre. Denn die Angeklagten haben mit dem Dauerfeuer die Chance, die Flucht zu verhindern, freilich auch das Risiko eines tödlichen Treffers, erhöht und damit dem entsprochen, was ihnen im Einklang mit der herrschenden Auslegung des Grenzgesetzes als das wichtigste Ziel vermittelt wurde, nämlich die Verhinderung von Grenzübertritten. Sie hätten sich nach den genannten Beurteilungsmaßstäben allenfalls dann einer auf § 27 Abs. 5 Satz 1 des Grenzgesetzes gestützten Kritik ausgesetzt, wenn eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür gesprochen hätte, daß das Einzelfeuer auf die Beine die Flucht zuverlässig verhindert hätte. Das liegt hier angesichts der zeitlichen Verhältnisse fern: Er hat fünf Sekunden bis zum Erreichen einer Höhe benötigt, aus der er an die Mauerkrone greifen konnte. Es muß angenommen werden, daß er zu diesem Zeitpunkt in der Lage war, innerhalb weniger Sekunden die Mauerkrone zu übersteigen und sich dadurch in Sicherheit zu bringen. Bei der Abgabe von Einzelfeuer betrug nach den Feststellungen der Mindestabstand zwischen zwei Schüssen 1,5 Sekunden; angesichts der Kürze der für die Fluchtverhinderung verbliebenen Zeit war hiernach die Chance, dieses Ziel zu erreichen, bei Dauerfeuer (mit einer Frequenz von 10 Schüssen je Sekunde) wesentlich höher. Im übrigen ist auch zu berücksichtigen, daß die Entfernung der Schützen von Michael S. nicht unbeträchtlich war und daß sich die Ereignisse zur Nachzeit zutrugen.

dd) Hiernach entsprach das Verhalten der Angeklagten der rechtfertigenden Vorschrift des § 27 Abs. 2 des Grenzgesetzes, so wie sie in der Staatspraxis angewandt wurde. Diese Staatspraxis ist durch den Vorrang der Fluchtverhinderung vor dem Lebensschutz gekennzeichnet; die zur Rechtskontrolle berufenen Gerichte und Behörden der DDR haben dieser Staatspraxis nicht widersprochen. Sofern man das darin zum Ausdruck gekommene Verständnis des § 27 Abs. 2 des Grenzgesetzes zugrunde legt, waren die mit bedingtem Vorsatz und Dauerfeuer abgegebenen Schüsse der Angeklagten gerechtfertigt.
In dieser Betrachtungsweise weicht der Senat vom Vorgehen der Jugendkammer ab. Diese hat das Grenzgesetz wegen des von ihm erweckten „Anscheins von Rechtsstaatlichkeit“ nach rechtsstaatlichen Maßstäben, insbesondere im Lichte des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ausgelegt (UA S. 51); sie ist der Auffassung, daß staatliche Präventionszwecke niemals die vorsätzliche, auch nicht die bedingt vorsätzliche Tötung eines Menschen, der das Leben anderer nicht gefährdet, rechtfertigten, weil das Leben das höchste Rechtsgut sei (UA S.53). Nach Ansicht der Jugendkammer rechtfertigt § 27 Abs. 2 des Grenzgesetzes die (unbedingt oder bedingt) vorsätzliche Tötung auch dann nicht, wenn die in § 27 des Grenzgesetzes umschriebenen staatlichen Zwecke anders nicht zu erreichen wären (UA S. 54). Diese Rechtsauffassung der Jugendkammer ist dem Grundgesetz und der Europäischen Menschenrechtskonvention verpflichtet. Sie wäre deshalb ein geeigneter Ausgangspunkt für die Auslegung des § 11 UZwG sowie des § 16 UZwGBw. Hier geht es indessen nicht um die Auslegung dieser Vorschriften, sondern im Hinblick auf § 2 Abs. 3 StGB um die Prüfung, ob als milderes Gesetz ein Rechtfertigungsgrund nach dem zur Tatzeit geltenden fremden Recht in Betracht kommt.

b) Von der Frage, ob das Verhalten der Angeklagten nach dem Recht der DDR, wie es in der Staatspraxis angewandt wurde, gerechtfertigt war, ist die andere Frage zu unterscheiden, ob ein so verstandener Rechtfertigungsgrund (§ 27 Abs. 2 des Grenzgesetzes) wegen Verletzung vorgeordneter, auch von der DDR zu beachtender allgemeiner Rechtsprinzipien und wegen eines extremen Verstoßes gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip bei der Rechtsfindung außer Betracht bleiben muß, und zwar auch dann, wenn die Prüfung des fremden Rechtfertigungsgrundes im Rahmen des § 2 Abs. 3 StGB stattfindet. Der Senat bejaht diese Frage.

Der in § 27 Abs. 2 des Grenzgesetzes genannte Rechtfertigungsgrund, wie ihn die damalige Staatspraxis, vermittelt durch die Befehlslage, handhabte, hat, sofern der Grenzübertritt auf andere Weise nicht verhindert werden konnte, das (bedingt oder unbedingt) vorsätzliche Töten von Personen gedeckt, die nichts weiter wollten, als unbewaffnet und ohne Gefährdung allgemein anerkannter Rechtsgüter die Grenze zu überschreiten. Die Durchsetzung des Verbots, die Grenze ohne besondere Erlaubnis zu überschreiten, hatte hiernach Vorrang vor dem Lebensrecht von Menschen. Unter diesen besonderen Umständen ist der Rechtfertigungsgrund, wie er sich in der Staatspraxis darstellte, bei der Rechtsanwendung nicht zu beachten.

aa) Allerdings müssen Fälle, in denen ein zur Tatzeit angenommener Rechtfertigungsgrund als unbeachtlich angesehen wird, auf extreme Ausnahmen beschränkt bleiben.

Daß ein Rechtfertigungsgrund gegen den ordre public der Bundesrepublik Deutschland (vgl. Art. 6 EGBGB) verstoßen hat, ist – entgegen Küpper/Wilms ZRP 1992, 91, 93 – für sich allein kein ausreichender Grund, ihm bei der Aburteilung einer unter dem früheren Recht begangenen Tat die Berücksichtigung zu versagen. Das Landgericht hat mit Recht auf die hohe Bedeutung der Rechtssicherheit hingewiesen. Sie spricht dafür, in den Fällen des § 2 Abs. 3 StGB bei der Ermittlung des milderen Rechtes grundsätzlich die Rechtfertigungsgründe des früheren Rechtes mit zu berücksichtigen.

bb) Ein zur Tatzeit angenommener Rechtfertigungsgrund kann vielmehr nur dann wegen Verstoßes gegen höherrangiges Recht unbeachtet bleiben, wenn in ihm ein offensichtlich grober Verstoß gegen Grundgedanken der Gerechtigkeit und Menschlichkeit zum Ausdruck kommt; der Verstoß muß so schwer wiegen, daß er die allen Völkern gemeinsamen, auf Wert und Würde des Menschen bezogenen Rechtsüberzeugungen verletzt (BGHSt 2, 234, 239). Der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit muß so unerträglich sein, daß das Gesetz als unrichtiges Recht der Gerechtigkeit zu weichen hat (Radbruch SJZ 1946, 105, 107). Mit diesen Formulierungen (vgl. auch BVerfGE 3, 225, 232; 6, 132, 198 f) ist nach dem Ende der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft versucht worden, schwerste Rechtsverletzungen zu kennzeichnen. Die Übertragung dieser Gesichtspunkte auf den vorliegenden Fall ist nicht einfach, weil die Tötung von Menschen an der innerdeutschen Grenze nicht mit dem nationalsozialistischen Massenmord gleichgesetzt werden kann. Gleichwohl bleibt die damals gewonnene Einsicht gültig, daß bei der Beurteilung von Taten, die in staatlichem Auftrag begangen worden sind, darauf zu achten ist, ob der Staat die äußerste Grenze überschritten hat, die ihm nach allgemeiner Überzeugung in jedem Lande gesetzt ist.

cc) Heute sind konkretere Prüfungsmaßstäbe hinzugekommen: Die internationalen Menschenrechtspakte bieten Anhaltspunkte dafür, wann der Staat nach der Überzeugung der weltweiten Rechtsgemeinschaft Menschenrechte verletzt. Hierbei ist der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966 (BGBl. II 1973 S. 1534 – IPbürgR -) von besonderer Bedeutung. Die DDR ist ihm im Jahre 1974 beigetreten (GBl. DDR II S. 57); sie hat die Ratifizierungsurkunde am 8. November 1974 hinterlegt (GBl. aaO). Der internationale Pakt (im Sprachgebrauch der DDR „Konvention über zivile und politische Rechte“ genannt) ist für beide deutsche Staaten am 23. März 1976 in Kraft getreten (BGBl. II S. 1068; GBl. DDR II S. 108). Allerdings hat die DDR es unterlassen, den Pakt gemäß Art. 51 der DDR-Verfassung zum Anlaß für innerstaatliche Gesetzesänderungen zu nehmen und bei dieser Gelegenheit nach der genannten Verfassungsvorschrift von der Volkskammer „bestätigen“ zu lassen. An der völkerrechtlichen Bindung der DDR ändert dieser Sachverhalt nichts. Ein Staat kann sich „nicht durch eine Berufung auf seine innerstaatliche Rechtsordnung der Erfüllung von ihm eingegangener Verpflichtungen entziehen“ (Völkerrecht, Lehrbuch, Berlin-Ost 1981, I S. 59); er ist „kraft Völkerrechts verpflichtet, im Bereich seiner innerstaatlichen Gesetzgebung entsprechend diesen Verpflichtungen zu handeln und sie zu erfüllen“ (aaO). Ergeben sich bei der Bewertung des Rechts der DDR Widersprüche zwischen den von ihr völkerrechtlich anerkannten Menschenrechten und der tatsächlichen Anwendung der Grenz- und Waffengebrauchsvorschriften, so kann dieser Widerspruch auch bei der Beurteilung der Frage berücksichtigt werden, ob derjenige rechtswidrig handelt, der auf staatlichen Befehl Menschenrechte verletzt, die durch den völkerrechtlichen Vertrag geschützt sind. Deswegen kann die Frage offenbleiben, ob entgegen der in der DDR vertretenen Auffassung (Buchholz/Wieland NJ 1977, 22, 26; vgl. auch Graefrath, Menschenrechte und internationale Kooperation, Berlin-Ost 1988, S. 55 ff sowie R. Hofmann, Die Ausreisefreiheit nach Völkerrecht und staatlichem Recht, Berlin-West 1988, S. 243 ff.) aus dem besonderen Inhalt des IPbürgR abzuleiten ist, daß schon die Ratifikation den Menschen in den Vertragsstaaten eine Rechtsposition gegenüber ihrem Staat verschafft hat (vgl. Tomuschat, Vereinte Nationen 1976 H. 6, S. 166 ff; Buergenthal in: Henkin (Hrsg.), The International Bill of Rights, 1981, S. 72 ff).

(1) Art. 12 Abs. 2 IPbürgR lautet: „Jedermann steht es frei, jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen“ (Übersetzung im DDR-Gesetzblatt: „Es steht jedem frei, jedes Land, auch sein eigenes, zu verlassen“). Nach Art. 12 Abs. 3 IPbürgR darf dieses Recht nur durch Gesetz und nur zu bestimmten Zwecken, darunter zum Schutz der nationalen Sicherheit und der öffentlichen Ordnung, eingeschränkt werden.

Das Erfordernis, daß die Einschränkung durch Gesetz erfolgen muß, hat das Paßgesetz der DDR vom 28. Juni 1979 (GBl. DDR I S. 148) erfüllt. Darauf, daß die im Paßgesetz und in den zugehörigen Anordnungen enthaltenen Beschränkungen dem Schutz der öffentlichen Ordnung dienten, hat sich die DDR stets berufen. Doch ergibt sich aus dem verbindlichen englischen Wortlaut des Art. 12 Abs. 3 IPbürgR („The … rights shall not be subject to any restrictions except …“) und der Entstehungsgeschichte sowie der internationalen Auslegung der Vorschrift, daß mit dem Gesichtspunkt der öffentlichen Ordnung (ordre public) nicht etwa ein umfassender Gesetzesvorbehalt gemeint war; vielmehr sollten die Einschränkungen auf Ausnahmefälle beschränkt bleiben und keinesfalls die Substanz der Freizügigkeit und des Ausreiserechts zerstören (Nowak, UNO-Pakt über bürgerliche und politische Rechte, 1989, Art. 12 Rdn. 23, 32 f.; Jagerskiold in Henkin (Hrsg.), The International Bill of Rights 1981 S. 166, 172, 179; R. Hofmann, Die Ausreisefreiheit nach Völkerrecht und staatlichem Recht, 1988, S. 123, 251; Polakiewicz EuGRZ 1992, 177, 186; Hannum, The Right to leave and return in International Law and Practice, 1987, S. 52 f.; Empfehlungen der internationalen Konferenzen von Uppsala [1972] und Syrakus [1984], mitgeteilt bei Hannum aaO S. 150 f., 22; Reinke, Columbia Journal of Transnational Law 24, 1986, S. 647, 665). Gesichtspunkte des wirtschaftlichen oder sozialen Wohls sollten, wie die Materialien ergeben, kein zulässiges Motiv für die Einschränkung der Freizügigkeit sein (R. Hofmann aaO S. 43; Nowak aaO Rdn. 37, Fn. 86; Bossuyt, Guide to the Travaux Preparatoires of the ICCPR 1987 S. 255).

Die DDR ist in den Jahren 1977 und 1984 vom Menschenrechtsausschuß der Vereinten Nationen zu den Verhältnissen an der innerdeutschen grenze gehört worden. Sie hat 1977 erklärt, die Einschränkung der Freizügigkeit entspreche dem IPbürgR (vgl. Bruns Deutschland-Archiv 1978, 848, 851; UNO-Dokument A 33/Suppl. 40 [1978], S. 26 ff., 29). In ihrem Bericht für die Vereinten Nationen von 1984 hat sich die DDR auf die große Zahl erlaubter Ausreisen berufen und betont, die Beschränkungen dienten dem Schutz der nationalen Sicherheit und öffentlichen Ordnung (vgl. Bruns Deutschland-Archiv 1984 S. 1183, 1185; R. Hofmann aaO S. 117 ff., 251). In der mündlichen Befragung hat damals der Vertreter der DDR behauptet, das Grenzgesetz von 1982 sei mit dem IPbürgR, auch mit dessen Art. 6 (Recht auf Leben), vereinbar; Grenzsoldaten schössen nur im äußersten Notfall, wenn andere Mittel nicht ausreichten, um ein Verbrechen – erwähnt wurde der Fall der Gewalttat (violence) – zu verhindern (R. Hofmann aaO S. 121; vgl. Bruns aaO 1984, 1186).

Es ist zwar nicht anzunehmen, daß der Inhalt des Art. 12 IPbürgR zu den „allgemein anerkannten, dem friedlichen Zusammenleben und der Zusammenarbeit der Völker dienenden Regeln des Völkerrechts“ im Sinne des Art. 8 der DDR-Verfassung gezählt wurde; Art. 8 dieser Verfassung bezog sich ersichtlich auf einen engeren Ausschnitt aus dem Völkerrecht, der die Zusammenarbeit und Koexistenz verschiedener Staaten betraf (vgl. Sorgenicht u.a., Verfassung der DDR, 1969, Art. 8 Anm. 1; siehe auch Mampel, Die sozialistische Verfassung der DDR, 2. Aufl. 1982, Art. 8 Rdn. 2). Die dem Art. 12 IPbürgR entsprechenden Regeln gehören aber zu den Werten, die das Verhältnis des Staates zu seinen Bürgern bestimmen und deswegen bei der Auslegung von Gesetzen berücksichtigt werden müssen.

(2) Das in Art. 12 IPbürgR bezeichnete Menschenrecht auf Ausreisefreiheit wurde durch das Grenzregime der DDR verletzt, weil den Bewohnern der DDR das Recht auf freie Ausreise nicht nur in Ausnahmefällen, sondern in aller Regel vorenthalten wurde.

Nach den Vorschriften des DDR-Rechts über die Ausgabe von Pässen als Voraussetzung für das legale Überschreiten der deutsch-deutschen Grenze (Paßgesetz und Paß- und Visaordnung vom 28. Juni 1979 – GBl. DDR I, 148, 151 -, ergänzt durch die Anordnung vom 15. Februar 1982 – GBl. DDR I, 187 -) gab es, jedenfalls bis zum 1. Januar 1989 (Inkrafttreten der VO vom 30. November 1988, GBl. DDR I, 271), für nicht politisch privilegierte Bürger unterhalb des Rentenalters, abgesehen von einzelnen dringenden Familienangelegenheiten, keine Möglichkeit der legalen Ausreise; Entscheidungen über Anträge auf Ausreise bedurften bis zum 1. Januar 1989 nach § 17 der Anordnung vom 28. Juni 1979 (GBl. DDR I, S. 151) keiner Begründung und konnten bis zu diesem Zeitpunkt (§ 23 der VO vom 30. November 1988) nicht mit einer Beschwerde angefochten werden.

Diese Regelung verstieß gegen die Einschränkungskriterien des Art. 12 Abs. 3 IPbürgR, gegen den Grundsatz, daß Einschränkungen die Ausnahme bleiben sollten, und gegen das allenthalben aufgestellte Prinzip, daß die Versagung der Ausreise mit Rechtsbehelfen anfechtbar sein müsse (Hannum aaO S. 148). Der Senat übersieht nicht, daß auch andere Länder die Ausreise ihrer eigenen Bürger beschränken, daß die Ausreisefreiheit bei der Schaffung des Grundgesetzes nicht zu einem selbständigen Grundrecht gemacht worden ist (vgl. Pieroth JuS 1985, 81, 84; Rittstieg AK, 2 Aufl. Art. 11 GG, Rdn. 1 ff, 37) und daß dies damals auch mit der Besorgnis begründet wurde, die arbeitsfähigen Jahrgänge würden in unerwünschtem Maße auswandern (Jahrbuch des Öffentlichen Rechtes der Gegenwart, Neue Folge, Bd. 1, 1951 S. 44). Ihm ist auch bewußt, daß es in den Vereinten Nationen Meinungsunterschiede zwischen Entwicklungsländern, die das Abwandern der Intelligenz verhüten wollen, und den westeuropäischen Mitgliedsstaaten gibt, die auf eine möglichst unbeschränkte Ausreisefreiheit dringen (Hannum aaO S. 31, 52, 55, 109 ff), und daß zur Tatzeit in den unter sowjetischem Einfluß stehenden Staaten durchweg Ausreisebeschränkungen bestanden (vgl. R. Hofmann aaO S. 239 ff; Hannum aaO S. 96 ff; G. Brunner in: Menschenrechte in den Staaten des Warschauer Pakts, Bericht der Unabhängigen Wissenschaftlerkommission, 1988, S. 165 ff; Kuss EuGRZ 1987, 305).

Das Grenzregime der DDR empfing jedoch seine besondere Härte dadurch, daß Deutsche aus der DDR ein besonderes Motiv für den Wunsch, die Grenze nach West-Berlin und Westdeutschland zu überqueren, hatten: Sie gehörten mit den Menschen auf der anderen Seite der Grenze zu einer Nation und waren mit ihnen durch vielfältige verwandtschaftliche und sonstige persönliche Beziehungen verbunden.

(3) Insbesondere kann die durch die restriktiven Paß- und Ausreisevorschriften begründete Lage unter dem Gesichtspunkt der Menschenrechte nicht ohne Beachtung der tatsächlichen Verhältnisse an der Grenze gewürdigt werden, die durch „Mauer, Stacheldraht, Todesstreifen und Schießbefehl“ (BVerfGE 36, 1, 35) gekennzeichnet waren und damit gegen Art. 6 IPbürgR verstießen. Nach dieser Vorschrift hat „jeder Mensch ein angeborenes Recht auf Leben“; „niemand darf willkürlich seines Lebens beraubt werden“ (Art. 6 Abs. 1 Satz 1 und 3). Auch wenn die Auslegung des Merkmals „willkürlich“ insgesamt bisher nicht sehr ergiebig gewesen ist (vgl. Nowak aaO Art. 6 Rdn. 12 ff; Nowak EuGRZ 1983, 11, 12; Polakiewicz EuGRZ 1992, 177, 182; Ramcharan, Netherlands Internat. Law Review 30, 1983, 297, 316 ff; Boyle in: Ramcharan [Hrsg.], The Right to Life in International Law, 1985, S. 221 ff), so zeichnet sich doch, auch in der Rechtsprechung anderer Staaten (vgl. US Supreme Court 471 US 1 in der Sache Tennessee v. Garner, 1985), die Tendenz ab, den mit der Möglichkeit tödlicher Wirkung verbundenen Schußwaffengebrauch von Staatsorganen unter starker Betonung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auf Fälle einzugrenzen, in denen eine Gefährdung von Leib und Leben anderer zu befürchten ist (Boyle aaO S. 241 f; Desch, Österr. Zeitschr. f. öff. Recht und Völkerrecht 36, 1985, S. 77, 102; Ramcharan aaO [1983] S. 318). In der „Allgemeinen Bemerkung“ des Menschenrechtsausschusses der Vereinten Nationen zum Recht auf Leben aus dem Jahre 1982 (General Comment 6/16 – A/37/40, S. 93 ff -, abgedruckt bei Nowak, UNO-Pakt über bürgerliche und politische Rechte [1989], S. 879 sowie bei Graefrath, Menschenrechte und internationale Kooperation [1988], S. 263) heißt es, der Schutz des Lebens vor willkürlicher Tötung sei von überragender Bedeutung; das Gesetz müsse die Umstände, unter denen staatliche Organe jemanden seines Lebens berauben dürfen, „strikt kontrollieren und begrenzen“ (aaO Abschnitt 3).

Die Grenze zur Willkür ist nach der Auffassung des Senats insbesondere überschritten, wenn der Schußwaffengebrauch an der Grenze dem Zweck dient, Dritte vom unerlaubten Grenzübertritt abzuschrecken. Daß die „Befehlslage“, die die vorsätzliche Tötung von „Grenzverletzern“ einschloß, auch dieses Ziel hatte, liegt auf der Hand.

Im vorliegenden Fall ergibt sich bei gleichzeitiger Verletzung der Artikel 6 und 12 IPbürgR eine Menschenrechtsverletzung ferner daraus, daß das Grenzregime in seiner beispiellosen Perfektion und dem durch § 27 des Grenzgesetzes iV mit § 213 Abs. 3 DDR-StGB bestimmten, in der Praxis rücksichtslos angewandten Schußwaffengebrauch Menschen betraf, denen aufgrund einer die Ausreise regelmäßig und ohne Bedeutung versagenden Verwaltungspraxis verwehrt wurde, aus der DDR in den westlichen Teil Deutschlands und insbesondere Berlins zu reisen.

(4) Der Senat nimmt, was das Recht auf Leben angeht, die von der Revision des Angeklagten W. gemachten kritischen Hinweise auf die Auslegung des § 11 UZwG sowie der §§ 15, 16 UZwGBw (ebenso Polakiewicz EuGRZ 1992, 177, 185) ernst. Er findet es befremdlich, daß im Schrifttum bei der Auslegung des § 16 UZwGBw ein bedingter Tötungsvorsatz als von der Vorschrift gedeckt bezeichnet worden ist (Jess/Mann, UZwGBw, 2. Aifl. 1981, § 16 Rdn. 4), und pflichtet Frowein (in: Kritik und Vertrauen, Festschrift für Peter Schneider, 1990, S. 112 ff) darin bei, daß in der Bundesrepublik Deutschland der Schußwaffengebrauch gegen Menschen angesichts seiner unkontrollierten Gefährlichkeit (vgl. BGHSt 35, 379, 386) auch im Grenzgebiet (§ 11 UZwG) auf die Verteidigung von Menschen beschränkt werden sollte (aaO S. 117), also auf Fälle, in denen vom denjenigen, auf den geschossen wird, eine Gefährdung von Leib oder Leben anderer zu befürchten ist. Der Umstand, daß die derzeitige Auslegung der Schußwaffenvorschriften des geltenden Rechts im Lichte des Verhältnismäßigkeitsprinzips nicht in jeder Weise befriedigend ist (vgl. auch BGHSt 26, 99), rechtfertigt indessen kein Verständnis für den Schußwaffengebrauch durch die Grenztruppen der DDR; dieser war durch eine Konstellation gekennzeichnet, die in der Bundesrepublik Deutschland angesichts ihrer offenen Grenzen keine Parallele ist.

dd) Die Verletzung der in den Artikeln 6 und 12 des Internationalen Pakts garantierten Menschenrechte in ihrem spezifischem, durch die Verhältnisse an der innerdeutschen Grenze gekennzeichneten Zusammenhang macht es dem Senat unmöglich, bei der Rechtsanwendung die Vorschriften des § 27 des Grenzgesetzes sowie des § 213 Abs. 3 StGB-DDR in dem Umfang, wie sie in der Staatspraxis der DDR verstanden worden sind, als Rechtfertigungsgrund zugrundezulegen. Die Verhältnisse an der Grenze waren auch unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen und sozialen Nachteile, die für den betroffenen Staat mit einer starken Abwanderung arbeitsfähiger Menschen verbunden sein könnten, Ausdruck einer Einstellung, die das Lebensrecht der Menschen niedriger einschätzt als das Interesse, sie am Verlassen des Staates zu hindern. Der im DDR-Recht vorgesehene, in § 27 des Grenzgesetzes bezeichnete Rechtfertigungsgrund hat deswegen von Anfang an in der Auslegung, die durch die tatsächlichen Verhältnisse an der Grenze gekennzeichnet war, keine Wirksamkeit gehabt. Er hat bei der Suche nach dem milderen Recht (§ 2 Abs. 3 StGB iV mit Art. 315 Abs. 1 EGStGB) außer Betracht zu bleiben, weil bereits die DDR bei Zugrundelegung der von ihr anerkannten Prinzipien den Rechtfertigungsgrund hätte einschränkend auslegen müssen.

3. Der Senat hatte sodann der Frage nachzugehen, ob § 27 des Grenzgesetzes mit Auslegungsmethoden, die dem Recht der DDR eigentümlich waren, so hätte ausgelegt werden können, daß die genannten Menschenrechtsverletzungen vermieden wurden; ein so eingegrenzter Rechtfertigungsgrund wäre mit Rücksicht auf Art. 103 Abs. 2 GG zu beachten. Die Prüfung ergibt, daß eine solche Auslegung möglich gewesen wäre, daß der so bestimmte Rechtfertigungsgrund jedoch das Verhalten der Angeklagten (Dauerfeuer mit bedingtem Tötungsvorsatz) nicht gedeckt hätte.

a) Der Senat legt bei dieser Auslegung nicht die Wertordnung des Grundgesetzes oder der EMRK zugrunde; er beschränkt sich darauf, die Vorgaben zu berücksichtigen, die im Recht der DDR für eine menschenrechtsfreundliche Gesetzesauslegung angelegt waren. Ausgangspunkt ist Art. 89 Abs. 2 der Verfassung der DDR; danach durften Rechtsvorschriften der Verfassung nicht widersprechen. Nach Art. 30 der Verfassung waren Persönlichkeit und Freiheit eines jeden Bürgers der DDR unantastbar und Einschränkungen nur dann zulässig, wenn sie im Zusammenhang mit strafbaren Handlungen oder einer Heilbehandlung gesetzlich begründet waren; Rechte durften „nur insoweit eingeschränkt werden, als dies gesetzlich zulässig und unumgänglich ist“ (Art. 30 Abs. 2). Das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit war in der Verfassung der DDR nicht ausdrücklich genannt; auch ist dieses Recht in dem Sinne, wie es Gegenstand westlicher Verfassungen ist, in der Literatur der DDR nicht ausdrücklich behandelt worden (vgl. z.B. E. Poppe [Hrsg.] Grundrechte des Bürgers in der sozialistischen Gesellschaft, 1980, S. 163, 265). Schon im Blick auf Art. 6 IPbürgR kann es aber keinem Zweifel unterliegen, daß die Verfassungsvorschrift des Art. 30 Abs. 1 Verf-DDR, indem sie die Persönlichkeit für unantastbar erklärte, den Schutz des Lebens einschloß; demnach ist Art. 30 Abs. 2 Verf-DDR zu entnehmen, daß Eingriffe in das Leben gesetzlich begründet sein mußten (vgl. K. Sorgenicht u.a., Verfassung der DDR, 1969 Art. 30 Anm. 1; G. Brunner, Menschenrechte in der DDR, Baden-Baden 1989 S. 111, 113). Mit der Abschaffung der Todesstrafe durch das Vierte Strafrechtsänderungsgesetz vom 18. Dezember 1987 GBl. DDR I S. 301) wollte die DDR ersichtlich dem Menschenrecht auf Leben Rechnung tragen. Die Vorschrift des Art. 30 Abs. 2 Satz 2 der Verfassung der DDR brachte einen Gesichtspunkt zum Ausdruck, der im Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland als Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bezeichnet wird.

Anders als im nationalsozialistischen Führerstaat gab es in der DDR keine Doktrin, nach der der bloße Wille der Inhaber tatsächlicher Macht Recht zu schaffen vermochte. Gesetze waren verbindlich (vgl. Art. 49 Abs. 1 der Verfassung); sie konnten allein von der Volkskammer erlassen werden (Art. 48 Abs. 2 der Verfassung). Zur „Durchführung der sozialistischen Gesetzlichkeit“ war die Rechtspflege berufen, die die Freiheit das friedliche Leben, die Rechte und die Würde der Menschen zu schützen hatte (Art. 90 Abs. 1 der Verfassung). Die Richter sollten nach Art. 96 Abs. 1 der Verfassung in ihrer Rechtsprechung unabhängig sein. Hiernach beanspruchten die Gesetze eine Geltung, die nicht durch Weisungen oder die tatsächliche Staatspraxis bestimmt war. Wer heute den Inhalt der Gesetze der DDR unter Berücksichtigung der DDR-Verfassung und der Bindung der DDR an die internationalen Menschenrechtspakte zu ermitteln sucht, unterschiebt demnach nicht dem Recht der DDR Inhalte, die mit dem eigenen Anspruch dieses Rechtes unvereinbar wären. Der Erste Stellvertreter des Vorsitzenden des Ministerrates der DDR hat am 25. März 1982 in der Volkskammer bei der Einbringung des Grenzgesetzes u.a. ausgeführt, die Regelung über den Schußwaffengebrauch (§ 27) enthalte „nicht mehr und nicht weniger, als auch andere Staaten für ihre Schutzorgane festgelegt haben“; die Anwendung der Schußwaffe sei „die äußerste Maßnahme“ gegen Personen, die „Verbrechen gegen die Rechtsordnung der DDR begangen haben oder sich der Verantwortung für die begangene Rechtsverletzung zu entziehen suchen“ (Volkskammer, 8. Wahlper., 4. Tagung, S. 88 f der Sten. Niederschrift).

b) Eine an den Artikeln 6, 12 IPbürgR orientierte Auslegung des § 27 des Grenzgesetzes kann sich auf den genannten, in Art. 30 Abs. 2 Satz 2 der DDR-Verfassung enthaltenen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz stützen; dieser Grundsatz hat in anderem Zusammenhang auch in § 26 Abs. 2 Satz 2, 3 des Grenzgesetzes sowie in seiner Formulierung, daß die Anwendung der Schußwaffe „die äußerste Maßnahme der Gewaltanwendung gegenüber Personen“ sei (§ 27 Abs. 1 Satz 1 des Grenzgesetzes), Ausdruck gefunden. Es liegt deshalb nahe anzunehmen, daß der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, so wie er in der DDR galt, verletzt wurde, wenn derjenige als Täter eines Verbrechens nach § 213 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StGB-DDR verstanden wurde, der die Mauer mit einer Leiter überstieg. Verhält es sich so, dann war der Gebrauch der Schußwaffe nach § 27 Abs. 2 des Grenzgesetzes unzulässig, weil sich die Flucht nicht als ein Verbrechen nach § 213 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StGB-DDR darstellte. Aber selbst wenn die vom Obersten Gericht und vom Generalstaatsanwalt vorgegebene Auslegung, im übrigen auch die Anwendbarkeit des § 213 Abs. 3 Satz 2 Nr. 5 StGB-DDR zugrunde gelegt wird, so gestattete doch der Wortlaut des § 27 Abs. 2 des Grenzgesetzes eine Auslegung, die dem auch im Recht der DDR (eingeschränkt) vorhandenen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Rechnung trug. § 27 Abs. 2 Satz 1 des Grenzgesetzes ist dann so zu verstehen: Der Grenzsoldat durfte zwar in den dort bezeichneten Fällen die Schußwaffe zur Verhinderung der Flucht einsetzen; der Rechtfertigungsgrund fand aber eine Grenze, wenn auf einen nach den Umständen unbewaffneten und auch sonst nicht für Leib oder Leben anderer gefährlichen Flüchtling mit dem – bedingten oder unbedingten – Vorsatz, ihn zu töten, geschossen wurde. Hiernach war die bedingt vorsätzliche Tötung, wenn sie unter den gegebenen Umständen in der Anwendung von Dauerfeuer zum Ausdruck kam, von dem in menschenrechtsfreundlicher Weise ausgelegten § 27 Abs. 2 des Grenzgesetzes nicht gedeckt; das würde auch dann gelten, wenn der Sachverhalt unter § 27 Abs. 2 Satz 2 des Grenzgesetzes (Ergreifung von Personen, die eines Verbrechens nach § 213 Abs. 3 StGB-DDR dringend verdächtig sind) subsumiert würde. In diesen Fällen hat der Schutz des Lebens Vorrang; dies kann auch auf den Rechtsgedanken des § 27 Abs. 5 Satz 1 des Grenzgesetzes – bei menschenrechsfreundlicher Auslegung – gestützt werden.

c) Bei dieser Auslegung ist das Verhalten der Angeklagten nicht von dem Rechtfertigungsgrund des § 27 Abs. 2 des Grenzgesetzes gedeckt gewesen; sie haben danach auch nach dem Recht der DDR einen rechtswidrigen Totschlag begangen.

4. Nach Art. 103 Abs. 2 GG kann eine Tat nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit zur Tatzeit gesetzlich bestimmt war (Rückwirkungsverbot). Diese Verfassungsbestimmung verbietet die Bestrafung der Beschwerdeführer nicht.

a) Unter den vorstehend (zu 2, 3) dargelegten Umständen gibt es Gründe für die Auffassung, daß Art. 103 Abs. 2 GG die Bestrafung der Angeklagten von vornherein nicht hindert, weil die Tat nach dem richtig ausgelegten Recht der DDR zur Tatzeit strafbar war. Ob die Angeklagten dies erkannt haben, ist eine Frage, die lediglich Entschuldigungsgründe betrifft.

b) Der Senat hat jedoch nicht übersehen, daß im Hinblick auf Art. 103 Abs. 2 GG die Frage aufgeworfen werden kann, welches Verständnis vom Recht der Tatzeit zugrunde zu legen ist. Wird an das Tatzeitrecht ein Beurteilungsmaßstab angelegt, der die Handlung, obwohl sie vom Staat befohlen worden war, als rechtswidrig erscheinen läßt (vorstehend zu 2, 3), so ergibt sich, daß das Rückwirkungsverbot der Bestrafung nicht entgegensteht. Wird dagegen bei der Würdigung der Rechtslage, die zur Tatzeit bestanden hat, hauptsächlich auf die tatsächlichen Machtverhältnisse im Staat abgestellt, so kann die Anwendung des Art. 103 Abs. 2 GG zu einem anderen Ergebnis führen. Das gilt vor allem, wenn dem Angeklagten von einer staatlichen Stelle befohlen worden ist, ein allgemein anerkanntes Recht, zumal das Recht auf Leben, zu verletzen. Hier kann sich die Frage stellen, ob und unter welchen Umständen aus einem solchen Befehl zugunsten der Angeklagten die Annahme hergeleitet werden muß, die Strafbarkeit sei zur Tatzeit nicht gesetzlich bestimmt gewesen.

aa) Die Frage, welche Bedeutung Art. 103 Abs. 2 GG für die Beurteilung von Handlungen hat, die unter einem früheren Regime im staatlichen Auftrag vorgenommen worden sind und Menschenrechte wie das Recht auf Leben verletzen, ist noch nicht vollständig geklärt (vgl. Schünemann in Festschrift für Hans-Jürgen Bruns, 1978, S. 223 ff.; Dencker, KritV 73, 1990, S. 299, 304 und Polakiewicz EuGRZ 1992, 177, 188). Die in diesem Zusammenhang genannten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 3, 225 ff.; 6, 195 ff.) betreffen nicht das Strafrecht, auch die Frage, ob eine laufende strafrechtliche Verjährungsfrist verlängert werden kann (BVerfGE 25, 269 ff.), ist nicht einschlägig. Das Problem des Rückwirkungsverbots bei Rechtfertigungsgründen ist in der deutschen Rechtsprechung vom Obersten Gerichtshof für die Britische Zone aufgeworfen worden (OGHSt 2, 231 ff.).

Die in der Rechtsprechung des Internationalen Militärtribunals von Nürnberg sowie insbesondere in der Entscheidung im sogenannten Juristenprozeß (III. US-Militärgerichtshof, Urteil vom 4.12.1947, S. 29 ff. des offiziellen Textes) unter wesentlichem Einfluß angelsächsischer Rechtsüberzeugungen entwickelten Gesichtspunkte sind von der späteren deutschen Rechtsprechung nicht übernommen worden. Das Verbot der Verurteilung von Taten, die zur Zeit ihrer Begehung nicht strafbar waren, findet sich auch in Art. 15 des Internationalen Paktes sowie in Art. 7 MRK. Doch ist beiden Vorschriften ein zweiter Absatz angefügt, in dem es heißt, das grundsätzliche Rückwirkungsverbot schließe nicht die Verurteilung von Personen aus, deren Tat zur Zeit ihrer Begehung nach den von der Völkergemeinschaft anerkannten Rechtsgrundsätzen strafbar war. Die Bundesrepublik Deutschland hat jedoch gegenüber Art. 7 Abs. 2 MRK den Vorbehalt (Art. 64 MRK) gemacht, daß die Vorschrift nur in den Grenzen des Art. 103 Abs. 2 GG angewandt werden würde (BGBl. II 1954 S. 14). Gegen Art. 15 Abs. 2 des Internationalen Pakts hat die Bundesrepublik Deutschland keinen Vorbehalt erklärt; das ändert nichts daran, daß auch insoweit Art. 103 Abs. 2 GG als Verfassungsrecht vorgeht.

Rechtfertigungsgründe sind nicht generell von dem Schutzbereich des Art. 103 Abs. 2 GG ausgeschlossen (vgl. Rüping, Bonner Kommentar – Zweitbearbeitung – Art. 103 Abs. 2 Rdn. 50; Kratzsch GA 1971, 65 ff.; Engels GA 1982, 109, 114 ff.). Das gilt auch für das in Art. 103 Abs. 2 GG enthaltene Rückwirkungsverbot. Der Senat folgt nicht dem Vorschlag (vgl. neuestens F.C. Schroeder JZ 1992, 990, 991), das Rückwirkungsverbot generell nur auf die Tatbestandsstufe und nicht auf die Rechtswidrigkeitsstufe zu beziehen. Nicht immer spiegelt das Verhältnis von Tatbestand und Rechtfertigungsgrund einen Sachverhalt wieder, bei dem die Rechtsgutverletzung auch in den gerechtfertigten Fällen ein soziales Unwerturteil erlaubt; die Entscheidung des Gesetzgebers, den Tatbestand einzuschränken oder aber bei uneingeschränktem Tatbestand einen Rechtfertigungsgrund vorzusehen, ist unter Umständen nur technischer Natur. War eine tatbestandsmäßige Handlung zur Tatzeit nicht rechtswidrig, so kann sie demnach grundsätzlich nicht bestraft werden, wenn der Rechtfertigungsgrund nachträglich beseitigt worden ist (Eser in Schönke/Schröder 24. Aufl. § 2 Rdn. 3). Bleibt nämlich ein früher vorgesehener Rechtfertigungsgrund außer Betracht, so wird das frühere Recht zum Nachteil des Angeklagten verändert (vgl. Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil 2. Auf., 1991 S. 121). Insoweit ist mithin auch im Rahmen der Prüfung nach § 2 Abs. 3 StGB grundsätzlich das Rückwirkungsverbot zu beachten.

Aus dieser Erwägung ist in der neuesten Diskussion im Hinblick auf Fälle der vorliegenden Art die Folgerung abgeleitet worden, daß ein zur Tatzeit praktizierter Rechtfertigungsgrund, mag er auch übergeordneten Normen widersprechen, nicht zum Nachteil des Angeklagten außer Betracht bleiben darf, weil dann unter Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG eine Strafbarkeit begründet würde, die zur Tatzeit nicht bestanden hat (Jakobs in J. Isensee [Hrsg.], Vergangenheitsbewältigung durch Recht, 1992, S. 36 ff; dort auch Isensee, S. 91, 105 ff; Grünwald StV 1991, 31, 33; Rittstieg, Demokratie und Recht 1991, 404; Pieroth VVDStRL 51, 1992, S. 92 ff, 102 ff, 144 ff, 168 ff; dort auch Isensee S. 134 ff; Dencker KritV 73, 1990, S. 299, 306; differenzierend Polakiewicz EuGRZ 1992, 177, 188 ff; vgl. auch Dreier, VVDStRL 51, 1992, S. 137).

bb) Der Senat folgt dieser Auffassung im Ergebnis nicht.

(1) Dabei sind allerdings nicht die Vorschriften der DDR über die Bestrafung von Verbrechen gegen den Frieden, die Menschlichkeit und von Kriegsverbrechen (insbesondere Art. 91 Satz 1 der Verfassung der DDR) oder die Bestimmung des § 95 StGB-DDR heranzuziehen. Die letztgenannte Bestimmung schließt zwar anscheinend ohne Einschränkung die Berufung auf grund- und menschenrechswidrige Gesetze aus. Wie ihre Stellung im Gesetz zeigt, betrifft die Vorschrift aber nur die in den §§ 85 bis 94 StGB-DDR bezeichneten Verbrechen; eine Nachprüfung von Gesetzen am Maßstab der Grund- und Menschenrechte sollte sie nicht generell begründen. Dem entspricht es, daß § 95 StGB-DDR nach der damaligen offiziellen Auslegung (DDR-Kommentar § 95 Anm. 1) den Inhalt von Art. 8 des Statuts des Internationalen Militärtribunals von Nürnberg übernehmen sollte.

(2) Der Senat ist aus folgendem Grunde der Ansicht, daß Art. 103 Abs. 2 GG hier nicht der Annahme entgegensteht, die Tat sei rechtswidrig: Entscheidend ist, wie dargestellt, ob die Strafbarkeit „gesetzlich bestimmt war“, bevor die Tat begangen wurde. Bei der Prüfung, ob es sich so verhalten hat, ist der Richter nicht im Sinne reiner Faktizität an diejenige Interpretation gebunden, die zur Tatzeit in der Staatspraxis Ausdruck gefunden hat. Konnte das Tatzeitrecht bei Beachtung der vom Wortsinn des Gesetzes gegebenen Grenzen im Lichte der Verfassung der DDR so ausgelegt werden, daß den völkerrechtlichen Bindungen der DDR im Hinblick auf Menschenrechte entsprochen wurde, so ist das Tatzeitrecht in dieser menschenrechtsfreundlichen Auslegung als das Recht zu verstehen, das die Strafbarkeit zur Zeit der tat im Sinne des Art. 103 Abs. 2 GG „gesetzlich bestimmt“ hat (im Ergebnis ähnlich Alexy VVDStRL 51, 1992, 132 ff.: Schünemann aaO; Lüderssen ZStW 104 [1992], S. 735, 779 ff; vgl. ferner Starck und Maurer VVDStRL 51, 1992, S. 141 ff, 147 f.). Ein Rechtfertigungsgrund, der das Verhalten der Angeklagten gerechtfertigt hätte, wurde zwar in der Staatspraxis, wie sie sich in der Befehlslage ausdrückte, angenommen; er durfte aber dem richtig interpretierten Gesetz schon damals nicht entnommen werden. Das Rückwirkungsverbot soll den Angeklagten vor Willkür schützen und die Strafgewalt auf den Vollzug der allgemeinen Gesetze beschränken (Schreiber, Gesetz und Richter, 1976, S. 217); es schützt das Vertrauen, das der Angeklagte zur Tatzeit in den Fortbestand des damals geltenden Rechts gesetzt hat (Rüping, Bonner Kommentar – Zweitbearbeitung -, Art. 103 Abs. 2 GG Rdn. 16 m.w.N.). Diese verfassungsrechtlichen Schutzrichtungen werden hier nicht verfehlt: Die Erwartung, das Recht werde, wie in der Staatspraxis zur Tatzeit, auch in Zukunft so angewandt werden, daß ein menschenrechtswidriger Rechtfertigungsgrund anerkannt wird, ist nicht schutzwürdig. Es ist keine Willkür, wenn der Angeklagte, was die Rechtswidrigkeit seines Tuns angeht, so beurteilt wird, wie er bei richtiger Auslegung des DDR-Rechts schon zur Tatzeit hätte behandelt werden müssen. Nichts anderes könnte im übrigen im Ergebnis gelten, wenn ein gesetzlicher Rechtfertigungsgrund, der gleich gewichtigen Einwendungen ausgesetzt ist, überhaupt keiner Auslegung zugänglich wäre, die sich an den Menschenrechten orientiert.

c) Steht hiernach den Angeklagten kein Rechtfertigungsgrund zur Seite, so haben sie rechtswidrig den Tatbestand des § 212 StGB erfüllt. Deswegen trifft im Ergebnis die Auffassung der Jugendkammer zu, daß das Recht der Bundesrepublik Deutschland anwendbar ist, weil es im Sinne des § 2 Abs. 3 StGB milder ist als die entsprechenden Tatbestände (§§ 112, 113) des Strafgesetzbuches der DDR; dies ergibt sich daraus, daß in § 213 StGB für minder schwere Fälle ein niedrigerer Strafrahmen vorgesehen ist.

III.

1. Auf dieser Grundlage ergibt die sachlichrechtliche Nachprüfung, daß die Jugendkammer das Verhalten der Angeklagten zutreffend als gemeinschaftlichen Totschlag (§§ 212, 25 Abs. 2 StGB) gewertet hat.

a) Die mit der Abgabe von Dauerfeuer verbundene, den Angeklagten bewußte besondere Gefährdung des Tatopfers ist von der Jugendkammer im Zusammenhang mit der Befehlslage, der die Angeklagten entsprechen wollten, ohne Rechtsverstoß zur Grundlage ihrer Annahme gemacht worden, die Angeklagten hätten mit bedingtem Tötungsvorsatz gehandelt. Durch diesen Vorsatz unterscheidet sich die abgeurteilte Tat von dem in der Entscheidung BGHSt 35, 379 behandelten Fall; dort hatte der Beamte nach der vom Revisionsgericht hingenommenen Feststellung des Tatrichters eine tödliche Verletzung des Fliehenden nicht billigend in Kauf genommen (aaO S. 386).

b) Auch der Angeklagte H. war Täter. Zwar hat er das Tatopfer nur am Knie getroffen, wie er es beabsichtigt hatte. Indessen haben beide Angeklagte übereinstimmend mit Dauerfeuer geschossen, um Michael S. am Übersteigen der Mauer zu hindern, selbst wenn es ihn das Leben kosten sollte. Zwar hat, seitdem der Angeklagte H. den Turm verließ, kein Kontakt zwischen den beiden Angeklagten bestanden. Beide handelten jedoch unter dem Einfluß des gleichen Befehls mit gleicher Zielsetzung. Allerdings sind bei nur bedingtem Vorsatz an die Gemeinschaftlichkeit der Tatbegehung (§ 25 Abs. 2 StGB) hohe Anforderungen zu stellen. Ihnen wird das Urteil der Jugendkammer indessen noch gerecht. Beiden Angeklagten war befohlen, selbst unter Inkaufnahme einer Tötung auf den Flüchtigen zu schießen, wenn dessen Flucht nicht anders sicher zu verhindern war. Beide gingen, wie der Tatrichter festgestellt hat, davon aus, daß jeweils der andere dem Befehl entsprechen werde. Mit ihrem jeweiligen Verhalten gaben sie dem anderen zu erkennen, daß sie das Ziel verfolgten, das ihnen beiden durch den Befehl vorgegeben war. Es entsprach der Befehlslage, daß jeder der beiden Soldaten durch sein Schießen zur Fluchtverhinderung beitrug. Unter diesen Umständen muß sich der Angeklagte H. das Verhalten des Mitangeklagten, das zur tödlichen Verletzung führte, im Sinne arbeitsteiliger Mittäterschaft zurechnen lassen.

Die Vorschrift des StGB-DDR über die Mittäterschaft (§ 22 Abs. 2 Nr. 2) begründete keine mildere Beurteilung im Sinne des § 2 Abs. 3 StGB. Die Angeklagten haben die Tat auch im Sinne des § 22 Abs. 2 Nr. 2 StGB-DDR gemeinschaftlich ausgeführt, indem beide mit bedingtem Tötungsvorsatz schossen. Für Michael S. wurde ungeachtet der – nicht geklärten Reihenfolge der Schüsse jedenfalls die Chance, sich den Schüssen des Angeklagten W. durch Übersteigen der Mauer zu entziehen, dadurch vermindert, daß auch der Angeklagte H. auf ihn schoß. Insofern hat auch dieser Angeklagte Handlungen vorgenommen, die geeignet waren, den Tod des Opfers herbeizuführen (vgl. DDR-Kommentar § 22 StGB Anm. 5 unter Hinweis auf OG NJ 1973, 87 und 177).

c) Beide Beschwerdeführer waren nicht etwa nur Gehilfen derer, auf die die Befehle zurückgingen. Der Senat braucht nicht auf die Frage einzugehen, ob und in welcher Weise die Neufassung der Vorschrift des § 25 Abs. 1 StGB durch das 2. StrRG eine Beurteilung ausschließt, wie sie der Bundesgerichtshof in BGHSt 18, 187 zugunsten bloßer Teilnahme vorgenommen hatte (vgl. auch BGH NStZ 1987, 224 f). Hier haben die Angeklagten nicht nur alle Tatbestandsmerkmale, auch durch wechselseitige Zurechnung arbeitsteiligen Verhaltens, erfüllt. Sie haben auch, anders etwa als diejenigen, die unmittelbar vor dem Schießen einen Befehl entgegennehmen, einen gewissen Handlungsspielraum gehabt, weil sie beim plötzlichen Erscheinen des Flüchtlings auf sich allein gestellt waren. Schon dieser Umstand kennzeichnet ihr Verhalten als Täterschaft.

2. Die Angeklagten haben den – mangels eines beachtlichen Rechtfertigungsgrundes rechtswidrigen – Totschlag auf Befehl begangen. Die Feststellungen ergeben, daß sie bei ihrer Tat nicht erkannt haben, daß die Ausführung des Befehls gegen Strafgesetze verstieß (vgl. UA S. 55, 58). Dies steht indessen ihrer Schuld nicht entgegen.

a) Der Senat hatte in diesem Zusammenhang zunächst zu prüfen, ob bei einem Handeln auf Befehl § 258 Abs. 1 StGB-DDR im Hinblick auf § 2 Abs. 3 StGB milder ist als die entsprechende Vorschrift des Bundesrechts (§ 5 Abs. 1 WStG). Das wäre der Fall, sofern der Soldat nach § 258 Abs. 1 StGB-DDR immer schon dann von Verantwortung frei wäre, wenn er nicht positiv erkannt hat, daß die Ausführung des Befehls gegen Strafgesetze verstieß. In diesem Sinne können Ausführungen in dem DDR-Kommentar verstanden werden (§ 258 StGB Anm. 2, 3 d). Indessen ist diese Kommentierung mit dem Wortsinn des Gesetzes nicht vereinbar. Nach § 258 Abs. 1 StGB-DDR wird der Soldat nicht von seiner Verantwortung befreit, wenn die Ausführung des Befehls offensichtlich gegen die anerkannten Normen des Völkerrechts oder gegen Strafgesetze verstößt. Die Vorschrift kann nur so verstanden werden, daß in diesem Falle auch derjenige, der den Verstoß gegen das Strafrecht nicht erkannt hat, für seine Handlung bestraft werden kann; nur für diese Personengruppe ist der Bezug auf die Offensichtlichkeit des Strafrechtsverstoßes sinnvoll, während es bei demjenigen, der die Strafrechtswidrigkeit eingesehen hat, nicht darauf ankommen kann, ob diese offensichtlich war oder nicht.

Hiernach war im Rahmen des sonst milderen Bundesrechtes § 5 Abs. 1 WStG anzuwenden. Allerdings gilt das Wehrstrafgesetz unmittelbar nur für Soldaten der Bundeswehr (§ 1 Abs. 1 WStG). Da es aber unbillig wäre, das Untergebenenverhältnis der beiden Angeklagten gegenüber ihren Befehlsgebern weder nach dem Recht der DDR noch nach Bundesrecht zu berücksichtigen, ist die Vorschrift des § 5 WStG zugunsten der Angeklagten entsprechend anzuwenden.

b) Nach § 5 Abs. 1 WStG trifft den Untergebenen eine Schuld nur, wenn er erkennt, daß es sich um eine rechtswidrige Tat handelt oder dies nach den ihm bekannten Umständen offensichtlich ist. Die erste der genannten Voraussetzungen liegt, wie dargelegt, nicht vor. Ob die Angeklagten nach § 5 Abs. 1 WStG entschuldigt sind, hängt demnach davon ab, ob es nach den ihnen bekannten Umständen offensichtlich war, daß ihnen eine rechtswidrige Tat im Sinne des Strafgesetzbuchs (§ 11 Abs. 1 Nr. 5 StGB) befohlen worden war.

Die Jugendkammer nimmt an, es sei für die Angeklagten nach den ihnen bekannten Umständen offensichtlich gewesen, daß sie mit dem ihnen befohlenen Schießen ein Tötungsdelikt im Sinne des Strafgesetzbuches begingen. Diese Bewertung hält im Ergebnis der sachlichrechtlichen Nachprüfung stand.

Die Jugendkammer hat nicht übersehen, daß die Angeklagten als Grenzsoldaten der DDR einer besonders intensiven politischen Indoktrination ausgesetzt waren und daß sie zuvor „im Geiste des Sozialismus mit entsprechenden Feindbildern von der Bundesrepublik Deutschland und von Personen, die unter Überwindung der Sperranlagen die DDR verlassen wollen, aufgewachsen“ sind. Sie hat auch unter diesen Umständen nicht die hohen Anforderungen verfehlt, die an die Offensichtlichkeit im Sinne des § 5 Abs. 1 WStG zu stellen sind. Der Soldat hat keine Prüfungspflicht (Scherer/Alff, Soldatengesetz, 6. Aufl. 1988 § 11 Rdn. 29). Wo er Zweifel hegt, die er nicht beheben kann, darf er dem Befehl folgen; offensichtlich ist der Strafrechtsverstoß nur dann, wenn er jenseits aller Zweifel liegt (Amtliche Begründung zum Entwurf des Soldatengesetzes, BT-Drucks. 2/1700 S. 21; vgl. auch Schölz/Lingens WStG 3. Aufl. 1988 § 5 Rdn. 12).

Es ist aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden, wenn die Jugendkammer gleichwohl angenommen hat, es sei nach den Umständen offensichtlich gewesen, daß das Schießen hier gegen das Strafrecht verstieß. Die Jugendkammer hebt zutreffend auf das „Gebot der Menschlichkeit“ ab, zu dem u.a. gehöre, daß auch der Straftäter ein Recht auf Leben hat. Damit will sie sagen, es sei ohne weiteres ersichtlich gewesen, daß der Staat nicht das Recht habe, einen Menschen, der, ohne andere zu bedrohen, unter Überwindung der Mauer von einem Teil Berlins in einen anderen hinüberwechseln wollte, zur Verhinderung dieses unerlaubten Grenzübertritts töten zu lassen. Den Revisionen ist zuzugeben, daß die Anwendung des Merkmals „offensichtlich“ hier sehr schwierig ist. Immerhin ist während der langen Jahre, in denen an der Mauer und an den sonstigen innerdeutschen Grenzen geschossen wurde, nicht bekannt geworden, daß Menschen, die in der DDR in Politik, Truppenführung, Justiz und Wissenschaft Verantwortung trugen, gegen das Töten an der Grenze öffentlich Stellung genommen haben. Verfahren gegen Schützen waren nicht durchgeführt worden. Angesichts des Lebensweges und der Umwelt der Angeklagten erscheint es auch nicht angemessen, ihre „Bequemlichkeit“, „Rechtsblindheit“ und Verzicht auf eigenes Denken zum Vorwurf zu machen (UA S. 58). Schließlich sollte es den Angeklagten H. nicht belasten, daß er „nach seiner eigenen Einlassung unmittelbar nach der Tat erkannt hat, daß sein Vorgehen gegenüber Michael S. unmenschlich war“ (UA S. 58); dieser Umstand kann auch so gedeutet werden, daß die Konfrontation mit den Folgen der Schüsse das Gewissen der Angeklagten erstmals geweckt hat.

Gleichwohl ist der Jugendkammer letztlich darin zuzustimmen, daß die Tötung eines unbewaffneten Flüchtlings durch Dauerfeuer unter den gegebenen Umständen ein derart schreckliches und jeder vernünftigen Rechtfertigung entzogenes Tun war, daß der Verstoß gegen das elementare Tötungsverbot auch für einen indoktrinierten Menschen ohne weiteres einsichtig, also offensichtlich war. Dem entspricht es, daß die große Mehrheit der Bevölkerung in der DDR die Anwendung von Schußwaffen an der Grenze mißbilligte. Daß es sich so verhielt, ist allgemeinkundig. Auch der Umstand, daß die Befehlslage der Geheimhaltung der Vorganges Vorrang vor einer schnellen Lebensrettung des Opfers gab, zeigt, in welchem Maße die Verantwortlichen eine Mißbilligung der Todesschüsse durch die Bevölkerung voraussetzten. Das Tatopfer Michael S., ein Zimmermann, hatte es strikt abgelehnt, zu den Grenztruppen zu gehen (UA S. 14).

3. Der Tatrichter hat nicht ausgeschlossen, daß die Angeklagten geglaubt haben, sie müßten einen Grenzbrecher zur Verhinderung einer Flucht auch dann, dem Befehl entsprechend, töten, wenn der Befehl rechtswidrig war. Es ist aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden, daß der Tatrichter angenommen hat, dieser Irrtum stelle als Annahme eines nicht anerkannten Rechtfertigungsgrundes einen Verbotsirrtum dar, der im Sinne des § 17 Satz StGB von den Angeklagten vermieden werden konnte. Der Tatrichter hat zur Begründung der letztgenannten Wertung wiederum darauf hingewiesen, daß das Leben das höchste aller Rechtsgüter sei. Dem kann aus Rechtsgründen nicht entgegengetreten werden. Der Tatrichter hätte in diesem Zusammenhang auch darauf hinweisen können, daß den Angeklagten bei ihrer Schulung gesagt worden ist, Befehle, die gegen die Menschlichkeit verstießen, brauchten nicht befolgt zu werden (UA S. 12).

Auch im Zusammenhang mit der Frage der Verbotsirrtums würde die Anwendung des DDR-Rechts zu keiner milderen Beurteilung führen (§ 2 Abs. 3 StGB). Zwar ist im Schrifttum der DDR ausgeführt worden, der Täter handele (nur dann) vorsätzlich, wenn er sich bewußt sei, gegen die sozialen Grundnormen zu verstoßen (DDR-Kommentar § 6 Anm. 1). Nach Lekschas u.a. schließt der Vorsatz die „Selbsterkenntnis ein, sich entgegen den Grundregeln menschlichen Zusammenlebens zu einem sozial negativen Verhalten entschieden zu haben“ (Strafrecht der DDR, Lehrbuch, 1988, S. 237). Doch es gab hierzu keine einheitliche Auffassung (Lekschas u.a. aaO). Aus der veröffentlichten Rechtsprechung der Gerichte der DDR ergibt sich zu dieser Frage nichts. Aus alldem kann der Senat nicht entnehmen, daß die irrige Annahme, ein offensichtlich gegen das Strafrecht verstoßender Befehl müsse befolgt werden, bei der Anwendung des DDR-Rechts Anlaß gegeben hätte, den Vorsatz zu verneinen.

4. Die Strafzumessung hält der sachlichrechtlichen Nachprüfung stand. Der Tatrichter hat, wie der Zusammenhang der Urteilsgründe zeigt, nicht übersehen, daß die Angeklagten erst nach dem Bau der Berliner Mauer aufgewachsen sind und nach Herkunft und Lebensweg keine Möglichkeit hatten, der Indoktrination eine kritische Einschätzung entgegenzustellen. Ihre handwerkliche Berufsausbildung hat dazu ersichtlich ebenso wie die Schulausbildung nicht beitragen können. Die Angeklagten standen in der militärischen Hierarchie ganz unten. Sie sind in gewisser Weise auch Opfer der mit dieser Grenze verbundenen Verhältnisse. Wie die Verteidigung zutreffend ausgeführt hat, haben Umstände, die die Angeklagten nicht zu vertreten haben, dazu geführt, daß sie vor Funktionsträgern, die über einen größeren Überblick und eine differenziertere Ausbildung verfügten, strafrechtlich zur Verantwortung gezogen worden sind. Dies alles drängte zu milden Strafen. Dem hat die Jugendkammer Rechnung getragen.

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