BGH-Urteil gegen Keßler und andere
Das BGH-Urteil vom 26. Juli 1994 gegen Keßler, Streletz und Albrecht (5 StR 98/94)
1. Mittelbare Täterschaft bei uneingeschränkt verantwortlichem Tatmittler (Strafrechtliche Verantwortlichkeit von Mitgliedern des Nationalen Verteidigungsrat der DDR für vorsätzliche Tötungen von Flüchtlingen durch Grenzsoldaten der DDR).
2. Zur Vollständigkeit des Vortrags bei einer Besetzungsrüge.
StGB § 25; StPO § 344 Abs. 2 Satz 2, § 338 Nr. 1.
5. Strafsenat. Urt. vom 26. Juli 1994 g. K. u. a.
5 StR 98/94.
Landgericht Berlin
Aus den Gründen:
Das Landgericht hat die Angeklagten K. und S. der Anstiftung zum Totschlag und den Angeklagten A. der Beihilfe zum Totschlag für schuldig befunden.
A.
Gegenstand des vorliegenden Verfahrens ist die Tötung von sieben Menschen, die zwischen 1971 und 1989 aus der DDR über die innerdeutsche Grenze fliehen wollten.
Das Landgericht hält die Angeklagten als Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrats für (mit) verantwortlich für den Tod dieser Flüchtlinge.
I. Das Landgericht geht von folgendem Sachverhalt aus:
1. Seit Anfang des Jahres 1949 bis Mitte des Jahres 1961 flohen etwa 2,5 Millionen Deutsche aus der DDR in den Westen. Als im Jahre 1961 als Folge der weltpolitischen Lage der Flüchtlingsstrom stark zunahm, beschloß am 12. August 1961 der Ministerrat der DDR nach Gesprächen mit den Verantwortlichen der UdSSR und anderer Staaten, die Mitglieder des Warschauer Pakts waren, die Grenze zwischen der DDR und der Bundesrepublik vollständig zu sperren. In den Morgenstunden des 13. August 1961 wurde die Berliner Sektorengrenze mit Stacheldraht und Barrikaden abgeriegelt und später durch eine Mauer „gesichert“. Auch an der übrigen Grenze zwischen der DDR und der Bundesrepublik wurden Sicherungsanlagen verstärkt oder gebaut. Außer an den Berliner Grenzen wurden Minen gelegt und Selbstschußanlagen eingerichtet. Zahlreiche Fluchtversuche über die so „gesicherte“ Grenze der DDR endeten für die Flüchtlinge tödlich, weil sie auf Minen traten, in Selbstschußanlagen gerieten oder weil sie von Angehörigen der Grenztruppen zur Verhinderung der Flucht erschossen wurden.
2. Nach Artikel 48 der Verfassung der DDR war die Volkskammer das oberste staatliche Machtorgan der DDR, dem gleichzeitig Gesetzgebung und Gesetzesausführung zustand. Zwischen den Tagungen der Volkskammer nahm nach Artikel 66 der Verfassung die Befugnisse der Volkskammer der Staatsrat wahr. Dieser organisierte nach Artikel 73 der Verfassung die Landesverteidigung mit Hilfe des Nationalen Verteidigungsrats.
Der Nationale Verteidigungsrat war das zentrale staatliche Organ, dem die einheitliche Leitung der Verteidigungs- und Sicherheitsmaßnahmen der DDR oblag (Staatsrecht der DDR, Lehrbuch, Berlin 1978 S. 350). Die Zahl der Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrats schwankte geringfügig; sie belief sich im Jahre 1971 auf 14. Während der Vorsitzende des Nationalen Verteidigungsrats von der Volkskammer gewählt wurde (Artikel 50 der Verfassung), wurden die Mitglieder vom Staatsrat berufen (Artikel 73 der Verfassung). Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrat war seit 1971 Honecker, Staatsratsvorsitzender und Generalsekretär des Zentralkomitees der SED. Außer ihm waren Mitglieder unter anderem der Vorsitzende des Ministerrats, der Minister für Nationale Verteidigung, die Chefs des Hauptstabs der Nationalen Volksarmee und der Politischen Hauptverwaltung der Nationalen Volksarmee, eine zugleich dem Zentralkomitee der SED unterstellte Abteilung des Ministeriums für Nationale Verteidigung, sowie Erste Sekretäre der SED von Bezirksleitungen bestimmter Grenzbezirke.
Die in Artikel 1 der Verfassung festgelegte Rolle der SED als marxistisch-leninistischer Partei führte dazu, daß durch eine starke personelle Verflechtung zwischen Partei- und Staatsorganen tatsächlich die Politik der DDR durch die SED und ihre Gremien, insbesondere das Zentralkomitee, das Politbüro und das Sekretariat, bestimmt wurde. Politbüro und Sekretariat stand der Erste Sekretär des Zentralkomitees der SED vor. Dies war seit 1971 Honecker.
3. Die Nationale Volksarmee und die Anfang der siebziger Jahre aus der Nationalen Volksarmee ausgegliederten „Grenztruppen der DDR“ unterstanden dem Ministerium für Nationale Verteidigung. Sämtliche Handlungen der Grenztruppen, auch die Einrichtung von Selbstschußanlagen an der Grenze, die Verminung der Grenze und der Schußwaffeneinsatz gegen Flüchtlinge, beruhten auf Befehlen, die auf „Jahresbefehle“ des Ministers für Nationale Verteidigung zurückgingen.
Notwendige Voraussetzungen dieser Jahresbefehle war, daß sie auf vorangegangenen Beschlüssen des Nationalen Verteidigungsrats beruhten.
4. Der im Jahre 1920 geborene Angeklagte K. wurde nach Gründung der SED Mitglied des Parteivorstands, dann des Zentralkomitees, im Jahre 1957 Chef der Luftwaffe der Nationalen Volksarmee und stellvertretender Minister für Nationale Verteidigung. Von 1967 bis 1978 war der Angeklagte Chef des Hauptstabes der Nationalen Volksarmee und seit 1967 Mitglied des Nationalen Verteidigungsrats, dem er bis 1989 angehörte. Von 1976 bis 1979 war er der von der DDR gestellte Stellvertreter des Oberkommandierenden der Vereinten Streitkräfte des Warschauer Paktes; er wurde 1979 Chef der Politischen Hauptverwaltung der Nationalen Volksarmee. Seit Dezember 1985 war er als Armeegeneral Minister für Nationale Verteidigung und seit April 1986 Mitglied es Politbüros der SED.
Der im Jahre 1926 geborene Angeklagte S. wurde 1964 zum Generalmajor ernannt und in das Ministerium für Nationale Verteidigung als Stellvertreter des Chefs des Hauptstabes für operative Fragen berufen. Als Honecker 1971 Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrats wurde, übernahm S. als Mitglied des Nationalen Verteidigungsrats dessen frühere Aufgaben als Sekretär dieses Gremiums. Diese Stellung hatte er bis zum Jahre 1989 inne. Im Jahre 1979 wurde er als Generaloberst stellvertretender Minister für Nationale Verteidigung sowie als Nachfolger des Angeklagten K. Chef des Hauptstabes der Nationalen Volksarmee und Stellvertreter des Oberkommandierenden der Vereinten Streitkräfte des Warschauer Paktes. Diese Ämter übte er bis 1989 aus. Seit 1981 war S. auch Mitglied des Zentralkomitees der SED.
Der im Jahre 1919 geborene Angeklagte A. war seit dem Jahre 1963 Mitglied des Zentralkomitees der SED und wurde 1968 Erster Sekretär der SED-Bezirksleitung Suhl. Im Jahre 1971 wurde er Volkskammerabgeordneter und im Jahre 1972 in seiner Eigenschaft als Erster Sekretär der SED-Bezirksleitung Suhl Mitglied des Nationalen Verteidigungsrats, dem er bis 1989 angehörte.
5. Die von den Angeklagten als Mitgliedern des Nationalen Verteidigungsrats auf Grund der Beschlüsse des Nationalen Verteidigungsrats verantwortete Befehlslage an der Grenze der DDR zur Bundesrepublik Deutschland ging dahin, „Grenzdurchbrüche“ durch Flüchtlinge aus der DDR in jedem Falle und unter Einsatz jeden Mittels zu verhindern. Dabei wurde der Tod des Flüchtlings hingenommen, wenn anders ein „Grenzdurchbruch“ nicht zu verhindern war.
a) Die Grenzanlagen, deren technische Einrichtung so ausgelegt war, daß sie in erster Linie eine Flucht aus der DDR verhinderten, wurden durch Grenztruppen bewacht, die speziell für diese Aufgabe ausgebildet wurden.
Die Angehörigen der Grenztruppen wurden dahin instruiert, daß ein gelungener „Grenzdurchbruch“ für die betreffenden Soldaten „Konsequenzen“ habe. Da in vielen Fällen ein Flüchtling ohne gezielten Schußwaffeneinsatz nicht anzuhalten war, bedeutete dies, daß mit dem Gebrauch der Schußwaffe tödliche Folgen nicht auszuschließen waren, zumal die an der Grenze verwendete Maschinenpistole „Kalaschnikow Modell 47“ insbesondere bei Dauerfeuer im Stehen eine geringe Zielgenauigkeit hatte. Durch die Befehle wurde bei den Soldaten gezielt der Eindruck erweckt, die „Unverletzlichkeit der Grenze“ habe Vorrang vor einem Menschenleben.
Um Aufsehen zu vermeiden, hatten Rettungsmaßnahmen so zu erfolgen, daß sie von Dritten nicht bemerkt wurden. Das führte zu erheblichen zeitlichen Verzögerungen bei der ärztlichen Hilfeleistung. Die Krankenhausärzte wurden über die Ursache der Verletzungen nicht unterrichtet. Obduzenten erhielten keine oder nur vage Aufklärung über die näheren Umstände des Todes, und der Totenschein enthielt keine Angaben über die Todesursache.
Auch nach Inkrafttreten des Grenzgesetzes im Jahre 1982 (vgl. dazu BGHSt 39, 1, 9 ff.) wurde den Soldaten der Schußwaffeneinsatz im Umfang der bisherigen Anordnungen weiter befohlen.
Soweit bei „Grenzvorfällen“ Personen Schaden erlitten, übernahm das Ministerium für Staatssicherheit die Untersuchung. Deren vorrangiges Ziel war es, die Umstände zu klären, „unter denen es dem Flüchtling überhaupt gelungen war, so weit vorzudringen“. Grenzsoldaten, die einen Fluchtversuch verhindert hatten, wurden, auch wenn der Flüchtende dabei getötet wurde, belobigt.
b) Diese Befehlslage an der Grenze beruhte auf den Beschlüssen des Nationalen Verteidigungsrats, an den die Angeklagten mitgewirkt hatten und die Grundlage für Befehle des Ministers für Nationale Verteidigung gegenüber den Grenztruppen wurden.
Bereits in seiner Sitzung vom 14. September 1962, also noch bevor die Angeklagten Mitglied des Nationalen Verteidigungsrats geworden waren, hatte dieser einen Bericht zustimmend zur Kenntnis genommen, wonach „Grenzverletzer in jedem Falle als Gegner gestellt, wenn notwendig, vernichtet werden müssen“.
In der Folgezeit wurde unter Mitwirkung der Angeklagten wiederholt beschlossen, die bestehenden Maßnahmen, insbesondere die Verminung der Grenze, aufrechtzuerhalten oder zu erweitern. So wurde in den Sitzungen vom 14. Juli 1972, vom 3. Mai 1974, vom 18. November 1976 und vom 30. September 1977 der weitere Ausbau der Grenze mit der Splittermine SM-70, die sich nach dem am 30. September 1977 erstatteten Bericht als das „wirksamste Sperrelement“ erwiesen habe, beschlossen. Mit Ausnahme der Sitzung vom 30. September 1977, bei der A. fehlte, waren bei diesen Sitzungen alle Angeklagten anwesend.
Alle Angeklagten waren auch in der bereits erwähnten Sitzung vom 3. Mai 1974 anwesend, als Honecker, von S. protokolliert und deshalb genau belegt, sich dahin äußerte, nach wie vor müsse bei Grenzdurchbruchsversuchen von der Schußwaffe rücksichtslos Gebrauch gemacht werden und die Schützen seien zu belobigen. Als der zur Zeit der Sitzung des Nationalen Verteidigungsrats erkrankte Minister für Nationale Verteidigung Ho. mit S. das Protokoll zur Prüfung der Frage durchging, ob die Beschlüsse vom 3. Mai 1974 einen neuen Jahresbefehl erforderten, waren sich beide einig, „daß damit ja wohl alles beim alten bleibe und eine Änderung des zur Zeit gültigen Befehls Nr. 101 (des letzten Jahresbefehls) nicht erforderlich sei“.
Die Wendung, Grenzverletzer seien „festzunehmen bzw. zu vernichten“, „zu vernichten bzw. gefangenzunehmen“, findet sich als Folge entsprechender Beschlüsse des Nationalen Verteidigungsrats in zahlreichen Jahresbefehlen, so z.B. in den Jahresbefehlen vom 3. Oktober 1969, vom 30. September 1971, vom 27. September 1973 und vom 4. Oktober 1975, die sich mit der Einrichtung der Minensperren an der Grenze und dem Verhalten der Grenzsoldaten befassen.
Seit dem am 11. Oktober 1976 unterzeichneten Jahresbefehl des Ministers für Nationale Verteidigung, der wie zahlreiche vorangegangene Befehle nicht nur auf einem Beschluß des Nationalen Verteidigungsrats beruhte, sondern auch unter Mitwirkung der Angeklagten K. und S. abgefaßt worden war, wurde die Wendung, Grenzverletzer seien „zu vernichten“, vermieden. Weder dadurch noch als Folge des 1982 erlassenen Grenzgesetzes, das eine gesetzliche Regelung des Schußwaffengebrauchs enthielt, sollte indes an der bisherigen Praxis nach dem Willen der Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrats etwas geändert werden. In der Sitzung des Nationalen Verteidigungsrats vom 1. Juli 1983, an der alle drei Angeklagten teilnahmen, schlug der Minister für Nationale Verteidigung vor, neben einer Modernisierung der veralteten Erdminenfelder die am vorderen (der Bundesrepublik zugewandten) Grenzzaun installierten Splitterminen schrittweise abzubauen und im Hinterland der DDR neu zu installieren. Diesen Vorschlag begründete er unter anderem wie folgt:
„Die geringe Entfernung zwischen den Sperranlagen mit Splitterminen und der Staatsgrenze der DDR (zwischen 30 bis 50 m) begünstigt Anschläge und Provokationen vom Territorium der BRD gegen diese Anlagen.
Andererseits ermöglicht es Grenzverletzern, in Richtung DDR-BRD nach Auslösung die Sperranlagen mit Splitterminen zu überwinden und in kürzester Zeit das Territorium der BRD unverletzt oder verletzt zu erreichen und sich damit der Festnahme zu entziehen.
Die Bergung von verletzten oder toten Grenzverletzern kann vom Gegner beobachtet und dokumentiert werden.“
Bei dieser Sitzung hob Honecker unter allgemeinem Hinweis auf die Notwendigkeit, „politischen Schaden von der DDR abzuwenden und die Möglichkeiten des Gegners zur Hetze gegen die DDR einzuschränken“, hervor, es sei anzustreben, die Grenzsicherungsanlagen so auszubauen, daß man ohne Minen auskomme. Der Nationale Verteidigungsrat stimmte darauf dem Vorschlag des Ministers für Nationale Verteidigung „unter Beachtung der während der Sitzung gegebenen Hinweise und unterbreiteten Vorschläge“ zu. Die technischen Anlagen an der Grenze wurden darauf so verändert, daß auf Selbstschußanlagen und Minen verzichtet werden konnte. Diese wurden bis 1. Juli 1985 beseitigt.
c) Über die Wirkung der an der Grenze ausgebrachten Minen wußten die Angeklagten Bescheid.
In einer Sitzung des Kollegiums des Ministeriums für Nationale Verteidigung vom 4. Dezember 1971, an der die Angeklagten K. und S. teilgenommen hatten, war über den „weiteren Ausbau der Staatsgrenze der DDR zur BRD mit der richtungsgebundenen Splittermine 70 (SM-70)“ beraten worden. Grundlage dieser Beratungen war eine Vorlage, in der es unter anderem hieß, die kinetische Energie der Splitter reiche aus, um mit Sicherheit Personen unschädlich zu machen, die versuchten, den Sperrbereich der SM-70 zu durchbrechen; im Erprobungszeitraum habe beschossenes Wild zu 75 % tödliche Verletzungen erhalten. Dabei hatte der Angeklagte K. auf den Hinweis des Ministers auf die tödliche Wirkung dieses Minentyps die Frage aufgeworfen, ob der Schußtrichter nicht auch mit Hartgummikugeln gefüllt werden könne. Honecker hatte daraufhin entschieden, daß es bei der vorgesehenen Verwendung der SM-70 bleibe. Entsprechendes wurde in der nächsten Sitzung des Nationalen Verteidigungsrats am 14. Juli 1972 beschlossen, an der alle Angeklagten teilgenommen haben.
Wurde bei einem Fluchtversuch ein Flüchtling verletzt, wurde dies dem Generalsekretär des Zentralkomitees der SED, dem Minister für Nationale Verteidigung, einigen seiner Stellvertreter und dem Ersten Sekretär der jeweiligen SED-Bezirksleitung gemeldet. Die Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrats wurden durch den Minister für Nationale Verteidigung im Rahmen seiner regelmäßigen Berichte über die Situation an der Grenze von derartigen Vorfällen unterrichtet.
d) Das Grenzregime der DDR ist vor dem Hintergrund einer äußerst restriktiven Praxis der Ausreisegenehmigung zu sehen, zu der der Senat bereits in seiner Entscheidung BGHSt 39, 1, 19 festgestellt hat, „daß es, jedenfalls bis zum 1. Januar 1989, für nicht politisch privilegierte Bürger unterhalb des Rentenalters, abgesehen von einzelnen dringenden Familienangelegenheiten, keine Möglichkeit der legalen Ausreise“ gab. Zu den tatsächlichen Verhältnissen stellt das Landgericht im vorliegenden Verfahren fest, Verwaltungsmitarbeiter sollten Ausreiseanträge erst gar nicht entgegennehmen, die Antragsteller sollten veranlaßt werden, ihre Anträge erst gar nicht zu stellen oder zurückzunehmen, Bürger, die sich auf völkerrechtliche Dokumente wie die Schlußakte der KSZE beriefen, sollten auf mögliche strafrechtliche oder andere rechtliche Konsequenzen mit Nachdruck hingewiesen werden. Konnte die Stellung von Anträgen nicht verhindert werden, sollten diese generell zurückgewiesen werden. In eine sachliche Überprüfung der Antragsgründe wurde nur bei Rentnern und Invaliden, zum Teil auch in Fällen der Familienzusammenführung, eingetreten. Antragsteller wurden „operativ“ bearbeitet. Ihnen wurde eine Arbeit niederen Ranges zugewiesen und, wenn diese nicht akzeptiert wurde, das Arbeitsverhältnis „wegen Nichteignung des Werktätigen für die vereinbarte Tätigkeit“ gekündigt. Studenten wurden mit einer entsprechenden, den wahren Sachverhalt bewußt verschleiernden, Begründung exmatrikuliert. Das Landgericht faßte seine Feststellungen zur Praxis der Behandlung von Ausreiseanträgen wie folgt zusammen:
„In der Bevölkerung der DDR war allgemein bekannt, daß das Stellen eines Ausreiseantrags in der Regel äußerst einschneidende Konsequenzen wie Verlust des Arbeits- oder Studienplatzes oder Schwierigkeiten für die Kinder in der Schule hatte. Viele Bürger verzichteten aus Furcht, auf diese Weise isoliert und möglicherweise auch kriminalisiert zu werden, oft aus Rücksicht auf Angehörige, auf die Stellung eines Antrags.“
6. Als Folge der Maßnahmen an der Grenze der DDR zur Bundesrepublik Deutschland wurde eine Vielzahl von Flüchtlingen getötet. Folgende Vorfälle sind Gegenstand dieses Verfahrens:
a) Am 8. April 1971 trat der 18jährige Se. in der Nähe des Ortes Schwickerthausen beim Versuch, das dortige Minenfeld zu überqueren, auf eine Erdmine. Diese riß ihm den linken Fuß ab, trotzdem gelang es ihm, das Gebiet der Bundesrepublik zu erreichen. Hier verstarb Se. nach mehreren Operationen am 4. Mai 1971 an den Folgen der Verletzungen.
b) Am 16. Januar 1973 löste der 29 Jahre alte F. in der Nähe der Ortschaft Blütlingen im Landkreis Lüchow-Danneberg eine dort installierte Splittermine SM-70 aus und wurde durch zahlreiche Splitter schwer verletzt. Trotzdem gelang es ihm, das Gebiet der Bundesrepublik zu erreichen. Hier starb F. am 17. Januar 1973 im Krankenhaus an den Folgen der Verletzungen.
c) Am 14. Juli 1974 löste der 25 Jahre alte V. in der Nähe der Ortschaft Hohegeiß drei Splitterminen aus und wurde durch zahlreiche Splitter schwer verletzt. Von Grenzsoldaten der DDR wurde er 20 Minuten später an den Beinen in das Hinterland geschleift und auf einen LKW verladen, der noch etwa weitere 20 Minuten dort stehenblieb. Er wurde knapp zwei Stunden nach dem Vorfall in das Krankenhaus Wernigerode eingeliefert, wo er am 15. Juli 1974 den Folgen der Verletzungen erlag.
d) Am 7. April 1980 löste der 28 Jahre alte B. bei Veltheim im Kreis Halberstadt eine Splittermine SM-70 aus und wurde durch zahlreiche Splitter schwer verletzt. Nach einer Reihe von Operationen im Krankenhaus Halberstadt verstarb B. am 11. Mai 1980 an den Folgen seiner Verletzungen.
e) Am 22. März 1984 löste der 20 Jahre alte M. in der Nähe der Ortschaft Wendehausen im Kreis Mühlhausen eine Splittermine SM-70 aus und wurde durch zahlreiche Splitter schwer verletzt. Er wurde von Grenzsoldaten geborgen. Ein herbeigerufener Arzt stellte den Tod fest.
f) Am 1. Dezember 1984 schossen um 3.15 Uhr in Berlin zwei Grenzsoldaten auf den 20 Jahre alten Sch. mit Dauerfeuer, als dieser versuchte, mit einer Leiter die Mauer zu überwinden, und trafen ihn im oberen Bereich des Rückens. Dem Verletzten wurde ärztliche Hilfe verweigert. Er wurde erst gegen 5.15 Uhr in das Krankenhaus der Volkspolizei eingeliefert. Zu diesem Zeitpunkt war er verblutet. Bei schnellerer ärztlicher Hilfe hätte Sch. wahrscheinlich überlebt. Die Schützen wurden belobigt, lediglich der hohe Munitionsverbrauch wurde beanstandet. Das Strafverfahren gegen die Schützen war Gegenstand des Urteils des Senats BGHSt 39, 1.
g) In der Nacht vom 5. zum 6. Februar 1989 versuchten der 22jährige G. und der gleichaltrige Ga., die Mauer nach West-Berlin zu übersteigen. Dabei wurde G. durch einen von einem Grenzsoldaten abgegebenen Schuß in die Brust tödlich getroffen. Ga. wurde durch einen Schuß verletzt. Die Schützen wurden förmlich belobigt; ihnen zu Ehren fand ein Essen statt. Das Strafverfahren gegen die Schützen war Gegenstand des Urteils des Senats BGHSt 39, 168.
II. Das Landgericht rechnet den einzelnen Angeklagten nur die Taten zu, die nach Beginn ihrer Mitgliedschaft im Nationalen Verteidigungsrat begangen wurden.
Es sieht das gesamte Verhalten der Angeklagten als natürliche Handlungseinheit, nimmt deshalb nur eine Tat an und wendet bei dem nach Artikel 315 EGStGB, § 2 StGB anzustellenden Vergleich des Rechts der DDR mit dem Strafgesetzbuch das Strafgesetzbuch als das mildere Recht an.
1. Das Landgericht wertet das Verhalten der Angeklagten nach dem Strafrecht der DDR als Anstiftung zum Mord (§ 22 Abs. 2 Nr. 1, § 112 Abs. 1 StGB-DDR).
Die unmittelbar handelnden Grenzsoldaten hätten rechtswidrig gehandelt. Insbesondere sei ihr Verhalten für die Zeit nach dem 1. Mai 1982 auch nicht durch Vorschriften des Grenzgesetzes gerechtfertigt gewesen. Sollten Minen, Splitterminen oder Selbstschußanlagen unter die in § 8 Abs. 2 Grenzgesetz erwähnten Grenzsicherungsanlagen fallen, so wäre doch deren Einsatz gegen Flüchtlinge aus der DDR deshalb rechtswidrig, weil die Verwendung gefährlicher Mittel zur Abwehr von Straftaten in den §§ 26 und 27 des Grenzgesetzes abschließend geregelt sei. § 27 Grenzgesetz verlange aber vor der Anwendung von Schußwaffen eine Abwägung der Verhältnismäßigkeit, die beim Einsatz von Minen naturgemäß entfalle. Im übrigen sei auch der Schußwaffengebrauch nach den Maßstäben der Entscheidungen des Bundesgerichtshofs (BGHSt 39, 1 und 39, 168) rechtswidrig gewesen.
Mittelbare Täterschaft scheide aus, weil die unmittelbar handelnden Personen selbst verantwortlich gewesen seien (§ 22 Abs. 1 StGB-DDR), Mittäterschaft (§ 22 Abs. 2 Nr. 2 StGB-DDR) liege deshalb nicht vor, weil nach der Rechtsprechung der DDR Mittäter nur sein konnte, wer mindestens ein gesetzliches Tatbestandsmerkmal unmittelbar selbst verwirklicht hatte. Beihilfe (§ 22 Abs. 2 Nr. 3 StGB-DDR) setze die Unterstützung eines bereits zur Tat entschlossenen Täters voraus. Daran fehle es. Die Angeklagten hätten den Tatentschluß der Grenzsoldaten erst hervorgerufen.
Nach dem Strafrecht der DDR gelte deshalb gemäß § 22 StGB-DDR der Strafrahmen des § 112 Abs. 1 StGB-DDR. Dieser drohe Freiheitsstrafe nicht unter zehn Jahren an.
2. Demgegenüber milder sei das Strafgesetzbuch der Bundesrepublik Deutschland, nach dem sich die Angeklagten K. und S. wegen Anstiftung zum Totschlag und der Angeklagte A. wegen Beihilfe zum Totschlag strafbar gemacht hätten.
Mittelbare Täterschaft scheide auch hier aus. Insbesondere komme auch eine in der Lehre bei NS-Verbrechen angenommene „Willensherrschaft kraft organisatorischen Machtapparates“ nicht in Betracht. Die DDR sei kein der Hitler-Diktatur vergleichbarer totalitärer Staat gewesen. Auch hätten die Angeklagten keine Tatherrschaft gehabt. Die Entscheidung, ob und wie geschossen werden sollte, habe letztlich der Schütze zu treffen gehabt. Dies gelte auch für den Einsatz der Minen. Diese hätten beispielsweise „bei Bedarf“ von den Offizieren der Grenztruppen abgeschaltet werden können.
Mangels Tatherrschaft scheide auch Mittäterschaft aus, und bloße Beihilfe komme aus denselben Gründen wie bei der Prüfung der Anwendbarkeit des Rechts der DDR nicht in Betracht.
Die Angeklagten hätten jedoch dazu beigetragen, die Grenzsoldaten zu deren Tötungshandlungen anzustiften. Bei der danach vorzunehmenden Abgrenzung zwischen Anstiftung und Beihilfe zur Anstiftung sei die gewichtige Rolle der Partei und insbesondere des Generalsekretärs des Zentralkomitees auch gegenüber dem Nationalen Verteidigungsrat zu berücksichtigen. Die bloße Zugehörigkeit zum Nationalen Verteidigungsrat begründe noch nicht den Vorwurf der Anstiftung. Da A., anders als K. und S., beruflich mit der Umsetzung der Beschlüsse des Nationalen Verteidigungsrats nicht befaßt gewesen sei und im Nationalen Verteidigungsrat auch keine hervorgehobene Rolle gespielt habe, sei er nur Gehilfe zu der von Honecker ausgehenden Anstiftung zum Totschlag, während die Angeklagten K. und S. der Anstiftung zum Totschlag schuldig seien.
Da auf die Angeklagten weder der Strafrahmen des besonders schweren Falles des Totschlags nach § 212 Abs. 2 StGB noch der des minder schweren Falles des Totschlags nach § 213 StGB Anwendung finde, sei der damit anzuwendende Strafrahmen des § 212 Abs. 1 StGB auch für den Anstifter günstiger als der bei Anwendung des DDR-Rechts anzuwendende Strafrahmen.
B.
Die zuungunsten der Angeklagten eingelegten Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft führen bei den Angeklagten zu einer Änderung des Schuldspruchs. Die Rechtsmittel der Angeklagten bleiben ohne Erfolg.
I. Die Staatsanwaltschaft vertritt mit der Sachrüge die Auffassung, die Angeklagten hätten in Mittäterschaft mit den Grenzsoldaten gehandelt. Natürliche Handlungseinheit liege nicht vor, vielmehr seien den Angeklagten die nach Beginn ihrer Mitgliedschaft im Nationalen Verteidigungsrat erfolgten Tötungen als in Tatmehrheit begangene Verbrechen des Totschlags zuzurechnen.
Die Prüfung durch den Senat ergibt folgendes:
1. Die Angeklagten sind des Totschlags in mittelbarer Täterschaft schuldig (§§ 212, 25 StGB).
Soweit auf die Straftaten das Recht der Bundesrepublik nicht ohnehin anzuwenden ist, weil der Erfolg in der Bundesrepublik eintrat und die Verfolgung nach dem Recht der Bundesrepublik noch nicht verjährt ist (Fall A I 6 b), ist das Recht der Bundesrepublik das mildere Recht (Art. 315 Abs. 1 EGStGB idF des Einigungsvertrages i.V.m. § 2 Abs. 3 StGB).
a) Die vom Landgericht vorgenommene rechtliche Bewertung des Verhaltens der Angeklagten nach dem Recht der DDR trifft zu: Aus den im angefochtenen Urteil angeführten Gründen kommt eine Beteiligung der Angeklagten an den durch die Grenzsoldaten unmittelbar verursachten Tötungen als mittelbare Täterschaft, Mittäterschaft oder Beihilfe nicht in Betracht; das Landgericht hat insofern zu Recht auch beim Angeklagten A. Anstiftung zum Mord (§ 22 Abs. 2 Nr. 1, § 112 Abs. 1 StGB-DDR) angenommen.
Nach dem Recht der DDR setzt Anstiftung nämlich voraus, daß der Angestiftete rechtswidrig und vorsätzlich einen Straftatbestand verwirklicht. Die Anstiftungshandlung muß gegenüber einem bestimmten Täter erfolgen und sich auf eine konkret bestimmte Straftat beziehen (Strafrecht Allgemeiner Teil, Lehrbuch, Staatsverlag der DDR 1. Aufl. 1976 S. 379), der Vorsatz des Anstifters muß sich auf alle wesentlichen Umstände der betreffenden Straftat erstrecken (Strafrecht der DDR, Kommentar zum StGB 5. Aufl. Staatsverlag der DDR 1987 § 22 Anm. 4).
Diese Voraussetzungen liegen hier vor.
Es ist nicht erforderlich, daß der Anstifter in seine Vorstellung alle Einzelheiten des späteren Geschehensablaufs aufgenommen hat, insbesondere Tatort, Tatzeit und Tatopfer und die jeweils unmittelbar handelnde Person für jeden Einzelfall individuell kennt. Danach genügt es, daß der Anstifter weiß, aufgrund der von ihm veranlaßten Maßnahmen, unter anderem Minenverlegung, können Flüchtlinge zu Tode kommen.
Die an der Grenze unmittelbar handelnden Grenzsoldaten handelten auch nach dem Recht der DDR rechtswidrig, als sie die Minen und Selbstschußanlagen installierten und auf Flüchtlinge schossen, um – notfalls durch deren Tötung – die Flucht zu verhindern. Weder ihnen noch den Befehlsgebern oder den Angeklagten als für die Befehle Verantwortlichen stand ein Rechtfertigungsgrund zur Seite.
Die Staatspraxis der DDR, die die vorsätzliche Tötung von Flüchtlingen durch Schußwaffen, Selbstschußanlagen oder Minen zur Vermeidung einer Flucht aus der DDR in Kauf nahm, war wegen offensichtlichen, unerträglichen Verstoßes gegen elementare Gebote der Gerechtigkeit und gegen völkerrechtlich geschützte Menschenrechte nicht geeignet, die Täter zu rechtfertigen. Dies hat der Senat in BGHSt 39, 1, 15 ff. und in BGHSt 39, 168, 183 f. sowie im Urteil vom heutigen Tage – 5 StR 167/94 – für den vorsätzlichen Schußwaffengebrauch näher begründet.
Daß die verantwortlichen Grenzsoldaten vorsätzlich gehandelt haben, hat das Landgericht zwar nicht im einzelnen dargelegt. Jedenfalls für die an verantwortlicher Stelle tätigen Vorgesetzten, die Befehle gegeben haben und deshalb Täter sind (§ 258 Abs. 2 StGB-DDR), versteht sich dies von selbst. Diese sind zu ihren Befehlen und damit zu den Taten von den Angeklagten bestimmt worden. Ob die von ihnen als Täter zu verantwortenden Tötungsakte nach dem Recht der DDR eine Tat sind, mag zweifelhaft sein, führt aber nicht zu der Annahme milderen Rechts.
b) Nach dem Strafgesetzbuch sind die Angeklagten mittelbare Täter des Totschlags.
Die Frage, ob die Grenzsoldaten jeweils schuldhaft gehandelt haben, kann bei der Prüfung des Rechts der Bundesrepublik Deutschland dahingestellt bleiben, weil mittelbare Täterschaft auch bei einem uneingeschränkt schuldhaft, mit Täterqualifikation handelnden Tatmittler in Betracht kommt. Daß in Fällen der vorliegenden Art die Grenzsoldaten Täter und nicht nur Gehilfen sein konnten, hat der Senat bereits entschieden (BGHSt 39, 1, 31 f.).
aa) Die Frage, ob der Hintermann eines uneingeschränkt schuldhaft handelnden Täters mittelbarer Täter sein kann, ist umstritten.
Der Gesetzgeber hat die Frage bewußt offen gelassen und sich auf die Formulierung beschränkt, Täter könne auch sein, wer die Straftat „durch einen anderen begeht“ (§ 25 Abs. 1 StGB). Die Frage war in den Verhandlungen der Großen Strafrechtskommission umstritten. Die schließlich gefundene Lösung war ein Kompromiß, der die rechtliche Beurteilung des uneingeschränkt verantwortlichen Tatmittlers nicht entscheiden wollte (vgl. BT Drucks. IV/650 S. 149 sowie Protokolle des BT-Sonderausschusses für die Strafrechtsreform V 1821, 1826; Einzelheiten bei Roxin, FS für Lange S. 173, 174; vgl. auch Roxin in LK 11. Aufl. § 25 Rdn. 53).
Das Schrifttum vermittelt kein einheitliches Bild. „Außer Frage steht kaum mehr als der allgemeine Grundsatz, daß auch der mittelbare Täter in seiner Person alle Voraussetzungen der Täterschaft erfüllen muß“ (Stratenwerth, Strafrecht AT I, 3. Aufl. S. 224; Nachweise zum Stand der Meinungen bei Dreher/Tröndle, StGB 46. Aufl. § 25 Rdn. 3 und Lackner, StGB 20. Aufl. § 25 Rdn. 2).
Verbreitet ist die Auffassung, mittelbare Täterschaft scheide aus, wenn der Tatmittler den Tatbestand, sei es auch auf Grund eines vom Hintermann verursachten Motivirrtums, selbst vorsätzlich, rechtswidrig und schuldhaft verwirkliche („Verantwortungsprinzip“). Die strafrechtliche Verantwortung des unmittelbar Handelnden schließe es von Gesetz wegen aus, ihn zugleich als Werkzeug eines anderen anzusehen (Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts AT 4. Aufl. S. 601; Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil 2. Aufl. S. 632; Wessels, Strafrecht Allgemeiner Teil 22. Aufl. S. 160; vgl. auch Stratenwerth aaO S. 224).
Andere (Maurach/Gössel/Zipf, Strafrecht AT Teilband 2, 7. Aufl. S. 260, 277; Baumann/Weber, Strafrecht AT 9. Aufl. S. 544; Cramer in Schönke/Schröder, StGB 24. Aufl. § 25 Rdn. 8; vgl. auch Herzberg, Jura 1990, 16) halten mittelbare Täterschaft auch bei einem volldeliktisch handelnden Werkzeug ganz allgemein dann für möglich, wenn der Hintermann den Ablauf des Geschehens „unter Kontrolle“ hat und ihm so „eine Kraftreserve“ verbleibt, „die ihn zum Einsatz des unmittelbar Handelnden als bloßen Werkzeuges befähigt“ (Maurach/Gössel/Zipf aaO S. 260).
Für Roxin (LK 11. Aufl. § 25 Rdn. 54) ist Tatherrschaft eines an sich der Ausführung der Tatbestandshandlung nicht beteiligten Hintermannes, abgesehen von den Fällen, bei denen dem Werkzeug eine vom Tatbestand vorausgesetzte besondere Pflichtenstellung oder Absicht fehlt, nur denkbar, wenn der Hintermann durch eine Nötigung des Tatmittlers das Geschehen beherrscht, wenn er durch Erregung oder Ausnutzung eines Irrtums das Geschehen aus dem Hintergrund lenkt oder wenn er sich eines organisierten Machtapparates bedient, bei dem die unmittelbar Handelnden in hohem Maße austauschbar sind.
Weitgehend Einigkeit besteht in der Literatur bei der Beurteilung von Tätern, die im Rahmen organisatorischer Machtapparate gehandelt haben. Hier soll trotz uneingeschränkt tatbestandsmäßig handelndem Tatmittler der Hintermann und jeder, der im Rahmen der Hierarchie die Verbrechensanweisung mit selbständiger Befehlsgewalt weitergibt (Roxin aaO Rdn. 133), mittelbarer Täter sein, weil die Fungibilität des Tatmittlers dem Schreibtischtäter die Tatherrschaft verleihe ((Stratenwerth aaO S. 226; Wessels aaO S. 160; Roxin aaO Rdn. 25, 128; Dreher/Tröndle aaO § 25 Rdn. 3; vgl. auch Maurach/Gössel/Zipf aaO S. 278). Teilweise wird in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, daß für mafiaähnliche Strukturen Entsprechendes gelten müsse (Stratenwerth aaO S. 224).
Die Vertreter eines uneingeschränkten Verantwortungsprinzips (Jescheck aaO S. 607; Jakobs aaO S. 649; Samson SK-StGB 22. Lfg. § 25 Rdn. 36) weichen für diese Fälle auf Mittäterschaft, zum Teil auf Mittäterschaft oder Anstiftung (Jakobs) aus, weil sie einen Täter hinter dem Täter grundsätzlich nicht akzeptieren. Ihnen wird entgegengehalten, daß der „Mann in der Zentrale“ die Ausführung gänzlich dem von ihm vielfach ohne persönliche Kenntnis eingesetzten Werkzeug überlasse, spreche gegen Mittäterschaft, die durch arbeitsteiliges Verhalten gekennzeichnet sei, und der die Mittäterschaft bestimmende gemeinsame Tatentschluß bedeute mehr als nur das Bewußtsein, derselben Organisation anzugehören.
Der Bundesgerichtshof hat in verschiedenen Entscheidungen ausgeführt, der mittelbare Täter führe die Tat durch einen anderen aus, der nicht selbst Täter sei (BGHSt 2, 169, 170; 30, 363, 364). Diese Begriffsbestimmung, die der Lehre vom Verantwortungsprinzip entspricht, ist in den genannten Entscheidungen indes nicht tragend (BGHSt 35, 347, 351).
In einer Reihe weiterer Entscheidungen geht der Bundesgerichtshof ohne weitere Begründung bei uneingeschränkt verantwortlich handelnden Tatmittlern von mittelbarer Täterschaft des Hintermannes aus: So hat bereits BGHSt 3, 110 bei einer wahren Anzeige, die zu einer rechtswidrigen, freilich nicht vollstreckten Todesstrafe geführt hatte, versuchte vorsätzliche rechtswidrige Tötung durch den Anzeigenden in mittelbarer Täterschaft angenommen und herausgestellt, die Rechtswidrigkeit sei für alle Beteiligten, mithin einschließlich der Richter, gleich zu beurteilen, so daß von einem uneingeschränkt tatbestandsmäßigen Verhalten der Richter als Tatmittler auszugehen sei. (BGHSt 32, 165, 178 (Startbahn West) betont, die Beteiligung an Gewalttätigkeiten im Sinne des § 125 StGB könne auch durch den ortsabwesenden geistigen Anführer als mittelbaren Täter erfolgen, weil er „kraft seines überlegenen Willens das Geschehen beherrsche, die Erfolgsherbeiführung in der Hand“ habe (vgl. dazu BVerfGE 82, 236, 269; Dreher/Tröndle aaO § 125 Rdn. 6; Roxin aaO Rdn. 58). In der Entscheidung BGHSt 37, 106 (Produkthaftung) nimmt der Bundesgerichtshof bei Geschäftsführern einer GmbH ganz selbstverständlich täterschaftlich begangene gefährliche Körperverletzung durch Unterlassen an, ohne zu prüfen, ob die mit der späteren Verteilung des Produkts befaßten Personen bis zum Einzelhändler die Gefährlichkeit kannten und deshalb selbst uneingeschränkt schuldhaft handelten. Entsprechendes gilt für die Entscheidung BGHSt 38, 325. Dort wurde die Verurteilung eines Bürgermeisters wegen vorsätzlicher Gewässerverunreinigung (§ 324 Abs. 1 StGB) gebilligt, weil er es unterlassen hatte, die Grundstückseigentümer, die deswegen ebenfalls strafrechtlich verfolgt wurden, an der Einleitung nicht vorgeklärter Abwässer in die Kanalisation zu hindern.
In der Entscheidung BGHSt 35, 347 (Katzenkönig) schließlich hat der Bundesgerichtshof mittelbare Täterschaft bei einem – eingeschränkt – schuldhaft handelnden Tatmittler, der sich allerdings in einem vermeidbaren Verbotsirrtum befand, bejaht und zur Begründung ausgeführt, jedenfalls für Fälle der zu entscheidenden Art komme es nicht auf die Frage an, ob der Tatmittler schuldhaft handle, sondern auf die vom Täterwillen getragene objektive Tatherrschaft des Hintermannes. Eine solche Abgrenzung entspreche den Grundsätzen, die auch für die Abgrenzung zwischen unmittelbarer Täterschaft und Teilnahme maßgeblich sei.
bb) Der Senat ist der Auffassung, daß damit für Fälle mittelbarer Täterschaft zutreffende Abgrenzungskriterien aufgezeigt sind.
(1) Handelt jemand irrtumsfrei und uneingeschränkt schuldfähig, so ist sein Hintermann regelmäßig nicht mittelbarer Täter. Dies gilt insbesondere für Fälle, in denen der unmittelbar handelnde Täter nicht nur rechtlich, sondern vor allem tatsächlich das Geschehen umfassend beherrscht und auch beherrschen will. Dann hat der Hintermann in der Regel keine Tatherrschaft.
(2) Es gibt aber Fallgruppen, bei denen trotz eines uneingeschränkt verantwortlich handelnden Tatmittlers der Beitrag des Hintermannes nahezu automatisch zu der von diesem Hintermann erstrebten Tatbestandsverwirklichung führt. Solches kann vorliegen, wenn der Hintermann durch Organisationsstrukturen bestimmte Rahmenbedingungen ausnutzt, innerhalb derer sein Tatbeitrag regelhafte Abläufe auslöst. Derartige Rahmenbedingungen mit regelhaften Abläufen kommen insbesondere bei staatlichen, unternehmerischen oder geschäftsähnlichen Organisationsstrukturen und bei Befehlshierarchien in Betracht. Handelt in einem solchen Fall der Hintermann in Kenntnis dieser Umstände, nutzt er insbesondere auch die unbedingte Bereitschaft des unmittelbar Handelnden, den Tatbestand zu erfüllen, aus und will der Hintermann den Erfolg als Ergebnis seines eigenen Handelns, ist er Täter in der Form mittelbarer Täterschaft.
Er besitzt die Tatherrschaft. Er beherrscht das Geschehen tatsächlich weit mehr, als dies bei anderen Fallgruppen erforderlich ist, bei denen mittelbare Täterschaft ohne Bedenken angenommen wird, etwa bei Einsatz eines uneingeschränkt verantwortlichen Werkzeugs, das lediglich mangels einer besonderen persönlichen Pflichtenstellung oder mangels einer besonderen, vom Tatbestand verlangten Absicht nicht Täter sein kann. Auch bei Einsatz irrender oder schuldunfähiger Werkzeuge sind Fallgestaltungen möglich, bei denen der mittelbare Täter den Erfolgseintritt weit weniger in der Hand hat als bei Fällen der beschriebenen Art.
Der Hintermann hat in Fällen der hier zu entscheidenden Art auch den umfassenden Willen zur Tatherrschaft, wenn er weiß, daß die vom Tatmittler noch zu treffende, aber durch die Rahmenbedingungen vorgegebene Entscheidung gegen das Recht kein Hindernis bei der Verwirklichung des von ihm gewollten Erfolgs darstellt.
Den Hintermann in solchen Fällen nicht als Täter zu behandeln, würde dem objektiven Gewicht seines Tatbeitrags nicht gerecht, zumal häufig die Verantwortlichkeit mit größerem Abstand zum Tatort nicht ab-, sondern zunimmt (F.C. Schroeder, Der Täter hinter dem Täter S. 166).
Eine so verstandene mittelbare Täterschaft wird nicht nur beim Mißbrauch staatlicher Machtbefugnisse, sondern auch in Fällen mafiaähnlich organisierten Verbrechens in Betracht kommen, bei denen der räumliche, zeitliche und hierarchische Abstand zwischen der die Befehle verantwortenden Organisationsspitze und den unmittelbar Handelnden gegen arbeitsteilige Mittäterschaft spricht. Auch das Problem der Verantwortlichkeit beim Betrieb wirtschaftlicher Unternehmen läßt sich so lösen. Darüber hinaus kommt eine so verstandene mittelbare Täterschaft auch in den Fällen in Betracht, in denen, wie in dem der Entscheidung BGHSt 3, 110 zugrundeliegenden Sachverhalt, der Täter bewußt einen rechtswidrig handelnden Staatsapparat für die Verfolgung eigener Ziele ausnutzt.
Auf die im Einzelfall möglicherweise nur schwer zu beantwortende Frage der Gut- und Bösgläubigkeit des unmittelbar Handelnden kommt es bei dieser Lösung nicht an.
cc) Nach diesen Grundsätzen kann es nicht zweifelhaft sein, daß alle drei Angeklagten, auch A., in mittelbarer Täterschaft vorsätzlich getötet haben (§ 212 Abs. 1, § 25 Abs. 1 StGB). Es kann deshalb dahingestellt bleiben, ob die Angeklagten K. und S. auch aus § 33 WStG, § 258 StGB-DDR als Täter haften.
Die Angeklagten waren als Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrats Angehörige eines Gremiums, dessen Entscheidungen zwingende Voraussetzungen für die grundlegenden Befehle waren, auf denen das Grenzregime der DDR beruhte. Sie wußten, daß die auf den Beschlüssen des Nationalen Verteidigungsrats beruhenden Befehle ausgeführt wurden. Die Meldungen über die Opfer der Grenzverminung und des Schußbefehls lagen ihnen vor. Die Ausführenden der Handlungen, die unmittelbar zur Tötung führten, haben als Untergebene in einer militärischen Hierarchie gehandelt, in der ihre Rolle festgelegt war.
Die Angeklagten hatten auch nicht eine gegenüber Honecker ganz untergeordnete Rolle. Zwar mag die Macht Honeckers, der in seiner Person die wichtigsten Partei- und Staatsämter vereinigte, sehr groß gewesen sein. Auch die Angeklagten hatten indes in Partei und Staat bedeutende Ämter: K. wurde bereits nach Gründung der SED Mitglied des Parteivorstandes, später des Zentralkomitees, er war stellvertretender Minister für Nationale Verteidigung, Chef der zugleich dem Zentralkomitee unterstellten Politischen Hauptverwaltung der SED und schließlich Minister für Nationale Verteidigung. S. war seit 1981 Mitglied des Zentralkomitees der SED und übernahm bereits 1971 von Honecker das wichtige Amt des Sekretärs des Nationalen Verteidigungsrats. Er hatte hohe militärische Ämter inne. A. schließlich war seit 1963 Mitglied des Zentralkomitees der SED und wurde 1972 als Erster Sekretär der SED-Bezirksleitung Suhl Mitglied des Nationalen Verteidigungsrats. Seine Mitgliedschaft ist ein Beispiel dafür, wie das Gewicht der SED in staatlichen Organen Bedeutung erlangen sollte.
2. Die Frage, ob die Angeklagten sich mehrerer rechtlich selbständiger Taten schuldig gemacht haben oder ob, wie das Landgericht angenommen hat, nur eine Tat vorliegt, bestimmt sich nach § 52 StGB.
Daß die einzelnen Fälle der Tötung durch einen jeweils ganz individuellen Ablauf bei großem zeitlichen Abstand und örtlicher Verschiedenheit gekennzeichnet sind, so daß aus der Sicht des unmittelbar Handelnden eindeutig Tatmehrheit vorlag, stünde der Annahme von Tateinheit nicht entgegen. Für jeden Täter bestimmt sich das Konkurrenzverhalten ohne Rücksicht auf die Beurteilung bei anderen Tatbeteiligten nach den seinen eigenen Tatbeitrag betreffenden individuellen Gegebenheiten (vgl. BGHR StGB § 52 Abs. 1 Handlung, dieselbe 26; BGH bei Dallinger MDR 1968, 551; 1976, 14).
Gehandelt haben die Angeklagten im Sinne des § 52 StGB dadurch, daß sie an Entscheidungen des Nationalen Verteidigungsrats mitgewirkt haben, die anschließend durch den Minister für Nationale Verteidigung in Befehle umgesetzt wurden. Diese führten zur Tötung in den sieben den Gegenstand des Verfahrens bildenden Fällen.
Angesichts der wiederholten Mitwirkung der Angeklagten im Nationalen Verteidigungsrat und des teilweise erheblichen zeitlichen Abstands zwischen den Tötungshandlungen liegt die Wertung nahe, daß nur die Tötungen in Tateinheit zueinander stehen, die jeweils auf dieselbe vorangegangene letzte Entscheidung des Nationalen Verteidigungsrats zurückzuführen sind (vgl. BGH NJW 1969, 2056). Letztlich ausreichende Feststellungen hierzu vermag der Senat – anders als der Generalbundesanwalt – dem Urteil des Landgerichts indes nicht zu entnehmen. Der Senat kann den Urteilsgründen – auch aus ihrem Zusammenhang – insbesondere nicht sicher entnehmen, wann die jeweiligen Beschlüsse des Nationalen Verteidigungsrats in Befehle umgesetzt bei den Grenzsoldaten „ankamen“.
Bei dieser Sachlage wären weitere Feststellungen dazu, ob einzelne Tötungen in Tatmehrheit zueinander stehen, nicht ohne erhebliche und unverhältnismäßige Verfahrensverzögerung zu erwarten, die – auch bei Berücksichtigung des Alters der Angeklagten – mit der Verwirklichung der Strafzwecke nicht vereinbar wäre. Angesichts dessen beläßt es der Senat bei der für sich rechtlich nicht ausgeschlossenen, für die Angeklagten günstigeren Annahme einer rechtlichen Handlung (vgl. auch BGHR StPO § 354 Abs. 1 Sachentscheidung 2, 3; Strafausspruch 4). Dabei hat der Senat auch erwogen, daß das Maß der Schuld, soweit es durch die Mehrzahl getöteter Menschen bestimmt wird, auch im Rahmen tateinheitlicher Aburteilung ein wesentliches Strafzumessungskriterium bildet. Dies hat das Landgericht nicht außer acht gelassen. Die unterschiedliche rechtliche Beurteilung des Konkurrenzverhältnisses bei unverändertem Schuldumfang kann hier kein maßgebliches Kriterium für die Strafzumessung sein (vgl. BGHSt 40, 138, 162 – Großer Senat für Strafsachen). Verjährung einzelner Taten wäre auch bei Tatmehrheit nicht eingetreten (§ 82 Abs. 1, § 112 StGB-DDR i.V.m. Art. 315 a EGStGB; vgl. auch BGH NStZ 1994, 330; BGH MDR 1994,704).
3. Der Senat kann den Schuldspruch selbst ändern. § 265 StPO steht nicht entgegen, da bereits die Anklage von Täterschaft der Angeklagten ausgegangen ist.
II. Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten hat die sachlich-rechtliche Überprüfung nicht aufgedeckt. Die Verfahrensrügen der Angeklagten sind unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
Zur Frage der Zulässigkeit der Besetzungsrügen merkt der Senat lediglich folgendes an:
Der Generalbundesanwalt hat bereits in seiner Antragsschrift darauf hingewiesen, daß die von allen Angeklagten erhobenen Rügen, die Zuständigkeit und Besetzung der erkennenden Strafkammer sei gesetzwidrig manipuliert worden, deshalb unzulässig sind, weil die Beschwerdeführer die bei den Akten befindliche Stellungnahme des Präsidenten des Landgerichts als Vorsitzenden des Präsidiums zu den Gründen der beanstandeten Änderung des Geschäftsverteilungsplans nicht mitgeteilt haben.
Eine solche Änderung des Geschäftsverteilungsplans während des Geschäftsjahres kann gesetzwidrig sein, wenn Gründe nach § 21 e Abs. 3 GVG nicht vorliegen oder sachfremde Gesichtspunkte die Entscheidung des Präsidiums bestimmen. Trägt der Beschwerdeführer in einem solchen Fall die Gründe nicht vor, die das Präsidium nach der Stellungnahme seines Vorsitzenden zu der Änderung der Geschäftsverteilung veranlaßt haben, und behauptet er lediglich die Willkürlichkeit der Maßnahme, fehlt es nicht nur an der Mitteilung entscheidungserheblicher Tatsachen. Der Beschwerdeführer entzieht durch einen derart lückenhaften Vortrag seiner Behauptung, die Maßnahme sei gesetzwidrig, den Boden, weil er sich mit den gegen seine Behauptung sprechenden Umständen nicht auseinandersetzen muß. Dies macht die Rügen unzulässig (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO).
dokumentiert aus BGHSt 40, 219
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