Demokratie ist nicht das Paradies.

TP-Interview mit Ex-SED-Politbüromitglied Günter Schabowski.

TP:

Sechzehn Jahre deutsche Einheit – wie sieht Ihre Bilanz aus?

Schabowski:

Jedes Land wird immer mal wieder von Krisen heimgesucht, kennt Auf- und Abschwünge. Dabei spielt gewiß auch die Verarbeitung des DDR-Bankrotts mit, die der Bundesrepublik überantwortet war. Es wäre oder ist jedoch absurd, dies nur als verfehlte oder als mißglückt zu bewertende Einheit zu deuten.
Der erste Pluspunkt m e i n e s Resümees ist und bleibt, daß diese Einheit, die so lange unerreichbar war, unumkehrbar ist, wie oft auch Spökenkieker verschiedenster Machart ihr Scheitern beschwören. Zweitens bleibt es hoffentlich auch dabei, daß jene keine Mehrheit finden, die latent oder unverhüllt auf die Schnapsidee kommen, das, was in Deutschland wirtschaftlich, derzeit aus verschiedensten Gründen nicht funktioniert, mit neosozialistischer Rezeptur zu verschlimmbessern.
Gysi und Lafontaine haben das Einheitsinventar inzwischen um die Neuauflage einer Sozialistischen Einheitspartei bereichert. Welche Gesundungssuppe dem Lande eine große oder künftig andere Koalitionen kochen wollen oder werden – die Demokratie hat sich damit Demagogen in den Pelz gesetzt, die allemal kräftig in diese Suppe spucken werden.

TP:

“Auf Pump reitet das Genie zum Erfolg“, haben Sie einmal gesagt. Ostdeutsche Firmen haben es dagegen nach wie vor schwer bzw. es ist noch schwieriger für sie geworden, sich über Kredite zu finanzieren. Auf was sollen sie zum Erfolg reiten?

Schabowski:

Die Floskel sollte eigentlich nur ironisieren, wie in der DDR mit Hilfe kapitalistischer Kredite die “Errungenschaften“ des Sozialismus finanziert wurden. Die flossen ja nicht zu knapp. Ohne sie wären die Konsumtionsmittel nicht zustande gekommen, die Honecker mit seinem Kurs der “Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ verfeuerte.

Es ist schon ein bißchen absurd, daß die Banken, die damals den Oststaat und seinen Bankrott mitfinanzierten, sich nun, schon mehr als anderthalb Jahrzehnte lang, sehr knickrig zeigen, wenn es darum geht, im Osten die zu finanzieren oder ihnen zu helfen, die mit Ideen, Risikobereitschaft und Elan eine bodenständige soziale Marktwirtschaft zu entwickeln sich mühen und damit zugleich Arbeitsplätze zu schaffen.
Als Ökonomie-Ignorant mit DDR-Hintergrund sollte ich mich mit Ratschlägen für die Gegenwart zurückhalten.

TP:

Eine Meinung haben Sie doch sicherlich dazu?

Schabowski:

Um der Wirtschaft im Osten auf die Sprünge zu helfen, scheinen mir da mindestens drei Überlegungen, die Helmut Schmidt und Klaus von Dohnanyi schon vor einiger Zeit geäußert haben, nach wie vor geeignet und dringlich:

1) Radikale Entbürokratisierung, um das Dickicht von über
80.000 Paragraphen westdeutscher Gesetze und Rechtsverordnungen zu lichten, die unternehmerische Initiative in den neuen Ländern hemmen;

2) Statt Gießkannenprinzip Konzentration der Mittel auf regionale Schwerpunkte und

3) schließlich sollte den Unternehmungen oder Neugründungen im Osten bis 2020 im Interesse der Wertschöpfung eine spürbare Mehrwertsteuer-Präferenz gewährt werden.

Der Steuersatz sollte nicht erhöht, sondern halbiert werden.

TP:

Nach einer Studie des MDR liegt Ostdeutschland derzeit erst bei 69 Prozent des im Westen erreichten Pro-Kopf-Einkommens – also etwas höher als das westdeutsche Rentenniveau. Salopp gefragt: im Prinzip könnten die Ostdeutschen doch gleich die Rente beantragen?

Schabowski:

Das ist natürlich zynisch formuliert. Die Konsumfähigkeit oder der Lebensstandard der Menschen hängt elementar mit dem eben Gesagten zusammen. Auch der Staat kann nur die Zuwendungen – ob für Soziales, Kultur, Bildung, Polizei oder Bundeswehreinsätze – leisten, die ihm eine florierende Wirtschaft in Gestalt von Steuern sowohl der Unternehmen wie der Arbeitnehmer ermöglicht. Deshalb steht am Anfang und am Ende allen Reformstrebens die Frage: bringt es mehr Arbeit, schafft es mehr Arbeitsplätze? Alles andere hieße das Pferd beim Schwanze aufzuzäumen. Selbst wir sozialistischen Wirtschaftsamateure haben das irgendwie geahnt. Deshalb lautete eine strapazierte Plan-Parole: “Wie wir heute arbeiten, werden wir morgen leben..“ Könnte sogar ’nen kapitalistischen Tauglichkeitsstempel bekommen.

TP:

Das ifo-Institut will bei einer Umfrage nun herausgefunden haben, daß es noch ca. 55 Jahre dauere, bis die Ostdeutschen rund 90 Prozent des Westniveaus erreicht haben. Hätten sie das nicht auch im Sozialismus bis dahin erreichen können?

Schabowski:

Also, Statistik genieße ich immer mit Vorsicht. Von dem amerikanischen Wirtschaftswissenschaftler Levenstein stammt der Satz:

“Wenn man den Kopf in der Sauna hat und die Füße im Kühlschrank, sprechen Statistiker von einer angenehmen mittleren Temperatur.“ Wer kann schon solche wie die von Ihnen zitierte statistische Prophetie mit dem Zeithorizont eines halben Jahrhunderts auf ihren Wahrscheinlichkeitsgehalt überprüfen?
Und ob der Sozialismus das in 55 Jahren erreicht hätte – die Frage beantwortet sich damit, daß er 55 Jahre zuvor wegen Unvermögens von der Bühne gejagt worden ist.

TP:

War denn die ostdeutsche Wirtschaft wirklich so marode, wie es ununterbrochen behauptet wird?

Schabowski:

Sie war auf einem freien Weltmarkt nicht konkurrenzfähig. Das offenbarte sich vollends, als ihre Erzeugnisse nach der Währungsreform zu hundert Prozent gegen Valuta abzusetzen waren. Zuvor lebte sie überwiegend von Barter-Geschäften: Tausche mittelprächtige Maschinen gegen mittelprächtige Baumwolle o. ä. Das klappte nun nicht mehr.

TP:

Die Währungsreform ist wegen den dann aufgetretenen Absatzschwierigkeiten ostdeutscher Produkte auch nicht gerade positiv aufgenommen worden.

Schabowski:

Die durch eine zentralistische Staatsbürokratie verursachten Produktivitäts- und Innovationsdefizite sind daran schuld. Die Leistungsfähigkeit der Menschen war nicht geringer als im Westen. Ja sie mußten sogar mehr Findigkeit entwickeln und aufbieten, um bei unzulänglichen Voraussetzungen bestimmte Produktionsziele zu erreichen, weil es an allem Möglichen mangelte. Mancher Altbundesbürger hätte in ähnlicher Lage genervt das Handtuch geworfen. Die allgemeine Schwäche der realsozialistischen Wirtschaft wurzelte darin, daß jede kleine Abweichung vom Plan, jede Neuentwicklung zentral genehmigt werden mußte. Wenn es überhaupt zu einer Genehmigung kam, brauchte die meist anderthalb oder zwei Jahre. In dieser Zeit hatten kapitalistische Konkurrenten neu aufkommende Marktbedürfnisse schon zweimal bedient.

TP:

Wie erklären Sie sich eigentlich, daß es gleich zwei ostdeutsche Politiker (Angela Merkel und zeitweilig Matthias Platzeck) geschafft haben, höchste politische Spitzenpositionen im vereinten Deutschland zu besetzen? Anachronismus oder Zeichen der Hoffnung in einer nicht gerade hoffnungsvollen Situation?

Schabowski:

Da Ossis keine Aliens sind, sondern mit gleichen Fertigkeiten und Talenten ausgestattet sind wie ihre westlichen Schwestern und Brüder, hat mich das nicht überrascht. Oder: Nach anderthalb Jahrzehnten wird es nun mal Zeit, daß auch sie politische Spitzenplätze einnehmen. Es wird sich zeigen, daß sie Treffer- oder Fehlerquoten aufweisen wie die bisherigen Pendants “von drüben“.

TP:

Der Rechtsradikalismus zeigt sich insbesondere im Osten der Republik. Rechte sind dort auch in drei Länderparlamenten vertreten. Wo sehen Sie die Ursachen?

Schabowski:

Wenn Neonazis in demokratische Parlamente Einzug halten, ist das bei unserer geschichtlichen Erfahrung schon alarmierend. Andererseits: Brauner Bodensatz findet sich inzwischen in vielen Staaten. Die Demokratie vermag nicht jederzeit allen Bedürfnissen und Interessen der Menschen gerecht zu werden, Da bleibt immer Raum für Unzufriedenheit, Wut, Protest, nach links wie nach rechts und Ansatz für Bauernfänger extremer Couleur. Demokratie ist nicht das Paradies. Sie bietet in einer von Widersprüchen, von Interessengegensätzen durchfurchten Gesellschaft aber den Annäherungsspielraum für Lösungen. Wenn zu viele Bürger ihr Wahlrecht nicht wahrnehmen, erhöhen sie relativ das Gewicht der braunen Randerscheinungen. Das muß jeder Wähler an jedem Wahltag bedenken.

TP:

Welche Pläne hat der Privatmann Schabowski für die nächste Zeit?

Schabowski:

Wenn man auf die 78 zugeht und die Fragwürdigkeit von Planwirtschaft erlebt hat, scheint Planung weniger wert als die Fähigkeit zu haben und zu bewahren, auf Unvorhersehbares noch einigermaßen reagieren zu können.

Interview: Dietmar Jochum, TP Berlin

Foto/Bildquelle: TP Presseagentur Berlin/Gerald Wesolowski

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