Das Unrechtsbewußtsein verliert sich nach ein paar Jahren.

TP-Interview mit der Nebenklägerin Ilse Leopold und Rechtsanwalt Alexander A. Wendt.

TP: Frau Leopold, warum sind Sie im Politbüroprozeß Nebenklägerin?

Leopold: Der Fall 20 der Anklageschrift betrifft meinen ehemaligen Verlobten Christian Buttkus. Ich war zuerst Zuschauerin gewesen; als ich dann im Zuschauerraum festgestellt habe, daß ich akustisch vieles nicht verstehe, habe ich dann beschlossen, Nebenklägerin zu werden. Außerdem habe ich als Nebenklägerin mehr Rechte als Zuschauerin.

TP: Sind Sie als Nebenklägerin zugelassen worden, weil ihr damaliger Verlobter an der Grenze zu Tode kam?

Leopold: Nein, ich bin zugelassen worden, weil ich selber verletzt wurde.

TP: Steht das in der Anklageschrift?

Leopold: Nein, in der Anklageschrift steht das nicht. Das ergibt sich erst aus der Begründung zur Zulassung der Nebenklage.

TP: Was ist mit Ihnen passiert, wie kam es dazu, daß Sie verletzt wurden?

Leopold: Mein Verlobter hatte den Einberufungsbefehl zur Armee bekommen, und wir hatten eigentlich vorher schon geplant abzuhauen; wir hatten auch schon Tauchgeräte gebaut, aber die waren noch nicht erprobt. Dann kam also dieser Einberufungsbefehl, und mein Verlobter wollte auf keinen Fall bei dieser Armee dienen.

TP: War das der Anlaß, aus der DDR zu fliehen?

Leopold: Ja, das war der Anlaß.

TP: Und weil Sie miteinander verlobt waren, hatten Sie beschlossen, zusammen abzuhauen?

Leopold: Ja, wir wollten zusammen abhauen.

TP: Gab’s noch andere Gründe?

Leopold: Ja, es gab noch andere Gründe: Wir waren beide nicht einverstanden mit dem System. Wir hatten das Leben vor uns. Die verlogene Moral, die da von dem Kurt Hager verbreitet wurde, waren wir irgendwie satt. Wir wollten ein besseres Leben.

TP: Über welche Grenzübergangsstelle wollten Sie dann flüchten und was ist dann passiert?

Leopold: Wir wollten von Klein-Machnow aus in Richtung Autobahn flüchten. Bei der Flucht habe ich ein Leuchtsignal ausgelöst, so daß wir entdeckt wurden. Daraufhin wurden insgesamt etwa zweihundert Schuß auf uns abgefeuert.

TP: War Ihr Verlobter sofort tot?

Leopold: Als ich später medizinisch versorgt wurde, hat mir einer zugeflüstert, daß er tot ist.

TP: Inwiefern waren Sie verletzt?

Leopold: Ich hatte einen Streifschuß am linken Unterschenkel.

TP: Also viel Glück gehabt.

Leopold: Wenn Sie so wollen – ja.

TP: Frau Leopold, was erwarten Sie konkret von der Nebenklage? Die Staatsanwaltschaft hat ja Anklage erhoben und das Gericht die Anklage sogar verschärft. Reicht das im Prinzip nicht aus? Oder erwarten Sie von der Nebenklage eigentlich mehr?

Leopold: Als Nebenklägerin habe ich die Möglichkeit, auch ergänzend in das Verfahren einzugreifen.

TP: Herr Wendt, könnten Sie mal erklären, wie ein Nebenkläger ergänzend in das Verfahren eingreifen kann?

Wendt: Es gibt zunächst zahlreiche prozessuale Rechte der Nebenklägerschaft; diese sind durchaus denen der Staatsanwaltschaft nicht unähnlich. Neben der Befugnis bei jeder Gelegenheit am Verfahren teilzunehmen und hierbei beispielsweise Fragen an die Zeugen zu stellen, besteht vor allem ein selbständiges Beweisantragsrecht; wichtig ist weiterhin das Rechtsmittelrecht im Anschluß an das Urteil; soweit letzteres nach Auffassung des Nebenklägers in der Sache unzutreffend ist, kann er dagegen mit Rechtsmitteln vorgehen, sofern diese Rechtsmittel allerdings nicht darauf gerichtet sind, lediglich die Rechtsfolge zu verändern. Das heißt, eine Berufung oder eine Revision ist unzulässig, wenn sie lediglich darauf gerichtet ist, daß das Strafmaß zu milde ausgefallen sei.
Weiterhin darf das Rechtsmittel nicht eingelegt werden mit dem Ziel, eine Verurteilung für Tatbestände zu erreichen, die gar nicht zur Nebenklage berechtigen. Es gibt einen Katalog, der Tatbestände aufführt, die zur Nebenklage berechtigen, und natürlich nur solche können geltend gemacht werden.
Zulässig ist das eingelegte Rechtsmittel demgegenüber mit dem Ziel, daß ein falsches Urteil ausgesprochen worden sei, weil die falschen Tatbestände festgestellt worden sind.

TP: Hier steht ja die Nebenklageberechtigung außer Zweifel.

Wendt: Sie steht außer Zweifel, weil Frau Leopold selbst Verletzte ist.

TP: Von den Verteidigern in diesem Verfahren wird das Rückwirkungsverbot angeführt als Argument dafür, daß die Angeklagten sich nicht strafbar gemacht haben bzw. nicht verurteilt werden dürfen. Sind die Argumente der Verteidigung nicht nur aus der Luft gegriffen?

Wendt: Das Rückwirkungsverbot beansprucht in der Tat Geltung als fundamentales Element des Rechtsstaatsprinzips. Andererseits ist hier vielleicht auch eine rechtsphilosophische Frage berührt, nämlich die zwischen schlichtem Rechtspositivismus einerseits und dem Recht andererseits, welches über dem formellen Recht steht – Naturrecht beispielsweise…

Leopold: Recht auf Leben und Gesundheit…

Wendt: … sowie das Recht auf Freiheit; es gibt dann eben auch Rechte, die vielleicht über diesem Rückwirkungsverbot stehen. Dieses ist ein Teil des ständigen Streits bei diesem Prozeß sowie der anderen Prozesse, die davor stattgefunden haben. Dieser kann hier nicht formal oder mit einem Satz beantwortet werden. Vieles hängt auch von der Situation ab, in der man sich befindet, wenn man an diesem Prozeß teilnimmt. Als Verteidiger muß man natürlich die Frage des Rückwirkungsverbotes aufwerfen. Das ist ganz selbstverständlich. Als Nebenklägervertreter ist die Interessensrichtung natürlich eine andere.

TP: Frau Leopold, angenommen, das Bundesverfassungsgericht sagt, das Rückwirkungsverbot sei verletzt und das Landgericht folgt dieser Auffassung, m.a.W. die Angeklagten würden freigesprochen – hätten Sie dafür Verständnis?

Leopold: Nein, dagegen würde ich protestieren. Meiner Meinung nach waren die Leute im Politbüro diejenigen, die die Fäden in der Hand hatten und die sollen sich ihrer Verantwortung auch stellen. Bis jetzt ist ja die Beweisaufnahme nicht abgeschlossen. Man kann ja nun vorher nicht sagen, was dabei herauskommt, aber einen Freispruch würde ich auf jeden Fall anfechten.

TP: Was ist damals nach Ihrer Flucht mit Ihnen passiert? Sind Sie eingesperrt worden?

Leopold: Ich bin eingesperrt worden und war erst mal sechs oder acht Wochen in Isolationshaft. Nach insgesamt drei Monaten U-Haft wurde ich zu zwanzig Monaten wegen Republikflucht und Devisenvergehens verurteilt (Frau Leopold wurde deswegen wegen Devisenvergehens verurteilt, weil sie die staatseigene DDR-Währung mit über die Grenze nehmen wollte, Anm. d. Interviewers).

TP: Haben Sie die zwanzig Monate voll abgesessen?

Leopold: Ich habe acht Monate abgesessen, der Rest wurde zur Bewährung ausgesetzt.

TP: Haben Sie das als Gnade vor Recht angesehen, als Sie nach acht Monaten entlassen wurden oder haben Sie eher gedacht: Gott sei Dank, endlich raus.

Leopold: Na gut, man sagt: Endlich raus; aber wenn ich sehe, daß andere freigekauft wurden, dann fand ich es schon ganz fies – was sollte ich jetzt mit so einem kaputten Leben anfangen?

TP: Wie alt waren Sie damals?

Leopold: Ich war damals fünfundzwanzig.

TP: Konnten Sie nach der U-Haft angemessen leben?

Leopold: Ich mußte mir erst mal eine Arbeit suchen, das war nicht so einfach. Aber ich habe dann eine Arbeitsstelle bekommen, wobei mir im Betrieb jemand eröffnete, daß er mein Bewährungshelfer sei. Aber ich wurde eigentlich in Ruhe gelassen. Ich bekam da meinen Fluchtversuch nicht zu spüren, jedenfalls nicht vordergründig.

TP: Sind Sie vor der Wende schon mal im Westen gewesen?

Leopold: Kurz vor der Maueröffnung 1989 hat man mir merkwürdigerweise gestattet, meine Schwester in Westberlin zu ihrem Geburtstag zu besuchen.

TP: Hatten Sie noch einmal eine Flucht versucht, nachdem der Fluchtversuch von 1965 gescheitert war?

Leopold: Nein, das habe ich nicht mehr.

TP: Herr Wendt, macht sich die bundesdeutsche Justiz in Anbetracht der Tatsache, daß sie 1987 ein Straffreiheitsgesetz für Honecker erlassen hat, nicht unglaubwürdig, daß sie nach dem Zusammenbruch der DDR ihre politischen Funktionsträger vor Gericht stellt?

Wendt: Nein, der Ansicht bin ich nicht. Ich sehe das als eine politische Frage und möchte darauf dann auch politisch antworten. Es ist die Frage, inwieweit die Entspannungspolitik unter den damaligen Gegebenheiten richtig gewesen ist oder nicht. Ich selbst bin der Überzeugung, daß sie politisch richtig war.

TP: Auch bei der Entspannungspolitik hat man zugesehen, wie es Tote und Verletzte an Grenze und Mauer gegeben hat.

Wendt: Selbstverständlich, das war auch ein grauenhafter Zustand. Ich bin indes nicht der Ansicht, daß er von den Entspannungspolitikern dadurch gerechtfertigt wurde, indem mit den Größen der DDR-Führung Kontakt aufgenommen wurde. Auf diese Weise wurde versucht, zahlreiche Erleichterungen im innerdeutschen Verkehr sicherzustellen, was auch tatsächlich gelang. Natürlich kann ich Ihre Frage gut verstehen: Es hat etwas Heuchlerisches, auf der einen Seite Leute wie Honecker zu hofieren, auf der anderen Seite nunmehr über den Rest des Politbüros zu Gericht zu sitzen. Doch waren und sind in diesem Zusammenhang die Praktikabilitätserwägungen zu beachten. Meiner Ansicht nach hätte man mit einer Hardliner-Politik gegenüber der DDR, jedenfalls für die dort wohnende Bevölkerung, nur sehr wenig erreicht. Es ist stets die gleiche Frage, die sich im Zusammenhang „Kontakt mit totalitären Systemen“ stellt. Ist es günstig, diese durch Totalboykotte zu strafen, oder straft man damit letztlich nur ohnehin die leidtragende Bevölkerung?
Was den zweiten Teil der Frage betrifft, inwieweit es Sinn macht solche Prozesse zu führen, bin ich schon der Ansicht, daß man es weiten Teilen der Bevölkerung schuldig ist, ihnen zu zeigen, daß nicht einfach zur Tagesordnung übergegangen wird, sondern daß versucht wird – wenn auch gelegentlich auf untauglich erscheinende Art und Weise -, das DDR-Unrecht aufzuarbeiten.
Uns so ist es auch selbstverständlich, daß diese halbgreise Politbüromannschaft hier nicht die gerechte Strafe dafür erhalten wird, daß beispielsweise der Nebenklägerin 1965 ein so furchtbares Erlebnis widerfahren ist, durch welches – wie sie sagt – ihr Leben verpfuscht worden ist. Dafür kann und wird es hier keine Strafe geben. Das ist ganz klar und das darf man von solch einem Prozeß auch nicht erwarten. Es kann aber zumindest darum gehen, Hintergründe zu durchleuchten und auch zu zeigen, daß man sich mit ihnen nicht einverstanden erklärt. Auch wenn letzten Endes dann vielleicht notwendigerweise ein unbefriedigendes Ergebnis bleibt.

TP: Gäbe es bessere Möglichkeiten als das Strafrecht, mit dem sog. DDR-Unrecht fertig zu werden?

Wendt: Das bundesrepublikanische Recht zumindest sieht für solche Fälle nur das Strafrecht vor und politisch hat sich die ganze innerdeutsche Frage ohnehin als nunmehr obsolet erwiesen.

Leopold: Ich weiß, worauf Sie hinaus wollen. Sie wollen auf dieses Gericht in Den Haag hinaus, daß man das vor ein Kriegsgericht bringen könnte.

TP: Ich wollte eigentlich auf alternative Mittel zum Strafrecht hinaus.

Leopold: Die strafrechtliche Aufarbeitung ist ja nun erst mal notwendig. Ob sie nun etwas bringt, sei erst einmal dahingestellt. Da sollte man nicht zuviel erwarten. Aber es gibt natürlich auch die historische und die politische Aufarbeitung und der sollte sich meiner Meinung nach kein mündiger Bürger Deutschlands entziehen.

TP: Angenommen, Egon Krenz und Co. werden verurteilt und wandern ab in den Knast – Genugtuung für Sie? Und nur ab einem bestimmten Strafmaß?

Leopold: Mit dem Strafmaß habe ich so meine Schwierigkeiten, weil ich selber eingesessen und eigentlich auch festgestellt habe, es gibt ab einer gewissen Zeit keinen Zusammenhang mehr zwischen Straftat und Strafmaß. Das Unrechtsbewußtsein verliert sich irgendwie nach ein paar Jahren. Das wird sicherlich von Mensch zu Mensch unterschiedlich sein, aber, sagen wir mal, wenn da jetzt einer zehn Jahre drinsitzt, dann ist der so weit weg von dem, was er mal gemacht hat, daß das unrealistisch ist.

TP: Es würde Ihnen nicht unbedingt etwas bringen, wenn Egon Krenz u.a. in den Knast kämen? Ich stelle die Frage im Hinblick auf strafrechtliche Alternativen.

Wendt: Sinn und Zweck der Nebenklage – rechtspolitisch ist das allerdings nicht ganz unumstritten – ist unter anderem die Genugtuungsfunktion für den Nebenkläger, daß er also sieht, hier wird das mir geschehene Unrecht nicht einfach übergangen. Gleichwohl stellt sich die Situation, ob diese Herren jetzt ins Gefängnis wandern sollen, anders dar, als wenn jetzt über gewöhnliche Straßenräuber zu Gericht gesessen würde.
Man merkt dieses bereits daran, wie dieses Verfahren geführt wird. Es ist hier mitunter schon ein merkwürdiges Zusammensein – zwar mit den üblichen Scharmützeln zwischen Staatsanwaltschaft und der Verteidigung -, gleichwohl kennt man sich mittlerweile und das ganze hat jedenfalls außerhalb der Hauptverhandlung wenig von einem Schwurgerichtsprozeß. Für meinen Geschmack, vor allem aber für Frau Leopold, ist das etwas unangenehm zu sehen, wie sich hier alle munter grüßen und miteinander fröhlich sind. Das könnte man vielleicht beanstanden. Auf der anderen Seite muß man sagen: Sinn und Zweck ist es festzustellen, ob sich die Angeklagten strafbar gemacht haben, nicht mehr und nicht weniger.

TP: Unabhängig davon, ob Haftstrafen angetreten werden müssen oder nicht?

Wendt: Die werden eh nicht angetreten. Das ist zumindest meine Überzeugung, daß Herr Mückenberger niemals ins Gefängnis wandern muß. Dafür ist er gesundheitlich viel zu angeschlagen. Und ich nehme an, daß sich auch für Herrn Dohlus oder für Herrn Kleiber ähnliche Möglichkeiten finden lassen werden. Und letztlich wird es dann – falls überhaupt – unter Umständen gar mit Bewährungsstrafen abgehen, ohne hier natürlich vorgreifen zu wollen und zu können.

TP: Wären demzufolge nicht Tribunale, wie sie Wolfgang Ullmann vorgeschlagen hat, ein Mittel, das DDR-Unrecht aufzuarbeiten?

Wendt: Mit Sicherheit sogar, aber so etwas sollte dann zusätzlich stattfinden. Solange es die bundesdeutsche Strafjustiz gibt, ist sie nach meiner Überzeugung, auch wenn sie für solche Verfahren nicht ausgerichtet ist, das maßgebende Verfahren.

TP: Wobei zu berücksichtigen wäre, wenn Tribunale zusätzlich zu Strafverfahren laufen würden, das Problem auftauchte, daß alles, was dort gesagt wird, im Strafverfahren zu Ungunsten der Angeklagten dann verwendet werden kann.

Wendt: Darauf wären dann die Angeklagten hinzuweisen. Inwieweit solche Verfahren nebeneinander führbar sind, wäre ohnehin eine Frage, die sich erst herausstellen müßte.

TP: Frau Leopold, Herr Wendt, vielen Dank für das Interview.

Interview: Dietmar Jochum, TP Berlin

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