Das Verharren in Feindbildern ist der historischen Wahrheit und der inneren Einheit abträglich.

TP-Interview mit dem Historiker Prof. Dr. Paul Heider, Potsdam.

TP: Herr Prof. Heider, von angeklagten Funktionsträgern, die heute vor bundesdeutschen Gerichten stehen, bzw. von ihren Verteidigern, wird desöfteren beantragt, daß Sachverständige herangezogen werden: Völkerrechtler, Historiker. Sie, Prof. Heider, sind Historiker. Was könnte zum Beispiel ein Historiker zur Aufklärung, bzw Aufhellung der DDR-Vergangenheitsbewältigung im Sinne der Angeklagten beitragen?

Heider: Ich fürchte, daß die Geschichtswissenschaft etwas überfordert wird mit einer solchen Erwartung. Einen Beitrag im Sinne der Angeklagten zu leisten, ist schon gar nicht denkbar. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Die öffentliche Auseinandersetzung um DDR-Geschichte, die wir ja ständig erleben, wird von Interessen und Meinungen geprägt, und es ist halt ein Unterschied, ob Angeklagte oder frühere Verfolgte zur DDR-Vergangenheit Stellung nehmen. Also von Interessen und Meinungen und kaum von Erkenntnissen, die der Historiker erbringen müßte. Damit sind wir also doch bei der Frage: Was kann der Historiker? Was kann er nicht? Dabei ist zu bedenken: Wir haben es mit Zeitgeschichte zu tun, deren wissenschaftliche Aufarbeitung im Vergleich zu weiter zurückliegenden Zeitabschnitten einer Reihe von Besonderheiten unterliegt. Vielleicht darf ich einige davon nennen: Besonderheiten, die nicht ohne Einfluß auf wissenschaftliche Bewertungen bleiben können. Um was geht es? Wir haben es bei den Geschehnissen in der DDR – selbst wenn man die ganze Zeit der DDR-Geschichte nehmen würde, aber vor allem das letzte Jahrzehnt – mit erlebter Geschichte von Zeitgenossen zu tun. Das ist ein erster, sehr problemhafter und weit verzweigter Komplex. D.h. der Historiker stößt ständig auf das Interesse dieser Zeitgenossen. Betonen möchte ich dabei, daß ich selbst auch einer dieser Zeitgenossen bin. Es handelt sich also um einen Stoff, den man nur schwerlich – sine ira et studio – abarbeiten kann. Der Stoff ist mit vielfältigen individuellen Lebens- und Leidensgeschichten verflochten, mit einer Fülle nachträglicher Legitimationen – das möchte ich ausdrücklich bemerken: seien es positiver oder negativer Art – mit Färbungen und Verdrängungen verbunden, die psychologisch einem bestimmten Zeitereignis gegenüber eintreten. Also ich sagte bereits: Opfer- und Tätersicht unterscheiden sich natürlich gravierend voneinander. Man trifft heute Schwarz-Weiß-Bilder an, wie wir es früher in der DDR auch hatten: nur mit umgekehrten Vorzeichen heute. Doch DDR-Geschichte ist mehr als nur die Geschichte von Handlungen und Erlebnissen von Tätern und Opfern. Da geht es um verschiedene Handlungsebenen, um Strukturen, um den Alltag von Millionen Menschen, um Motive und Visionen und vieles mehr, was der Erforschung bedarf. Für eine Zwischenbilanz ist man, glaube ich, im Sinne der Geschichtswissenschaft noch nicht genügend vorbereitet. Das gesagte gilt, und das will ich unterstreichen, nicht nur für DDR-Geschichte, sondern für Zeitgeschichte generell. Aber bei DDR-Geschichte kommen außer den bereits genannten noch andere Momente hinzu. Der Historiker muß sich mit dem Problem der Legitimität dieses Staates überhaupt auseinandersetzen. Es geht ja um die Frage: Unrechtsstaat von Anfang an oder anzuerkennender Versuch einer Alternative. Ich meine, wenn man DDR-Geschichte vernünftig aufarbeiten will, auch als Historiker, kann ich der Sicht, wie sie etwa in der Enquête-Kommission vertreten wird, „Unrechtsstaat a priori“, nicht folgen, sondern ich muß schon den damaligen Akteuren, den Parteien, den Persönlichkeiten zugestehen, daß sie aus faschistischer Diktatur, aus Nazi-Herrschaft, aus Zweitem Weltkrieg nach einer Alternative suchten. Das war im Osten so und im Westen so. Und beide Seiten standen natürlich unter dem Einfluß der Siegermächte, also der jeweiligen Siegermacht. Ich würde meinen, die DDR war in der Phase, die zu ihrer Gründung hinführte, ein legitimer Versuch, ein Versuch, ein antifaschistisches, demokratisches Deutschland zu errichten, wobei es über dessen innere Beschaffenheit zweifellos unterschiedliche Auffassungen gab. Leider ist dieser Versuch gescheitert, weil das kommunistische Modell mit Hilfe der sowjetischen Besatzungsmacht als allein zukunftverheißender durchgesetzt worden ist. Auch hier würde ich wiederum nicht jener Auffassung folgen wollen: „Untergang auf Raten“, wie ein bestimmtes Buch lautet. Wenn man das so betrachtet, war er also vom Tage seiner Gründung an zum Tode verurteilt, dieser Staat. Das würde ich so nicht sehen wollen. Aber es gibt natürlich Marksteine der Entwicklung, auf die kommen wir möglicherweise noch. Ich nenne den 17. Juni 1953, ich nenne aber vor allem den Mauerbau 1961..

TP: Indiz für einen Unrechtsstaat, diese beiden Ereignisse, die Sie eben genannt haben? Oder eher für die Unzulänglichkeit der jeweiligen Politiker in der jeweiligen historischen und politischen Phase?

Heider: Also ich wehre mich, mir den Begriff „Unrechtsstaat“ zu eigen zu machen. Aber, beide Ereignisse, 17. Juni und Mauerbau, sind Indiz dafür, daß nicht nur, nach meinem Verständnis, bestimmte Politiker Fehler gemacht haben, sondern daß das Gesellschaftsmodell falsch war. Beide Vorgänge sind zutiefst Ausdruck dafür, daß man es nicht vermocht – und das war in diesem stalinistisch-leninistisch ausgerichteten Modell auch nicht drin -, nicht vorgesehen hat, Demokratie und Sozialismus zusammenzuführen und zusammen zu verwirklichen. So gesehen ist der 17. Juni ein erster Ausdruck dafür, daß dieses Modell nur mit Gewalt lebens- und funktionsfähig gehalten werden konnte.

TP: Logische Konsequenz?

Heider: Logische Konsequenz wäre gewesen, nach Alternativen zu suchen. Ich kann sie nicht nennen. Der Historiker kann schwerlich mit Wenn und Aber operieren. Er tut es bisweilen, aber ich weiß auch nicht, ob 1953 – es gibt ja die unterschiedlichen Konstellationen in der politischen Führung des Landes – ob die Dinge anders gelaufen wären, wenn die Ablösung Ulbrichts damals gelungen wäre. Man darf, glaube ich, an einige andere hochrangige Vertreter im damaligen Politbüro nicht mit der Vorstellung herangehen, das seien unbedingt Anti-Stalinisten gewesen. Was immer man jetzt mit dem Begriff „Stalinisten“ anfängt. Keiner war zu einer wirklich demokratischen Erneuerung der sogenannten „Partei neuen Typus“ bereit, ganz abgesehen davon, daß das die Sowjets gar nicht zugelassen hätten. Das Jahr 1961 – darauf kommen wir vielleicht noch mal zurück – würde ich noch ein bißchen anders betrachten wollen. Also ich sagte, der Historiker muß sich mit dem Problem der Legitimität dieses Staates auseinandersetzen. Wer will es andererseits aber wissenschaftlichen Gutachtern – ich hatte vorhin über Interessen gesprochen – altbundesdeutscher Provenienz verübeln, daß sie allein die alte Bundesrepublik zum Maßstab ihrer Bewertungen nehmen. Notwendig wäre statt dessen, Grundlinien auszumachen, wissenschaftliche, wissenschaftlich-methodische, von denen aus man die geschichtliche Entwicklung beider deutscher Staaten in ihrer gegenseitigen Verflochtenheit untersuchen kann. Ich kann kaum mehr als erste Versuche einer solchen Vorgehensweise erkennen. Doch ich bin der Meinung, nicht nur die DDR-Geschichte muß neu geschrieben, also erforscht, aufgearbeitet und neu geschrieben werden, sondern es täte auch der bisher niedergeschriebenen Geschichte der alten Bundesrepublik gut. Ein zweites Moment: obwohl eine wenigstens partielle wissenschaftliche Neubewertung auch der Geschichte der alten Bundesrepublik von Nutzen wäre, ist dies nur teilweise, bis in die sechziger Jahre möglich, weil die Akten nicht zugänglich sind, im Unterschied zur DDR-Geschichte. In der Bundesrepublik gilt, und das sage ich jetzt gar nicht als Kritik, die 30-Jahre-Frist für irgendwie relevante Akten, also 30 Jahre Sperrfrist, d.h. von heute aus gerechnet 30 Jahre zurück kann der Historiker, der mit der Bundesrepublik-alt sich beschäftigen will keinen Zugriff auf relevante Akten bekommen. Der Unterschied zur DDR-Geschichte ist, daß bis zum letzten Tag ihrer Existenz im Grunde genommen fast alles zugänglich ist. Aber daraus entsteht eine Schieflage bei historischen Betrachtungen: gerade wenn es um die gegenseitige Verflochtenheit dieser beiden Staaten geht. Drittes Moment, und darauf möchte ich doch sehr stark abheben: es wirkt sich äußerst negativ aus – auch in Zusammenhang mit den beiden vorhin stichwortartig genannten Vorgängen und Ereignissen: 1953, 1961 -, daß Akten zur sowjetischen Politik nur sehr partiell oder gar nicht zugänglich sind. Dort wird noch immer sehr restriktiv umgegangen mit Akten zu dieser Zeit, und ich glaube auch nicht daran, daß sich da, gerade was Militär und Sicherheitspolitik betrifft, damit haben wir es in beiden Fällen ja irgendwie zu tun, wesentliches ändern wird. Deshalb halte ich solche dokumentarischen Belege von Akteuren, wie etwa den Konjew-Brief oder das Schreiben Kulikow und Gribkow – auch in Ihrer Dokumentation enthalten (vergl. Dietmar Jochum, Die Beweisaufnahme im Politbüro-Prozeß) – schon für sehr wichtig. Bei dem Konjew-Brief handelt es sich um ein zeitgenössisches Dokument, während Kulikow und Gribkow aus ihrer früheren Tätigkeit heraus Tatsachen rekapitulieren, schildern wie sie damals die Dinge gesehen haben und wie das mit der „Souveränität“ der DDR war.

TP: Wenn ich mal auf den Konjew-Brief eingehen darf: Da wird ja von Wünschen gesprochen. Inwiefern kann man diese Wünsche als Befehle interpretieren?

Heider: Ja, wissen Sie, ich habe auch in der DDR gelebt, war auch, wenn auch immer nur auf wissenschaftlichem Gebiet tätig, irgendwo ein bißchen Militär. Es galt als Axiom, wenn die vielgerühmten „Freunde“ einen Wunsch hatten, galt das als Befehl..

TP: Daß die Erfüllung sozusagen erwartet wurde.

Heider: Das wollte ich gerade sagen. Derjenige, der etwas zu sagen hatte, von den sowjetischen Militärs in der DDR, in der Nationalen Volksarmee, gleich auf welcher Ebene sie tätig waren, erwartete, daß dem entsprochen wird. Wenn man sich übrigens die Diktion des Konjew-Briefes etwas genauer ansieht, wird klar, daß es sich nicht um unverbindliche Bitten, sondern um keinen Widerspruch duldende Forderungen, faktisch Befehle gehandelt hat.

TP: Können Sie nachvollziehen, daß solche Denkweisen der deutschen Justiz unzugänglich sind: wenn da von Wünschen gesprochen wird, sie auch von Wünschen ausgehen? Sehen Sie darin eine Böswilligkeit? Oder irgendwo eingeschränkte geistige Nachvollziehenstätigkeit?

Heider: Ja, letzterem würde ich zustimmen. Es geht darum, daß man sich nicht hineinversetzt in die zeitbedingten Situationen. Es soll auch solche Fälle gegeben haben – ich habe sie selbst nicht erlebt, deshalb möchte ich im Konjunktiv bleiben – daß bei Auseinandersetzungen um bestimmte Probleme, die, sagen wir die Begrenzung eines Übungsgebietes oder das Verhalten bei Truppenbewegungen betrafen oder aber eben die Tatsache, daß der Stationierungsvertrag DDR-Instanzen: Polizei, Justiz kaum Möglichkeiten gab, Vergehen, die sich sowjetische Armeeangehörige zuschulden kommen ließen, zu ahnden. Schon gar nicht konnte man die Leute vor Gericht stellen, vor ein DDR-Gericht, aber das ist in der Bundesrepublik mit Amerikanern auch nicht möglich gewesen. Aber lassen wir das. Es sollen solche Dinge passiert sein, daß dann geantwortet worden sei vom betreffenden Chef der Gruppe: „Wer hat denn den Krieg gewonnen: Wir oder ihr?“ Und damit war die Diskussion erledigt, denn der „Kleine Bruder“ wurde auf seine Plätze verwiesen. Bei all diesen Einschränkungen, die ich nannte, will ich durchaus nicht den Eindruck erwecken, daß man auf wissenschaftliche Untersuchungen zur Geschichte der DDR verzichten sollte. Es ist natürlich von großem Vorteil für die historische Forschung, daß die Archivbestände über die Geschehnisse in der DDR, der DDR selbst, teilweise auch in ihrer internationalen Verflochtenheit, zugänglich sind. Deshalb meine ich, daß mit DDR-Geschichte zu befassen, sicher einem allgemeinen Bedürfnis entspricht. Ich vermag das nicht zu quantifizieren, wieviel Bürger der früheren DDR wirklich an historischer Wahrheit, an historischer Aufarbeitung dieser 40 oder 41 Jahre DDR-Geschichte interessiert sind. Aber ich meine man darf die Spanne zwischen vergangener Geschichte und Gegenwart nicht allein der partikularen und subjektiven Erinnerung einzelner überlassen, den Aussagen der Zeitgenossen und ihrer teilweise unverkennbaren Legendenbildung, sondern es ist notwendig eine wissenschaftlich kontrollierte und disziplinierte Objektivierung zu versuchen.

TP: Herr Prof. Heider, die Angeklagten im Politbüro-Prozeß, früher im Prozeß gegen Nationalen Verteidigungsrates haben ja Anträge gestellt auf Beiziehung von Historikern, weil sie sich offensichtlich davon versprochen haben, daß der Historiker irgendwo auch belegen kann, wie alles gekommen ist. Ich übersetze das jetzt mal ein bißchen ins krasse Deutsch: Also daß der Historiker unter Umständen also auch belegen kann, daß die Toten und Verletzen an Grenze und Mauer unvermeidbar gewesen sind. Ist das etwas, wozu ein Historiker etwas beitragen könnte?

Heider: Also ich persönlich, als Historiker gefragt, würde eine solche Auffassung, die Toten an Mauer und Stacheldraht waren unvermeidbar, für äußerst zweifelhaft halten und würde von mir nie kommen. Eine ganz andere Frage ist, wie ist alles entstanden und wer hatte Schuld an den Dingen. Aber ich gehe nicht konform mit jener Sicht, die da lautet: Nur Moskau und wir gar nicht. Der Historiker hätte die Aufgabe, in diesen Zusammenhängen, den Handlungsspielraum der DDR-Politiker, der SED-Führung im Verhältnis zu Moskau auszuloten und da stößt der Historiker auf diese Schwierigkeit, daß Moskauer Akten nicht zur Verfügung stehen, folglich der Entscheidungsfindungsprozeß nicht deutlich genug aufgearbeitet werden kann. Andererseits wirkt für mich befremdlich, was die Toten betrifft, daß sich das Politbüro – das ist eine Tatsache – sich so wenig damit beschäftigt hat. Soweit ich in Protokolle des Politbüros oder des Sekretariats des Zentralkomitees oder auch des Nationalen Verteidigungsrates Einsicht genommen habe, ist eigentlich erschreckend, wie wenig über diese Vorgänge an der Grenze zur Bundesrepublik oder zu West-Berlin, dort seinen Niederschlag gefunden hat.

TP: Wäre dann schlimmes Leid vermieden worden, wenn sie sich mehr damit beschäftigt hätten? Ihrer Auffassung nach.

Heider: Also ich muß noch mal das Stichwort „Handlungs- und Ermessensspielraum“ hier ins Gespräch bringen. Daß sie sich so wenig damit beschäftigt haben, zeigt möglicherweise, wo der wahre tonangebende Part bei diesen Dingen gewesen ist. Das ist das eine. Das andere scheint mir aber zu sein, daß man immer – und hier ist wohl eine nahezu identische Interessenslage zwischen der Führungsspitze, der politischen Führungsspitze der UdSSR, des Warschauer Vertrages und der SED-DDR-Führung vorhanden – auf Machterhalt bedacht war, es ging eben um Machterhalt, um Erhalt des Systems so wie es war und dort liegt eigentlich das Problem.

TP: Wäre das strafrechtlich vorwerfbar?
Heider: Wissen Sie, ich möchte mich auf die juristischen Ebenen nicht begeben. Das muß man meiner Meinung nach der Staatsanwaltschaft, den Rechtsanwälten und Richtern überlassen. Der Historiker hat die Geschehnisse darzustellen, zu schildern. Er hält sich in Urteilen ohnehin, sollte sich in Urteilen ohnehin weitgehend zurückhalten. Möglicherweise habe ich mich in unserem Gespräch bis jetzt schon zu weit vorgewagt. Auf die juristische Ebene möchte ich mich nicht begeben. Also ich will abschließend zu diesem Problem sagen, es ist kaum zu erwarten, daß eine von politischen Vorgängen völlig unbeeinflußte Darstellung in nächster Zeit zustande kommen wird. Es ist hierbei die Frage, ob sich der Forscher elementaren, auch parteiischen gegensätzlichen Geschichtserinnerungen und Geschichtsinteressen, die in der Gesellschaft und der Öffentlichkeit in den Medien artikuliert werden, zu entziehen vermag. Dem Historiker in meiner Generation fällt das natürlich sehr schwer, weil er selbst Zeitzeuge ist. Bei der jüngeren Generation, ich merke das im Umgang mit jüngeren Kollegen, ist das schon etwas anderes und denen fällt es leichter. Also das vielleicht soweit zu dem: Was kann der Historiker? Was kann er nicht?

TP: Kann er z.B. prognostizieren?

Heider: Nein, das würde ich lieber den Futurologen überlassen. Da sind wir bei der oft gehörten und immer wieder gestellten Frage: „Kann man aus der Geschichte lernen?“ Schön wäre es, wenn man aus der Geschichte lernen könnte und lernen würde, aber die Beschaffenheit der Menschen scheint mir nicht ganz so zu sein.

TP: Sehen Sie zum Beispiel eine Gefahr, daß die Prozesse, wie sie derzeit gegen Funktionsträger und andere aus der ehemaligen DDR geführt werden, das Zusammenwachsen der beiden Bevölkerungsteile Ost und West eher hindern als zu fördern?

Heider: Der Meinung bin ich durchaus.

TP: Also ein prognostizierender Historiker im Moment?

Heider: (lachen) Weil den Menschen in der früheren DDR und mir will das auch nicht einleuchten, nur schwerlich beigebracht werden kann, daß sie 40 Jahre ihre Arbeitskraft, ihre Tätigkeit, ihr Studium, ihren Geist, ihre Familienverhältnisse und, und, und, nichts anderem gewidmet hätten, als einem Unrechtsstaat, denn darauf läuft das ja hinaus, übrigens auch – wie ich meine – die Anhörungen in der Enquête-Kommission des Bundestages. Das hängt mit der Interessenslage jener Kommission zusammen. Ich sage das gar nicht vorwurfsvoll. Ich verlange von dieser Kommission keine objektive Geschichtsdarstellung, sondern sie folgt dem Auftrag, dem politischen Auftrag oder der politischen Intention, vielleicht besser: weil man den Auftrag, wo er formuliert worden ist, nicht so finden wird. Also der politischen Intention, wie sie Herr Eppelmann vor allem auch hat, nachzuweisen, daß das alles eben Unrecht gewesen sei, was in der DDR passiert ist. Nur in der DDR hat es einen Alltag gegeben, hat es ein „normales“ Leben gegeben. Es wurde gearbeitet, es wurde gelebt, es wurde gelacht, es wurde gelitten.

TP: Es wäre ja schlimm, wenn’s umgekehrt gewesen wäre.

Heider: Genau so.

TP: Aber einigen hat das Leben in der DDR nun mal nicht gepaßt und sie wollten weg. Und sie sind Opfer dieses Systems geworden.

Heider: Ja, das ist eine völlig zutreffende Feststellung.

TP: Kann man betreffend dieser Leute, sage ich jetzt mal mit Worten anderer, irgendwo nachvollziehen, wenn von Unrechtsstaat gesprochen wird?

Heider: Freilich kann man das nachvollziehen. Ich würde die Umkehrung: „Die DDR war ein Rechtsstaat“ auch nicht unterschreiben.

TP: Aber nicht unbedingt auch, daß es ein Unrechtsstaat war.

Heider: Man muß dieses Staatsgebilde in seiner Funktion, in seiner Wirksamkeit analysieren, muß die Lebensbedingungen der Menschen sich ansehen und genau aussagen, was war Unrecht, worin bestand es, wer trägt Verantwortung, und zwar persönliche Verantwortung für Unrecht. So verstehe ich eigentlich Justiz, daß man persönliches Unrecht festmacht. Wenn man das voraussetzen würde, kämen die Politiker vielleicht doch zu der Auffassung, daß mit den Prozessen das Zusammenwachsen der beiden Bevölkerungshälften – es sind ja keine Hälften, ich hab das jetzt mal nur so gemeint – nicht sonderlich gefördert wird. Und hinzu kommt, daß bei der Ostdeutschen Bevölkerung, wie mir scheint, mittlerweile ganz andere Ängste, Sorgen und Nöte das Leben und Denken der Menschen bestimmen als diese Vorgänge.

TP: Können Sie sich etwa vorstellen, warum 1989, im November, auf einmal die Grenze geöffnet wurde? Weil Egon Krenz ’nen guten Tag hatte und das Politbüro oder/und weil man sagte: O.K., die Menschen müssen endlich ihre Freiheit haben. Oder steckt da ihrer Meinung nach doch irgendwie etwas anderes dahinter?

Heider: Also, die Grenzöffnung zusammengebracht mit dem Namen Egon Krenz…

TP: …oder Schabowski…

Heider: …Schabowski oder anderen. Positiv gesagt, sie hatten offenbar soviel begriffen, daß man auf dieser Strecke etwas tun mußte, wenn man nicht von einem Tag zum anderen weggeräumt werden sollte. Grenzöffnung ist der Kalkulation nach von Egon Krenz, auch Wolfgang Herger und anderen, als ein Schritt zum Systemerhalt gedacht, als ein Schritt, um den Sozialismus zu erhalten in gewandelter Form – Demokratischer Sozialismus, was immer man in dieser Führungsetage darunter verstanden haben mag. Ich zweifle daran, daß ihnen ein parlamentarisch-demokratischer Sozialismus vorgeschwebt hat, daß ihnen vorgeschwebt hat, eine echte Gewaltenteilung, um einen wirklich demokratischen Sozialismus zu erreichen. Darüber ließe sich lange reden, aber ich bin dazu kein Spezialist, ich möchte deshalb diese Strecke nicht weiter vertiefen. Aber ich sehe zwei Momente, den einen hatte ich genannt, einen Schritt zu gehen, einen entscheidenden Schritt zu gehen, um den Sozialismus, diese Ordnung vielleicht doch erhalten und reformieren zu können. Aber viel entscheidender ist für mich, daß dieser Schritt erzwungen worden ist.

TP: Von?

Heider: Erzwungen von den Teilen des Volkes, die seit dem Sommer, konkret seit September, allmontäglich auf die Straße gegangen sind und dort ihre Forderungen erhoben haben. Das ist der eine Faktor. Der andere Faktor ist also die ständige Zunahme der Anzahl jener Menschen, besonders junger Menschen, die die DDR verlassen haben: sei es über Ungarn, sei es über die Botschaften. Das ist alles nichts neues, das ist alles bekannt. Das hat zu Konflikten in dem Warschauer-Pakt-System geführt, zu Konflikten zwischen den Ländern, zwischen DDR und Ungarn, aber auch zwischen DDR und CSSR dann. Wer nicht total borniert war, das würde ich den Leuten nun nicht unterstellen wollen, mußte begreifen, hier muß etwas getan werden, um einen Ausweg zu suchen aus dieser Lage. Anders gesagt: die Mauer ist gebaut worden, um den Weggang der Menschen aus diesem Lande zu verhindern. Ich sehe das als Hauptgrund für den Mauerbau an und die Mauer wurde zu Fall gebracht, weil die Menschen, die nicht mehr in diesem Lande leben wollten oder konnten, mit den Füßen abgestimmt haben. Die DDR stand wie 1961 vor einem neuen Ausbluten.

TP: Spielte auch bei der Maueröffnung mit eine Rolle, daß keine Rückendeckung mehr von Seiten der UdSSR gesehen wurde?

Heider: Ich bin der Ansicht, daß die ganze Entwicklung, die Umbrüche, die demokratische Revolution in der DDR 1989/90 nur zu verstehen ist, wenn man sie in Beziehung setzt zu den Vorgängen in der Sowjetunion seit dem Zeitpunkt, als Gorbatschow an die Spitze der KPDSU-Führung, der Führung der UdSSR gelangte, der schrittweise Abbau der sogenannten Breschnew-Doktrin. Manche beklagen heute die Entsolidarisierung. Natürlich verläuft eine Entsolidarisierung in dem Sinne im Warschauer Pakt, daß die Reformkräfte in den Führungen der Parteien und erst recht die oppositionellen Bewegungen in diesen Ländern nicht mehr gewillt sind, sich ihr Tun und Lassen im eigenen Land von Moskau vorschreiben zu lassen. Das ist ein Moment, wenn wir darüber nachdenken, warum ist dieser ganze Prozeß in der DDR friedlich verlaufen.

TP: Ja, vielleicht wegen der Abkehr von der Breschnew-Doktrin?

Heider: Na ja, daß würde ich nur als einen Moment sehen zum friedlichen Verlauf der demokratischen Revolution in Ostdeutschland, in der DDR. Wobei man sich sowieso streiten kann: War es eine Implosion, war es eine Revolution oder war es ein Zusammenbruch? Mir scheint der Begriff „Demokratische Revolution“ den Vorgängen am ehesten zu entsprechen, weil ein nicht lebensfähiges Gesellschaftssystem – denn das war ja nun bis dahin wirklich erwiesen – durch den Druck der Massen und durch äußere Umstände selbstverständlich auch zu Fall gebracht wurde. Daß die Akteure dieser Revolution, was das Ziel betrifft, möglicherweise andere Vorstellungen hatten, als dann herausgekommen ist, hat diese Revolution mit anderen gemeinsam.

TP: Eine andere Frage – zum friedlichen Verlauf: Welche Probleme sehen Sie?

Heider: Ich will die Sache mit der Revolution im theoretischen Sinne jetzt nicht vertiefen. Aber was den friedlichen Verlauf betrifft, gibt’s die unterschiedlichsten Aussagen, die ich so nicht mittragen kann. Menschen der Bürgerbewegung behaupten, sie allein hätten das Friedliche, den friedlichen Verlauf garantiert. Es gibt aber auch Armeeoffiziere höheren Ranges, die für sich in Anspruch nehmen, allein oder nahezu allein, den friedlichen Verlauf garantiert zu haben. Es gibt SED-Funktionäre, sehr hochgestellte, die meinen, ihre Haltung sei das Ausschlaggebende gewesen. Ich meine, man kann so die Dinge nicht beurteilen. Wir haben es hier mit einem komplexen gesellschaftlichen Vorgang zu tun, wenn es um den friedlichen Verlauf der Revolution geht. Es waren gesamtgesellschaftliche Vorgänge, ineinander verflochtene, die in ihrer wechselseitigen Bedingtheit zueinander existieren, die den friedlichen Verlauf garantiert haben, die auf die Armee einwirkten, ein Prozeß, ein Vorgang, der nicht geradlinig verlief. Es hat sicherlich Momente gegeben, wo dieser friedliche Verlauf infrage gestellt war. Aber fest steht: es hat keinen Befehl gegeben zu schießen. Das ist, wenn man die Unterlagen durchmustert hat, zu erkennen. Ein Schießbefehl im Oktober, November, Dezember – und was weiß ich wann – bis zum Abtritt der Modrow-Regierung existiert nicht. Ich meine damit Befehle zur Grenzsicherung in dieser Zeit oder zum Vorgehen gegen aufbegehrende Volksteile. Es gibt aber andererseits eben auch Erklärungen, wenn man die Moabiter Notizen Erich Honeckers sich ansieht oder andere von ihm stammende Zeugnisse, schon in dem Buch: „Der Sturz“, daß sein Anliegen gewesen sei, die „Arbeiter- und Bauernmacht“ unter allen Umständen und Bedingungen zu verteidigen?

TP: Mit der Armee?

Heider: Ja, sicher. So würde ich das auch verstehen und es hat eben Gegenkräfte gegeben, Gegenbewegungen und Faktoren, die das nicht zugelassen haben. Vielleicht darf ich mal meine Überlegungen dazu kurz stichwortartig nennen. Der erste Faktor, den ich sehen würde für den friedlichen Verlauf, ist die Friedfertigkeit der demonstrierenden Menschen. Die Parolen: „Keine Gewalt!“, die in Dresden, Leipzig, Plauen, Berlin und anderswo… beruhigend und auch ordnend gewirkt haben, prägten das Bild der Bürgerbewegungen, die sich unter dem Dach der Kirchen formiert hatten und sie waren, das scheint mir wichtig zu sein, sowohl als Appell an die Sicherheitskräfte gedacht, wie zur Disziplinierung der eigenen Anhängerschaft. „Keine Gewalt“, das ist geprägt von den Erinnerungen an all die fürchterlichen Vorgänge, die mit dem realen Sozialismus verknüpft sind: in der DDR 1953, dann kommt Ungarn 1956 und 1968 die Niederschlagung des Prager Frühlings, in Polen 1981 Ausnahmezustand, und es kommt das Blutbad auf dem Tiananmenplatz in Peking. Hinzu kommt, daß die Medien der DDR die Vorgänge in Peking wohlwollend, mit wohlwollenden Kommentaren diese schrecklichen Bilder versehen haben und hochgestellte Politiker daran auch gefallen fanden.

TP: Auch Egon Krenz, sagt man.

Heider: Auch Egon Krenz. Daran will er…

TP: … heute nicht mehr erinnert werden…
Eine andere Frage dazwischen gestellt, Herr Prof. Heider. Gorbatschow hat ja gesagt: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“ Ist man möglicherweise in der DDR mit der Maueröffnung zu spät gekommen, und wenn man früher gekommen wäre, könnte die DDR unter, sag ich mal in Anführungsstrichen, „demokratischeren Vorzeichen“ noch existieren? Wäre das eine Möglichkeit oder war schon von vornherein alles zum Scheitern verurteilt – von Richtung der UdSSR aus schon, weil die auch schon auseinander zu splittern drohte?

Heider: Wissen Sie, das ist sehr schwer zu sagen. Könnte sie noch existieren? Ich persönlich neige dazu, daß die letzte Chance, zeitmäßig gesehen, 1968 gewesen wäre, um den realen Sozialismus zu reformieren. Etwa im Sinne wie bestimmte Reformkräfte in der CSSR das wollten, wie es etwa Alexander Dubcek vorschwebte. Danach halte ich es schier für unmöglich. Es gäbe noch einmal eine Zäsur, hätte die DDR – aber das ist sehr, sehr hypothetisch gesagt, und ich habe dafür keine Belege – den Helsinki-Prozeß innenpolitisch umgesetzt, dann hätte es sein können, daß man diese Entwicklung – verhindert wage ich kaum zu sagen – verlangsamt, hinausgezögert hätte. Denn ich halte andererseits die These für richtig: als Alternative zum zweiten deutschen Staat Bundesrepublik hatte die DDR nur eine Existenzberechtigung als sozialistischer Staat, denn zwei nach marktwirtschaftlichen Prinzipien geordnete Staatswesen nebeneinander in Deutschland hätten keinen Sinn gemacht.
Also zum ersten wäre noch nachzutragen: Kerzentragende, keine Gewaltrufer, boten der geballten Macht der Ordnungskräfte keinen Anlaß, die ihnen zu Gebote stehenden Machtmittel einzusetzen. Also noch einmal erster Faktor: Friedfertigkeit der demonstrierenden Menschen. Auch der langjährige Präsident der Volkskammer der DDR, Horst Sindermann, hat in seinem letzten Interview kurz vor seinem Tode dem Spiegel gegenüber bemerkt, auf die Friedfertigkeit war man eigentlich nicht so recht vorbereitet.
Zweitens: der immer stärker anwachsende Zustrom, den die auf entschiedene Reformen setzende Bürger- und Demokratiebewegung aus der Bevölkerung erhielt, was zu weiterer Differenzierung auch innerhalb der Entscheidungsgremien der SED und des Staates führte. Bei maßgeblichen Verantwortungsträgern in Partei, Staat und Armee setzt ein langsames, mitunter eher zögerliches, von Rückschlägen begleitetes, aber letzten Endes doch entschlossene Umdenken ein, wie die Vorgänge in Dresden und Leipzig als Beispiel zeigen. Wobei ich bei Dresden betonen möchte, daß Herr Modrow nicht a priori für eine Verständigung mit der Bürgerbewegung war, sondern erst durch Vermittlung der Kirchenvertreter dazu veranlaßt worden ist. Und danach allerdings versuchte er, ich sehe darin eines seiner Verdienste, sich jetzt an die Spitze der ganzen Bewegung zu stellen, denn er machte unter anderem auch der militärischen Einsatzleitung in Dresden klar, mit den Menschen, die auf die Straße gehen, haben wir es nicht, wie in den Honecker’schen Befehlen und in denen von Keßler formuliert worden war, mit Konterrevolutionären, mit von aus der alten Bundesrepublik gesteuerten Konterrevolutionären zu tun..

TP: Auch nicht mit Verbrechern!

Heider: Und schon gar nicht mit Verbrechern, sondern mit Bürgern, die mit der SED und ihrer Politik unzufrieden waren.

TP: Was etwa auch die Friedfertigkeit, mit der die Bürger auf die Straße gegangen sind, auch zum Ausdruck gebracht hat.

Heider: Ganz richtig. So und dieses Signal, diese gegenseitig bekundete Dialogbereitschaft am 8. Oktober in Dresden wurde per Kurier sofort nach Leipzig mitgeteilt, so daß auch Leipzig von den Vorgängen in Dresden wußte, wie es in Leipzig passierte, ist ja bekannt. Ich meine nur, daß der Aufruf der Sechs etwas überbewertet wird.

TP: Aufruf der Sechs, wen meinen Sie jetzt genau?

Heider: Ich meine Masur und andere… Natürlich hat dieser Aufruf eine Rolle spielt. Fest steht auch, daß wohl die Polizei, Sicherheitskräfte und im Hintergrund wohl auch bestimmte Kräfte der Armee an diesem 9. Oktober auf eine gewaltsame Auseinandersetzung eingestellt waren. Ich will damit nicht sagen, daß sie diese provozieren wollten, aber die Aufgabenstellung lautete, die aufmarschierenden Menschenmassen, den Marschzug in verschiedene Keile aufzuspalten und zu vereinzeln und so zu isolieren, um gegen sie vorgehen und „Zuführungen“ vornehmen zu können. Aus dem sehr interessanten Buch von Herrn Hertle*: „Der Fall der Mauer“ – eine für meine Begriffe sehr gute Recherche, die er dort angestellt hat – geht hervor, daß eine Standleitung des Fernsehens der DDR von Leipzig zum Einsatzstab im Innenministerium die Vorgänge dort dokumentierte. Und es war der massenhafte Aufmarsch am 9. Oktober in Leipzig, der alle Planungen zur Makulatur werden ließ. Und dann kommt es dazu, daß der Polizeipräsident von Leipzig die Genehmigung erbittet, sich auf den Schutz der eigenen Kräfte zurückzuziehen, und etwa zeitgleich kommt Kurt Masur mit dem Aufruf der Sechs. Gemeint sind hier neben Kurt Masur die Sekretäre der SED-Bezirksleitung Roland Wötzel, Kurt Meyer und Jochen Pommert, der Theologe Peter Zimmermann und der Kabarettist Bernd-Lutz Lange. Also, das Votieren für eine politische Lösung, auch von bestimmten Kräften in der SED-Nomenklatura, gemeinsam mit der Bürgerbewegung in Dialogbereitschaft einzutreten. Und die Massenhaftigkeit dieser Bewegung sehe ich als zweiten großen Faktor, der natürlich mit dem ersten in Verbindung steht, der den friedlichen Verlauf der Revolution bedingte. Und als dritten würde ich nennen, daß ein Einsatzbefehl für die NVA wegen des inneren Zustandes der Truppe mit einer Reihe von Unwägbarkeiten verbunden gewesen wäre. So allgemein möchte ich das formulieren. Die Massenhaftigkeit der Demokratiebewegung, die sich in dieser Zeit ja noch für eine Erneuerung des Sozialismus und nicht für dessen Abschaffung aussprach sowie der ungeheure politisch-moralische Druck – in der Armee befanden sich ja Menschen, die aus dem Volke waren, aus dem Volke kamen – blieben nicht ohne Einfluß auf das Denken, Fühlen und Handeln der Soldaten aller Dienstgradgruppen. Hier könnte man viele Beispiele anführen. So hat es beispielsweise überall dort, wo Unzufriedenheit und Unruhe aufflackerte in der NVA, hochgestellte Kommandeure gegeben, die alles getan haben. um einen mißbräuchlichen Umgang mit Waffen und Technik zu verhindern: also Treibstoff aus Panzern ablassen und ähnliches soll es gegeben haben. Das sind Dinge, die zweifellos interessant sind. Eine ganz andere Frage und ein dazugehöriger Komplex, wenn es um die Nationale Volksarmee geht, betrifft dann die Militärreform: Ihr Beginn, ihr verspäteter Beginn, ihr Verlauf, ihre Ergebnisse. Natürlich wäre das Verhalten der NVA ohne diese Reform nicht denkbar gewesen. Aber das ist eine andere Thematik, sie zu erörtern, würde jetzt zu weit führen. Generell ist zu sagen, daß bereits im Oktober die Armeeführung um Heinz Keßler wegen ihrer ganzen Verhaltensweise im Sommer und Herbst 1989 in der Truppe keine rechte Legitimation mehr besaß. Ich habe selbst als Teilnehmer die da und dort erwähnte Parteiaktivtagung am 11. November erlebt. Als das wiedergewählte Politbüro-Mitglied Heinz Keßler eine Rede hielt, eine äußerst langweilige, die in keiner Weise den Erwartungen der dort versammelten Offiziere entsprach, kam nach zwanzig Minuten der Zwischenruf: „Kommen Sie endlich zur Sache!“ Das passierte ihm in einem solch großen Forum zum ersten Mal, wenige Tage zuvor erhielt er allerdings bereits im Kollegium Widerspruch von einigen seiner Stellvertreter. Das war ihm noch nie passiert, daß er aus dem Auditorium heraus unterbrochen und aufgefordert wurde, er möge zur Sache sprechen. Er stammelte deshalb auch nur: „Moment, Moment, das kommt ja gleich!“ Aber es passierte nichts, es kam nichts. Und dann begann also die Diskussion und der zweite oder dritte Diskussionsredner – der wievielte es war, spielt keine Rolle – forderte den Rücktritt von Keßler als Politbüromitglied und als Minister und im weiteren Verlauf der Diskussion forderte man auch von den anderen Mitgliedern im Zentralkomitee der SED, sie mögen ihre Funktionen niederlegen und zurücktreten. Die Veranstaltung wurde vorzeitig abgebrochen, weil an der „Mauer“ angeblich eine komplizierte Lage entstanden sei.
Letzter, vierter Faktor, den ich nennen will, er ist der Bedeutung nach ganz sicher nicht der letzte, auch wenn er bei mir an vierter Stelle kommt: Es war der SED und Staatsführung, der alten und der neuen oder halbneuen klar geworden, daß bei einem gewaltsamen Vorgehen gegen die Volksbewegung in der DDR mit einer Unterstützung der Sowjetunion oder eben der Gruppe der sowjetischen Streitkräfte in der DDR nicht gerechnet werden konnte. Die Streitkräfte der Gruppe hatten offenbar die Weisung, sich aus den inneren Vorgänge der DDR herauszuhalten, für die Sicherheit der eigenen Objekte zu sorgen. Wann, welche Befehle konkret von wem ergangen sind, läßt sich nicht sagen. Es hat den Anschein, daß um den 7. Oktober herum, Wünsdorf in dieser Richtung sehr bestimmt aufgefordert worden ist, also Befehle erhalten hat, Gewehr bei Fuß zu stehen. Nur wenige Tage vorher, am 3. Oktober, hatte der Chef der Gruppe dem Stellvertreter des Minister gegenüber noch seine absolute Unterstützung und Treue der DDR gegenüber zum Ausdruck gebracht. Er äußerte sinngemäß, die DDR ist ein festes Glied der sozialistischen Staatengemeinschaft und auf das engste mit der Sowjetunion verbunden. Es wird niemals eine Abschottung der DDR geben. Dafür spricht auch die Anwesenheit der Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte auf dem Territorium des ersten Arbeiter- und Bauernstaates. So also Armeegeneral Boris Snetkow gegenüber dem Chef der Politischen Hauptverwaltung der Nationalen Volksarmee und Ministerstellvertreter. Das geht aus einem Schreiben vom 4. Oktober des DDR-Verteidigungsministers an Erich Honecker hervor. Das ist nicht eingetreten und ich meine, daß im Verlauf des Oktober und erst recht im November klar war, auch bei den Verantwortlichen in der DDR, daß mit einer Hilfe von dort nicht zu rechnen ist. Dennoch wird später von Interesse sein zu untersuchen, wie war denn das innere Gefüge dieser Gruppe. Denn fest steht eins: Es hat bis Ende 1989, Anfang 90 regelmäßige Begegnungen der Kommandeure der NVA und derer der Gruppe gegeben. Diese Kommandeure haben sich getroffen, unterschiedlich, und da hat es natürlich gegenseitig Fragen gegeben, wie man denn weiterhin gedenkt sich zu verhalten. Also man muß dabei auch sehen, daß hohe sowjetische Militärs mit dem Kurs Gorbatschows ganz und gar nicht einverstanden waren. Natürlich vollzog sich auch dort eine Differenzierung, aber Fakt ist, sie hatten die Weisung und sie haben sich letztlich so verhalten, daß sie unter keinen Umständen für eine Niederschlagung wie etwa 1953 einer Volksbewegung in der DDR oder 56 in Ungarn zur Verfügung gestanden hätten. Es gibt in der Literatur viele Erklärungen dafür, wie sich das schrittweise bei Gorbatschow artikuliert hat.

TP: Haben Sie eine Erklärung dafür, warum die Bürgerrechtler, die anfangs noch für den Erhalt der DDR eingetreten sind, dann so einen radikalen Wandel durchgemacht haben?

Heider: Ich habe dafür zweierlei Erklärungen. Die eine besteht darin, daß – ich kann das aber nicht personifizieren und möchte das auch nicht personifizieren, auf wen es wohl zutrifft – die einen meinten, der Sozialismus ist erhaltenswert, nur nicht so, wie er war. Sie wollten nicht den Realen erhalten wissen, sondern einen, wie auch immer gearteten Demokratischen Sozialismus. Wenn man alle ihre Papiere, die damals niedergeschrieben worden sind, und ihr Agieren verfolgt, kann man sicherlich nicht sagen, es gab ein ausformuliertes, konsensfähiges Konzept, was denn Demokratischer Sozialismus sein soll. Aber ein Teil dieser Bewegung, meine ich, wollte so etwas. Bei einem anderen Teil war es für meine Begriffe taktisches Kalkül: Man wollte mit dem Blick auf die Bundesrepublik die DDR weg haben. Wahrscheinlich nicht so, wie es dann gelaufen ist – das will ich niemanden unterstellen. Aber man wollte sie weg haben. Nur mit diesem Ziel anzutreten, hätte möglicherweise die Staatsmacht DDR zu anderen Aktionen veranlaßt.
Absolut unverständlich ist mir, warum sich Vertreter unterschiedlicher Strömungen der Bürgerbewegung so schwer damit tun, dialogbereiten Funktionären der SED und hohen Offizieren und Generalen der NVA zu konzedieren, daß sie – eingeordnet in die Gesamtheit der Vorgänge und Faktoren – einen Beitrag zum friedlichen Verlauf und somit auch zur deutschen Einheit geleistet zu haben. Das Verharren in alten Feindbildern ist nicht nur der historischen Wahrheit, sondern auch der inneren Einheit abträglich.

Interview: Dietmar Jochum, TP Berlin

* Hans-Hermann Hertle, Chronik des Mauerfalls. Die dramatischen Ereignisse um den 9. November 1989, Berlin 1996

Prof. Dr. Paul Heider, Jahrgang 1931, war 40 Jahre lang Offizier der Nationalen Volksarmee. Er studierte an der Humboldt-Universität in Berlin Geschichte, promovierte und habilitierte sich an der Militärakademie Friedrich-Engels in Dresden und war dort im Lehrkörper tätig als Lehrstuhlleiter. Seit 1985 war er im Militärgeschichtlichen Institut der DDR in Potsdam Stellvertreter des Direktors für Forschung. Vom 1.9.1989 bis zum 30.9.1990 war er der letzte Direktor dieses Instituts.

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