»Das Gerede vom Staatsbankrott lenkt ab«.

TP-Gespräch mit Jan Priewe über die Verschuldung der BRD, die Kosten der Vereinigung, die Verwertung des DDR-Vermögens und die Ursachen der wirtschaftlichen Rezession

Interview: Dietmar Jochum, TP Berlin

* Jan Priewe ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Fachhochschule für Technik und Wirtschaft (FHTW) in Berlin. Er ist Autor der Bücher »Der Preis der Einheit« (1991), »Nach dem Fehlstart – Perspektiven der deutschen Einigung« (1994) und »Ostdeutschland 2010 – Perspektiven der Investitionstätigkeit« (2002).

F: Wie hoch schätzen Sie die Verschuldung der Bundesrepublik ein?

Im Jahr 2003 beträgt der von den großen Konjunkturforschungsinstituten geschätzte Schuldenstand aller öffentlichen Haushalte 63,9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP), in absoluten Zahlen sind das 1,362 Billionen Euro. Von den Schulden entfallen etwa 62 Prozent auf den Bund, knapp 30 Prozent auf die Länder und acht Prozent auf die Gemeinden. Bezogen auf das Bruttoinlandsprodukt liegt die deutsche Staatsverschuldung unter dem Durchschnitt des Euroraums (70,2 Prozent 2003), leicht über dem Wert in den USA und massiv unter dem Stand in Japan (143 Prozent 2002). Je Einwohner beträgt die deutsche Staatsverschuldung etwa 16 540 Euro.

In der öffentlichen Diskussion dominiert die Defizitquote, die im Maastricht-Vertrag mit drei Prozent des BIP als Regelwert vorgeschrieben ist. In Deutschland liegt die Nettoneuverschuldung – der Überschuß der Ausgaben über den Einnahmen – in allen öffentlichen Haushalten bei etwa vier Prozent 2003. In absoluten Zahlen sind das 85,2 Milliarden Euro. Im Rezessionsjahr 1975 lag das Haushaltsdefizit mit 5,4 Prozent auf dem Höchststand der Nachkriegszeit, im Rezessionsjahr 1981 bei 4,3 Prozent. Da wir seit 2001 eine Stagnation in Deutschland haben, wirkt dies auf die öffentlichen Haushalte wie eine schwere Rezession: die Einnahmen brechen weg, die Ausgaben steigen rezessionsbedingt an, trotz Kürzungen in vielen Bereichen. Hinzu kommt, daß die Steuerpolitik auf massive Steuerentlastungen gesetzt und dazu einige dilettantische Steuergesetze beschlossen hat (z.B. Körperschaftssteuer!), während gleichzeitig die Ausgaben nicht in gleichem Maße abgesenkt wurden.

F: Gibt es Anlaß zu Besorgnis?

In Wirklichkeit ist die Staatsverschuldung in Deutschland nicht allzu dramatisch. Sie bewirkt keine Inflation, sie treibt nicht die Zinssätze hoch, wie manche behaupten, sie führt nicht zum Staatsbankrott. Allerdings müssen die öffentlichen Haushalte im Durchschnitt etwa 13 Prozent ihrer Ausgaben für Zinsen aufwenden (2002), das sind fast 3,5 Prozent des BIP. Gäbe es keine – oder eine geringere – Staatsverschuldung, müßten die Steuern höher sein, um die diejenigen Ausgaben zu finanzieren, die ansonsten mit Kredit finanziert werden.

F: Inwieweit ist die spätere Generation noch von der Verschuldung betroffen?

Im Durchschnitt der öffentlichen Haushalte steigt die Zinslast nicht trendmäßig dramatisch an, jedenfalls nicht seit Mitte der 90er Jahre. Zu den medialen Legenden gehört die Behauptung, die Schulden müßten von der zukünftigen Generation bezahlt werden. Denn es werden auch die Forderungen an den Staat an die Jungen vererbt. So zahlen die gegenwärtigen wie die zukünftigen Steuerzahler für die Zinsen auf die Staatsschuld, aber sie bekommen auch die Zinsen. Allerdings sind Zahler und Empfänger nicht unbedingt die gleichen Personen. Die Verteilungswirkungen der Staatsverschuldung sind höchst vertrackt und schwer ermittelbar.

F: Ist das derzeitige Defizit auf die Vereinigung und die damit verbundenen Folgekosten zurückzuführen?

Eine genaue Zurechnung ist nicht möglich. Allerdings kann man den größten Teil der nahezu verdoppelten Staatsschulden zwischen 1990 und 1995 auf die Vereinigung zurückführen. Die Schuldenstandsquote (Schulden in Prozent des BIP) stieg von etwa 40 Prozent 1990 auf 60 Prozent 1995. Zudem setzte 1992/93 eine Rezession ein, die auch zu »normaler« konjunkturbedingter Kreditaufnahme führte. Seit Mitte der 90er Jahre hatte der leichte Anstieg der Schuldenstandsquote überwiegend konjunkturelle Gründe. Unmittelbar der deutschen Einheit zurechenbar ist der Schuldenstand des Fonds Deutsche Einheit/Entschädigungsfonds (ca. 40 Milliarden Euro 2002) und der Kreditabwicklungsfonds/Erblastentilgungsfonds (151 Milliarden Euro 1999). Zusammen machen diese Schulden 14 Prozent des derzeitigen Schuldenstandes aus.

Die deutsche Vereinigung wurde in den ersten fünf Jahren zu einem zu großen Anteil durch Verschuldung finanziert. Allerdings muß man sehen, daß die große Masse der einigungsbedingten Ausgaben vorübergehender Natur war und ohne Zweifel kreditfinanziert werden mußte. Zur Finanzierung der Schulden hätte man aber die Steuern früher und stärker erhöhen müssen.

Die Folgekosten der deutschen Vereinigung werden grob auf rund 75 Milliarden Euro jährlich geschätzt. Das sind 3,5 bis vier Prozent des deutschen Bruttoinlandsprodukts. Darin ist der Zinslastanstieg wegen der vereinigungsbedingt angestiegenen Staatsverschuldung nicht enthalten (etwa 20 Milliarden Euro jährlich), so daß die tatsächlichen jährlichen Kosten bei nahezu fünf Prozent des BIP liegen. Der überwiegende Teil der 75 Milliarden fließt den Menschen in den Ostländern über die Sozialversicherungen zu, hinzu kommt der Finanzausgleich über den Länderfinanzausgleich. Außerdem geht ein großer Teil der Ausgaben des Bundes an die neuen Länder bzw. ist durch die Vereinigung bedingt.

F: Sind wir mit der derzeitigen Verschuldung auf dem Weg in den Staatsbankrott?

Warum sollten wir? Kapital und Kapitalismus beruhen auf Kredit. Auch der Staat tut gut daran, wenn er sich des Kredits auf kluge Weise bedient. Staatsbankrott tritt ein, wenn der Staat seine Schulden nicht mehr bezahlen kann. Der Staat in Deutschland gilt bei den Banken als erstklassiger Schuldner, wird mit AAA ge-rated, zumal er bislang immer seine Schulden gut bedient hat. Schließlich kann der Staat ja die Steuern erhöhen und die Ausgaben senken! Das linke wie rechte Gerede vom drohenden Staatsbankrott lenkt nur von den wirklichen ökonomischen Problemen ab: wirtschaftliche Stagnation und extreme Arbeitslosigkeit, Demontage des Sozialstaats, ungleicher werdende Einkommens- und Vermögensverteilung.

F: Sehen Sie in der derzeitigen Staatsverschuldung nicht dennoch ein Problem?

Staatsverschuldung wird nur dann zu einem ernsthaften ökonomischen Problem, wenn sie inflationär wirkt, wenn sie die Zinssätze hochtreibt oder wenn die Schuldenlast permanent relativ zum Volkseinkommen steigt. Die Drei-Prozent-Marge von Maastricht beruht auf willkürlichen Annahmen, ebenso das 60-Prozent-Limit beim Schuldenstand. Nicht besonders sinnvoll – derzeit sogar ausgesprochen schädlich – ist die Forderung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes nach einem ausgeglichenen Haushalt. Knapp gesagt, berechtigt ist staatliche Kreditaufnahme zur Finanzierung von Investitionen sowie vorübergehend zur Abfederung konjunktureller Einbrüche. Laufende Ausgaben sollten – abgesehen von konjunkturellen Notsituationen – durch Steuern finanziert werden. In Wachstumsphasen sollte dagegen konsolidiert werden.

F: Wäre das Staatsdefizit bei richtiger Be- und Verwertung des DDR-Volksvermögens erheblich zu reduzieren gewesen?

Was ist denn hier die »richtige« Bewertung und Verwertung? Es läßt sich schwer nachweisen, die Treuhand hätte das sogenannte Volksvermögen generell »unter Wert« verscherbelt.

F: Wird jedenfalls von vielen Seiten behauptet.

Bei solchen Behauptungen wird meist verkannt, wonach sich der Wert von Vermögensgegenständen unter marktwirtschaftlichen Bedingungen bemißt: nach dem Gegenwartswert zukünftiger – also erwarteter – Gewinne, wobei die Erwartungen der potentiellen Investoren der Maßstab sind. Natürlich sind da große Unsicherheiten drin. Unter den Bedingungen, unter denen die Vereinigung schockartig zustande kam, war eine wesentlich höhere Vermögensbewertung kaum realistisch. Fabriken, in denen unter einem ganz anderen System ein Jahr zuvor noch große Mengen an Gütern produziert worden waren, konnten plötzlich einen negativen Vermögenswert darstellen. Sie sind kein »Kapital« geworden, die Transformation hat nicht geklappt. Im Einzelfall hat die Treuhand sicherlich Vermögen zu billig weggegeben, in anderen Fällen aber auch zu teuer. Vor allem aber hat sie – so meine Kritik – mehr stillgelegt als notwendig war. Mit gezielter Industriepolitik, die freilich auch mehr öffentliches Geld gekostet hätte, hätte sie mehr erhalten können. Das wäre letztlich billiger gekommen als die permanente Zahlung sehr hoher sozialer Folgekosten.

F: Hätte eine mehr an der tatsächlichen Produktivität orientierte Tarifpolitik im Osten zu mehr Wachstum und weniger Arbeitslosigkeit geführt?

In den ersten Jahren der Vereinigung sind die Löhne im Osten viel schneller als die Produktivität gestiegen, die ja anfangs noch auf dem Niveau von 30 Prozent West lag. Eine produktivitätsorientierte Lohnpolitik hätte vermutlich zu wesentlich höherer Abwanderung geführt, denn in einem gesamtdeutschen Arbeitsmarkt sind Reallohndifferenzen von 1:3 oder 1:2 kaum möglich. Zwar hätte der Staat massive Lohnsubventionen gewähren können, aber dies wäre sehr teuer geworden und hätte die Modernisierung und Umstellung der Ostfirmen eher verlangsamt. Auch wenn eine lehrbuchgerechte produktivitätsorientierte Lohnpolitik anfänglich unrealistisch war, hätte man doch die Angleichung stärker strecken können. Die Korrektur der Angleichungspläne kam ja erst, als man die eingetretene Deindustrialisierung mit eigenen Augen besichtigen konnte.

F: Gibt es überhaupt Zusammenhänge zwischen Vereinigung und Wachstumsschwäche in der BRD, nunmehr aber auch in Europa?

Die Zusammenhänge sind eher indirekt, aber durchaus da. Gleichwohl halte ich sie nicht für die entscheidenden Gründe der deutschen Wachstumsschwäche in den letzten drei Jahren. Zum einen wächst die ostdeutsche Wirtschaft seit 1998 noch langsamer als die langsam wachsende westdeutsche Wirtschaft. Dies hat mit den Folgen der Deindustrialisierung und den anderen Strukturschwächen im Osten zu tun. Zweitens absorbieren die Folgekosten der deutschen Einheit viel öffentliches Geld, das nun für Zukunftsausgaben fehlt – solange man an der Politik der Abgabensenkung, ein neoliberaler Imperativ, festhält. Drittens blieb die westdeutsche Lohnentwicklung hinter dem Produktivitätsanstieg zurück, wodurch deflationäre Gefahren drohen oder die Kaufkraft der Masse der Menschen beeinträchtigt wird. Diese Entwicklung ist auch Resultat der im Osten doppelt so hohen Arbeitslosigkeit, die die gewerkschaftliche Handlungskraft schwächt.

F: Ein Großteil der Transferleistungen in die ehemalige DDR ist, wie Sie selbst feststellten, über die Sozialversicherungssysteme abgewickelt worden. Das hob die Arbeitskosten drastisch an und droht nunmehr die Systeme zu sprengen. Welche Alternativen hätte es gegeben, und zu welchen Auswirkungen hätten diese geführt?

Die Arbeitskosten insgesamt (Löhne und sämtliche Lohnnebenkosten) sind keineswegs drastisch angestiegen, abgesehen von der Periode 1990 bis 94 in den neuen Ländern. Die steigenden Sozialbeiträge gingen in Westdeutschland ja im wesentlichen auf Kosten der an die Arbeitnehmer ausgezahlten Löhne. Die deutschen Lohnstückkosten – das Verhältnis von Nominallohn (einschließlich Lohnnebenkosten) zu Produktivität – sind im internationalen Vergleich langsamer als in den meisten anderen Ländern gestiegen, wenn man Wechselkursänderungen ausklammert. Die Tatsache, daß Deutschland trotz harter Weltmarktkonkurrenz eine blendende Exportposition hat, zeigt: Wir haben kein Arbeitskostenproblem in (West-)Deutschland.

Was hätte man besser machen können? Man hätte die sogenannten sozialversicherungsfremden Leistungen steuerfinanzieren können. Das hätte den Anstieg der Lohnnebenkosten gedämpft und eine gerechtere Finanzierung über das Steuersystem ermöglicht. Der wesentliche Vorteil dieser Finanzierungsart wäre aber verteilungspolitischer Natur. Es ist einer der weit verbreiteten Irrtümer, daß die hohen Lohnnebenkosten schuld an der Arbeitslosigkeit seien. Weder die Lohnkosten insgesamt noch die Lohnnebenkosten haben langsames Wirtschaftswachstum und Stagnation verursacht (Ausnahme neue Länder). Man hätte zudem den erwähnten starken Arbeitskostenanstieg im Osten in den ersten Jahren nach der Einheit etwas dämpfen können, wenn man einen Teil der Lohnnebenkosten über den Steuerhaushalt finanziert hätte.

F: Sind Strukturreformen für die sozialen Sicherungssysteme nötig?

Der entscheidende Sprengsatz für die sozialen Sicherungssysteme ist das ausbleibende Wirtschaftswachstum – 1,5 Prozent pro anno 1991 bis 2001 (3,3 Prozent in den USA im gleichen Zeitraum!), im Durchschnitt 2001 bis 2003 ganze 0,3 Prozent jährlich. Da lassen sich die Sozialsysteme nur aufrechterhalten, wenn man mehr umverteilt. So viel Solidarität bringt die Gesellschaft offenbar nicht auf, und der größte Teil der politischen Klasse steht auf mehr Wettbewerb und weniger Solidarität, einschließlich der verschröderten SPD und den verfischerten Grünen. Daß darüber hinaus die sozialen Sicherungssysteme echte Strukturreformen brauchen, steht auf einem anderen Blatt. Im übrigen gilt dies nicht nur für die sozialen Sicherungssysteme, sondern auch für alle möglichen anderen Bereiche (Bildungssystem, Steuersystem, Subventionspolitik, europäische Integration etc.).

Die durch die Vereinigung gestiegenen Soziallasten kommen denjenigen gerade recht, die immer schon die Unbezahlbarkeit der Sozialsysteme gepredigt hatten und den deutschen Sozialstaat auf internationales Normalmaß – Meßlatte USA und Großbritannien – zurückbauen wollten. Anders formuliert: Die hohen deutschen Einigungskosten, samt Folgekosten, wären nur ohne gravierende Einschnitte bezahlbar gewesen, wenn wir einen sozialpolitischen Quantensprung in Richtung auf skandinavisches Niveau vollbracht hätten. Daß dies zwangsläufig zu weniger Wirtschaftswachstum führe, wird zwar landauf, landab behauptet, ist aber einfach unzutreffend.

F: Warum dümpelt die deutsche Wirtschaft so vor sich hin?

Entscheidend für den Wachstumsverlust der deutschen Wirtschaft ist der mangelnde Wille, eine vernünftige makroökonomische Politik zu betreiben. Erst brach die deutsche Bundesbank 1991 durch überzogene Geldpolitik eine Rezession vom Zaun, dann folgte eine zu zögerliche, nur ganz leicht expansive Geldpolitik, von Angst vor jedem Promille Inflation getrieben; in Vorbereitung auf die europäische Währungsunion setzte eine fast ständig restriktive Fiskalpolitik ein, die das Wachstum bremste und dadurch ungewollte Defizite anhäufte, die dann zu noch mehr Restriktion führten. Im Vergleich zu den USA verfolgt Europa eine ziemlich dilettantische Makropolitik. Als erstrangiges Wachstumshemmnis erweist sich die neoliberale Fehldiagnose, der vermeintlich überregulierte Arbeitsmarkt, die Lohnnebenkosten und zu hohe Steuern seien der Kern des Problems. Die Équipe Clement/Eichel/Schröder personifiziert diese Variante des sozialdemokratischen Neoliberalismus.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.

*