Das grundlegende Element des Rechtsstaates ist die Rechtssicherheit.

TP-Interview mit dem Generalstaatsanwalt der Republik Ungarn, Kálmán Györgyi.

TP: Herr Györgyi, in Deutschland finden viele Prozesse gegen z.B. Funktionsträger der ehemaligen DDR, auch gegen Grenzsoldaten und Generäle, aber auch gegen Richter und Staatsanwälte des SED-Regimes statt. Es wurden auch sehr viele Ermittlungsverfahren geführt bei den Staatsanwaltschaften, wenn es auch nur bei einem gewissen Prozentanteil zu einer Verurteilung gekommen ist. Es wird nun hier von den vor Gericht stehenden Angeklagten behauptet, daß nirgendwo so maßlos mit dem Strafrecht umgegangen wird wie in Deutschland. Ist das in Ungarn nicht so? Wird in Ungarn z.B. den Funktionsträgern des ehemaligen kommunistischen Regimes Absolution erteilt, versöhnt man sich bei Ihnen in Ungarn eher mit ihnen?

Györgyi: Zunächst möchte ich die zweite Frage beantworten. In Ungarn wurde selbstverständlich niemandem Absolution erteilt. Im rechtlichen Sinne kann man Absolution in der Form eines Amnestiegesetzes erteilen. Und ein solches Gesetz wurde bei uns nicht erlassen. Zwar wurde im Jahre 1990, unmittelbar nach den freien Parlamentswahlen, im Frühsommer 1990, ein Amnestiegesetz erlassen, es hatte aber nicht die kriminalpolitische oder politische Funktion, ehemaligen kommunistischen Funktionsträgern Straffreiheit zu gewähren. Es wurde also keine Absolution erteilt. Dann zu diesen Behauptungen von ehemaligen Funktionsträgern der ehemaligen DDR: Was sie vor Gericht sagen, das ist ihre Sache. Und auf diese Behauptungen zu reagieren, ist Aufgabe der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft in Deutschland. Da möchte ich mich nicht einmischen. Das ist eine innerdeutsche Angelegenheit. Aber ich habe seit 1990 mit großem Interesse verfolgt, was sich in Deutschland in diesem Bereich in der Gesetzgebung und in der Literatur in der Diskussion so abgespielt hat, obwohl die diesbezügliche Literatur fast unüberschaubar geworden ist. Wissen Sie, in Deutschland gibt es viele Wissenschaftler, viele Rechtszeitschriften und viele Publikationen zu diesem Thema. Das konnte ich eindeutig feststellen, weil ich auch an solchen wissenschaftlichen Veranstaltungen teilnehmen und dabei konstatieren konnte, daß nicht unerhebliche Meinungsverschiedenheiten in der Beurteilung der strafrechtlichen Vergangenheitsbewältigung zu Tage getreten sind. Ich konnte im Mai vorigen Jahres (1997) an einer Podiumsdiskussion an der Strafrechtslehrertagung in Berlin teilnehmen und ein Jahr davor an einer Tagung in Krakau, in Polen, die sich mit diesen Problemen beschäftigt haben. Der internationale Vergleich zeigt, daß verschiedene Methoden zur Verfügung stehen, Vergangenheit zu bewältigen. Und das muß nicht unbedingt das Strafrecht sein. Ich habe einen interessanten Beitrag eines südafrikanischen Kollegen gehört. Dort wurden sogenannte Wahrheitskommissionen eingesetzt, die eher eine politische und psychologische Verarbeitung der Vergangenheit ermöglicht haben. Und es ist bekannt, daß auch in Spanien ein Ausgleich zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Kräften zu Stande gebracht werden konnte. Es ist also eindeutig feststellbar, daß in Deutschland dem Strafrecht eine wichtige Rolle zukommt.

TP: Eine zu wichtige Rolle?

Györgyi: Eine wichtige Rolle.

TP: Sie würden also nicht sagen: Eine zu wichtige Rolle?

Györgyi: Also bitte schön, andere Länder wie z.B. Südafrika, Ungarn, Tschechien oder andere Länder im mittel- und osteuropäischen Raum waren nicht aufgeteilt in zwei Teile; diese besondere emotionelle Ladung bei der Lösung der Probleme in Deutschland hängt m.E. mit dieser einmaligen Situation Deutschlands zusammen. Bei der demokratischen Umwandlung oder bei der Wende wurde Ungarn nicht mit West-Ungarn wiedervereinigt. Also einmal die Teilung, dann die zwei souveränen Völkerrechtssubjekte und dann wieder eine Vereinigung, das erklärt einiges in Deutschland, und solche Erfahrungen konnten die Bürger von Tschechien, von der Slowakei oder von Ungarn nicht machen. Und ich denke, diese Trennung oder Teilung und dann Wiedervereinigung können auch eine Erklärung für diese besondere emotionelle Ladung beim Herangehen an die Lösung dieser Probleme geben. Ich habe einen interessanten Satz von einem ungarischen Kollegen gehört. Er ist Dozent an der Budapester Universität und daher ein Kollege von mir. Ich zitiere: „Das Ausmaß und die Intensität der Vergangenheitsbewältigung ist letzten Endes von der zu bewältigenden Vergangenheit abhängig.“ Das ist ein guter Satz, nicht wahr? Und in diesem Zusammenhang möchte ich darauf hinweisen, daß die deutschen Beobachter vielleicht geneigt sind, die Verhältnisse der ehemaligen DDR auch auf die anderen mittel- und osteuropäischen Länder zu übertragen oder zu extrapolieren, indem sie denken, daß die in der ehemaligen DDR gemachten Erfahrungen verallgemeinerbar sind für die damaligen Verhältnisse im mittel- und osteuropäischen Raum. Ich möchte nur eine meiner Beobachtungen mitteilen: Im geographischen Sinne war Ungarn für die DDR ein Land des Ostens, aber im politischen oder im ideologischen Sinne war das eher ein Land des Westens. Das kann ein jeder ehemaliger DDR-Wissenschaftler oder Jurist bestätigen. Das ist ganz eindeutig.

TP: In Deutschland werden die Prozesse hauptsächlich mit dem Argument geführt, den Opferinteressen Genüge zu tun. Gibt es in Ungarn nun ähnliche Bestrebungen und schafft man das mit der Herangehensweise, wie in Ungarn die Vergangenheit bewältigt wird?

Györgyi: Ich kenne aus der deutschen Literatur einen solchen Unterschied im Herangehen. Da wird einerseits gesagt, daß allgemeine Rechtsgüter oder allgemeine Werte nicht so sehr schutzbedürftig sind, dagegen aber die Interessen des Einzelnen. Eine solche Differenzierung ist mir in der ungarischen Diskussion nicht bekannt. Was die Straftaten betrifft, die im alten Regime begangen wurden, wurde in Ungarn vor allem die Aufarbeitung hinsichtlich der Straftaten im Zusammenhang mit der Niederschlagung der Oktoberrevolution von 1956 forciert. Und man hat wiederholt Versuche gemacht, die Bestrafung der Täter zu ermöglichen. Man hat angefangen eine ungarische Lösung, also eine Lösung aufgrund des nationalen Strafrechtes zu finden. Da war aber die Verjährung ein großes Problem, und der ungarische Gesetzgeber hat drei Versuche unternommen, im Rahmen des nationalen Rechtes eine Lösung zu finden. Diese Versuche scheiterten aber wiederholt. Das ungarische Verfassungsgericht hat diese Versuche für verfassungswidrig erklärt und im innerungarischen Bereich die absolute Geltung der Verjährung unterstrichen. Ich zitiere jetzt. Das ungarische Verfassungsgericht hat folgendes gesagt:

„- Die erneute Strafbarmachung bereits verjährter Straftaten ist verfassungswidrig,

– Die Verlängerung der gesetzlichen Verjährungszeit noch nicht verjährter Straftaten ist verfassungswidrig,

– Die gesetzliche Unterbrechung der Verjährungszeit noch nicht verjährter Straftaten ist verfassungswidrig,

– Die rückwirkende Festlegung eines Ruhens- oder Unterbrechungsgrundes durch das Gesetz ist verfassungswidrig,

– Hinsichtlich der Verjährung dürfen verfassungskonform keine Unterschiede danach gemacht werden, ob der Staat seinen Strafanspruch aus politischen oder sonstigen Gründen nicht geltend gemacht hat.“

Das ist interessant, weil sich die diesbezügliche deutsche gesetzliche Regelung von der ungarischen gravierend unterscheidet.

TP: Wird es von Ihnen als Strafverfolgungsbehörde nicht als unbefriedigend angesehen, daß das Verfassungsgericht derart eingegriffen hat?

Györgyi: Ich habe erwähnt, daß der ungarische Gesetzgeber wiederholt im Rahmen der nationalen Gesetzgebung eine Lösung finden wollte. Und erst nach Überprüfung dieser Gesetze gelangte das ungarische Verfassungsgericht zu dem Standpunkt, daß aufgrund des Völkerstrafrechts sehr wohl eine Bestrafung wegen Straftaten gegen die Menschlichkeit möglich ist. Und in diesem Bereich ist die Verjährung kein Hindernis der Bestrafung. Und aufgrund der Stellungnahmen des Verfassungsgerichtes wurden dann auch Strafverfahren eingeleitet.

TP: Ist die letzt genannte Entscheidung des ungarischen Verfassungsgerichtes ein Versuch auch dahingehend gewesen, das Rückwirkungsverbot zu unterlaufen?

Györgyi: Das würde ich nicht sagen. Aber wie gesagt, hat der ungarische Gesetzgeber wiederholt versucht, innerhalb der Grenzen des nationalen Strafrechts eine Bestrafung von Straftätern des alten Regimes zu ermöglichen. Aber das war nicht möglich, weil das ungarische Verfassungsgericht einen strengen rechtsstaatlichen Standpunkt in der Frage der Verjährung eingenommen hat. Die Entscheidung des Verfassungsgerichts hat zwei wichtige Aussagen gemacht. Die eine: Das grundlegende Element des Rechtsstaates ist die Rechtssicherheit. Die zweite: Ein Rechtsstaat kann nicht gegen den Rechtsstaat verwirklicht werden. Das klingt wohl schön, nicht wahr? Und das bezieht sich auf solche Regelungen, die mit der Lockerung oder Aufhebung der Verjährung operieren wollten. Und danach war eine solche gesetzliche Lösung, die dieses Hindernis beiseite schaffen wollte, nicht möglich. Aber auf der Grundlage der Genfer Abkommen war es dann doch möglich, Verfahren bei direkter Anwendbarkeit des Völkerstrafrechts gegen solche Personen einzuleiten, die Straftaten gegen das humanitäre Völkerrecht, Straftaten gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen begangen haben. Und auf Grund dieser Entscheidung des Verfassungsgerichts wurden in 37 Fällen die Ermittlungen angeordnet, aber in den meisten Fällen wurde das Verfahren wegen Mangels an Beweisen eingestellt.

TP: Um welche Verfahren handelte es sich?

Györgyi: Das waren solche Straftaten, wo es darum ging, daß auf die bürgerliche Bevölkerung geschossen wurde von Mitgliedern entweder der Arbeitermiliz oder zusammen mit russischen Soldaten, die damals Ungarn oder Teile Ungarn besetzt hielten.

TP: Gab es auch Verfahren gegen Funktionsträger des ehemaligen kommunistischen Regimes?

Györgyi: Gegen Funktionsträger des ehemaligen kommunistischen Regimes wurden keine Verfahren eingeleitet.

TP: Böswillige Zungen würden Ihnen nun vorwerfen, man hänge bei Ihnen in Ungarn die Kleinen und lasse die Großen laufen.

Györgyi: Also, ich denke, die strafrechtliche Verantwortlichkeit beruht auf den gesetzlichen Tatbeständen. Eine Gesinnung und die ehemalige politische Ethik bilden keine Grundlage der strafrechtlichen Verantwortlichkeit, sondern die Verwirklichung der Elemente eines gesetzlichen Tatbestandes. Das ist klar.

TP: In Deutschland hat man es geschafft, eine Befehlskette nachzuzeichnen, die oben bei den Politbüromitgliedern anfängt und unten beim einfachen Soldaten aufhört. Gab es in Ungarn ähnliche Bestrebungen durch die Gerichte?

Györgyi: Mir sind solche Überlegungen nicht bekannt. Bei uns hat dagegen dieses Problem, was in diesen Fällen angewendet werden darf – ungarisches Recht oder Völkerstrafrecht – eine solche Diskussion ausgelöst, weil in der ungarischen Verfassung folgendes steht:

Niemand darf wegen einer Handlung schuldig gesprochen und mit Strafe belegt werden, die zur Tatzeit nach ungarischem Recht keine Straftat war.

Aus dieser Vorschrift der Verfassung haben mehrere, auch ich, abgeleitet, daß die Voraussetzung einer Strafbarkeit ungarisches Recht ist und danach bildet nur das nationale Strafrecht die Grundlage der strafrechtlichen Verantwortlichkeit. Und Völkerstrafrecht kann nur durch Transformation von ungarischen Gerichten angewendet werden.

TP: Haben die Soldaten bzw. die Arbeitermiliz aus eigener Initiative auf die Bevölkerung geschossen? Gab es keinen politischen Zusammenhang, weil eben kein Funktionsträger bei Ihnen vor Gericht gestellt wurde?

Györgyi: Selbstverständlich können diejenigen, die den Befehl zum Schießen erteilt haben, strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden. Das heißt, die Vorschriften über Täterschaft und Teilnahme werden natürlich nicht außer Kraft gesetzt. Strafbar ist demnach nicht nur derjenige, der geschossen hat, sondern auch der, der den Schießbefehl erteilt hat. Aber ob weitere Zusammenhänge strafrechtlich relevant festgestellt werden können, z.B. eine politische Ideologie, das kann strafrechtlich nicht erfaßt werden.

TP: Wird man durch die Art, wie man in Ungarn die Vergangenheit bewältigt, den Opferinteressen gerecht?

Györgyi: In Ungarn wurde großer Wert darauf gelegt, daß die negativen Auswirkungen des alten Regimes beseitigt werden. Einerseits wurden die Verurteilungen im alten Regime für nichtig erklärt. Es gab drei sogenannter Nichtigkeitsgesetze, die die Verurteilungen im alten Regime für nichtig erklärt haben. Andererseits gab es eine Gesetzgebung über die Entschädigung und Wiedergutmachung der Folgen rechtswidriger Verurteilungen. Und das finde ich positiv, daß für ungerechtfertigte Freiheitsentziehungen, beispielsweise für verbüßte Straftaten und Todesstrafen für die Hinterbliebenen eine Entschädigung gezahlt wurde. Bei der Vergangenheitsbewältigung hat man versucht, das Gewicht auf die Entschädigung, also Wiedergutmachung gelegt und nicht so sehr auf Vergeltung.

TP: Politisch gab es da keine Probleme?

Györgyi: Selbstverständlich hatte man darüber viel diskutiert und die verschiedenen politischen Parteien haben das unterschiedlich beurteilt. Man hat auch in der Strafrechtsliteratur viel darüber diskutiert. Aber soweit ich das jetzt sehe, ist das zur Zeit kein aktuelles Thema.

TP: Wann werden alle Verfahren in Ungarn abgeschlossen sein?

Györgyi: Zu einer rechtskräftigen Verurteilung ist es in Ungarn bis jetzt in einer einzigen Sache gekommen. Dort wurden insgesamt drei Personen zu nicht hohen Freiheitsstrafen verurteilt. Weitere fünf Verfahren sind noch anhängig.

TP: Wird das von der Bevölkerung akzeptiert?

Györgyi: Wenn ich mir die heutigen Tageszeitungen in Ungarn anschaue, dann kann ich nicht sagen, daß das in Ungarn ein höchst aktuelles Thema ist. Damit beschäftigt sich die Bevölkerung nur in einem bescheidenen Maße. Da ist einerseits der große zeitliche Abstand, andererseits beschäftigt die ungarische Bevölkerung vor allem die Arbeitslosigkeit, wirtschaftliche Probleme und der Wahlkampf zu den nächsten Parlamentswahlen wird auch schon eingeleitet.

TP: Der Blick wird also nach vorne gerichtet und nicht nach hinten?

Györgyi: So könnte man das sagen. Diese sogenannte positive Vergangenheitsbewältigung finde ich korrekt. Die rechtliche Vernichtung von ungerechten oder gesetzwidrigen Verurteilungen im alten Regime finde ich eindeutig positiv, auch die Entschädigungen, die für die Leidtragenden und Hinterbliebenen gezahlt wurden.

TP: Kann man auch, wenn man es im übertragenen Sinne ausdrücken will, sagen, durch Geld kann man heute auch Vergangenheit bewältigen?

Györgyi: Also das ist eine zynische Formulierung. Aber Leute, die tatsächlich in schwierigen Situationen sind, für die kann das Geld einfach Überleben bedeuten. Dann klingt das nicht so zynisch.

TP: Dann dürfte das Wort von einer „Siegerjustiz“ bei Ihnen in Ungarn auch kein Thema sein?

Györgyi: Bei der demokratischen Umwandlung Ungarns hat die Demokratie gesiegt, ich würde sagen, das ungarische Volk gesiegt. Ich könnte nicht sagen, daß ein Teil Sieger geworden ist und ein anderer Teil Verlierer.

TP: Demzufolge auch keine dahingehenden Vorwürfe bei Ihnen von Personen, die vor Gericht stehen, daß eine Siegerjustiz stattfindet?

Györgyi: Also dieses Wort wurde in den vergangenen zehn Jahren in Ungarn nicht verwendet.

TP: Ist der Ausdruck mehr eine deutsche Wortschöpfung?

Györgyi: Nein, das hängt mit dieser besonderen historischen Situation, mit der Teilung und der Wiedervereinigung Deutschlands zusammen. So sehe ich das als Ausländer.

Interview: Dietmar Jochum, TP Berlin

Eine Antwort

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.

*