Den Opfern muß Gerechtigkeit werden.

TP-Interview mit Konrad Weiß.

TP: Herr Weiß, inwiefern ist die DDR-Vergangenheitsbewältigung, so wie sie derzeit vor den bundesdeutschen Gerichten betrieben wird, Ihrer Meinung nach oder Ihres Wissens von der DDR-Volkskammer legitimiert worden?

Weiß: Ich bin ja ebenso Mitglied der Volkskammer wie auch Mitglied des Runden Tisches gewesen. Wir hatten den ganz klaren Auftrag der DDR-Bevölkerung, 1990 – da war die Stimmung so, da war selbst das Neue Deutschland voller solcher Probleme -, uns mit dem auseinanderzusetzen, was an Unrecht in der DDR geschehen ist. Entsprechende Gesetze sind von der Volkskammer verabschiedet worden und entsprechende Gesetze sind weiter geltend durch den Einigungsvertrag in das gesamtdeutsche Recht überführt worden. Insofern ist das, was jetzt geschieht – ich will das nicht juristisch bewerten, sondern nur politisch – der Auftrag der DDR-Bevölkerung. Denken Sie an eine der allerersten Losungen – die war damals: Stasi in den Tagebau. Die Stasi-Leute haben es heute viel komfortabler. Kaum jemand ist im Tagebau gelandet. Aber was moralisch dahintersteht, das haben wir versucht, z.B. durch das Stasi-Unterlagengesetz, zu verwirklichen.

TP: Die Bewertung über das Juristische können wir nun aber nicht außen vorlassen. In der Volkskammer wurde ja beschlossen, daß Straftaten, die in der DDR begangen wurden, nur nach DDR-Recht verfolgt werden können. Heute beklagen sich nun diejenigen, die z.B. wegen der Toten an Mauer und Grenze vor Gericht stehen, daß eben nicht nach DDR-Recht geurteilt wird, denn die Schüsse an Mauer und Grenze seien nach DDR-Recht gedeckt gewesen, wenn jemand sozusagen die Grenze verletzen wollte. Demzufolge könnte nur DDR-Recht zugrunde gelegt und sie nicht bestraft werden.

Weiß: Hierin gibt es nach meiner Auffassung noch immer eine Lücke im Völkerrecht. Ich meine, das Völkerrecht sollte es ermöglichen, daß Straftaten gegen die Menschlichkeit und gegen die Menschenrechte auch nach dem Zusammenbruch eines totalitären Regimes verfolgt werden können – und zwar auch dann, wenn es den Staat, in dem diese Verbrechen geschehen sind, nicht mehr gibt. Nach 1945 ist das durch die Alliierten, durch den Nürnberger Gerichtshof geschehen. Das war damals übrigens bei vielen Juristen ebenso umstritten, wie es die heutigen Versuche sind, das in der DDR geschehene Unrecht juristisch zu würdigen.

TP: Sie haben die Lücke im Völkerrecht angesprochen. Wird diese Lücke heute nicht irgendwie – ich spreche jetzt mal für die, die das kritisieren – rechtswidrig geschlossen?

Weiß: Nein, es sind ja Verbrechen gegen die Menschlichkeit, um die es hier geht. Es sind die Toten an der Mauer, es sind die Verfolgten, die im Staatssicherheitsgefängnis ihre Gesundheit, ihr Leben vielleicht verloren haben – auch das hat es ja gegeben. Den Opfern muß Gerechtigkeit werden. Und das sind nun zum Teil sehr unbefriedigende juristische Konstruktionen, nach denen das geschieht – wie zum Beispiel im Fall Mielke, der dann eben aufgrund eines Doppelmordes, den er vor fünfzig Jahren begangen hat, verurteilt wurde, aber nicht wegen der vielen, vielen Untaten, die er nachher begangen hat. Aber der moralische und politische Anspruch auf eine Wiedergutmachung, auf eine Rechtfertigung der Opfer ist auf jeden Fall gegeben. Mir fehlt bei den Verantwortlichen der DDR – nicht nur in diesem Manifest (vergl. die in diesem Buch S. 697 ff. abgedruckte Erklärung von Dez. 1997 von Gerlach, Maleuda, Florin u.a., Anm. D. Verf.) – ein deutlicheres Eingehen auf die Opfer, ein Verantwortungs- und Schuldbewußtsein, ein wirkliches Mitleid mit den Opfern. Wenn gesagt wurde, die DDR-Grenze war eine Grenze wie jede andere, dann ist das eine Lüge. Ich kann da als ein Mensch, der vom ersten bis zum letzten Tage des Bestehens der DDR in diesem Lande gelebt und das mitgemacht hat, einfach nur sagen: Das ist eine Lüge, Herr Florin.

TP: Vor ein paar Tagen habe ich auf einer Karikatur den Spruch gelesen: Wir haben vierzig Jahre lang gebraucht, um den Mielke-Prozeß vorzubereiten, deshalb hatten wir keine Zeit, die Nazivergangenheit zu bewältigen. Ist bei der Verfolgung von DDR-Unrecht nicht auch ein bißchen Heuchelei mit im Spiele?

Weiß: Es gab ganz sicher in der Bundesrepublik ein großes Defizit in der Verfolgung von Naziverbrechen. Aber es gab dieses Defizit auf viel unappetitlicherer Weise auch in der DDR – die sich doch selbst als antifaschistischen Staat definiert hatte. In der Gauck-Behörde sind stapelweise Akten gefunden worden von nationalsozialistischen Verbrechern, die nie vor Gericht gestellt worden sind. Ich bin selbst einem Fall nachgegangen, dem Fall der KZ-Aufseherin Schimming, die bis heute unbehelligt lebt. Obwohl es in einigen Fällen Rechtshilfeersuchen aus befreundeten Ländern, aus Polen oder aus der Tschechoslowakei, auch aus der Bundesrepublik gegeben hat, ist man dem nicht nachgegangen. Man hat das Wissen über diese NS-Verbrechen offensichtlich benutzt, um Menschen gefügig zu machen und sie für das System zu benutzen. Oder um sie dann zu verurteilen, wenn es der SED aus propagandistischen Gründen angebracht schien.

Oder denken Sie nur an die oft fragwürdigen Prozesse, die in den 50er Jahren stattgefunden haben, z.B. der Waldheim-Prozeß. Es ist heute offenbar, daß diese Prozesse mit rechtsstaatlichen Grundsätzen nichts zu tun hatten. Da sind natürlich auch ehemalige NS-Straftäter verurteilt worden. Aber ebenso sind völlig unschuldige Bürgerinnen und Bürger, die in den Nachkriegswirren verhaftet worden waren, hingerichtet oder in Speziallager und Gulags verschleppt worden. Da muß man schon sehr differenzieren. Es wird Ihnen auch niemand in der Bundesrepublik sagen, daß die Bewältigung der nationalsozialistischen Vergangenheit ein glänzendes Kapitel war. Wir müssen doch lernen aus dem, was damals geschehen ist. Wir müssen auch wirklich begreifen, daß man ein totalitäres System – und die DDR war ein solches – eben nicht einfach abhaken kann, sondern daß man sich mit dieser Vergangenheit auseinandersetzen muß, will man in der Zukunft etwas besser machen. Und nur darum geht es doch, daß man sich damit auseinandersetzt, und dann muß man diesen schmerzlichen Prozeß auch angehen.

TP: Über die Art der DDR-Vergangenheitsbewältigung ist viel gesagt worden – wollen wir da mal jetzt einen Strich darunter ziehen. Einen Strich ziehen will auch Friedrich Schorlemmer. Zum 9. Oktober 1999 fordert er eine Generalamnestie. Wäre das ein gangbarer Weg, um die diese zermürbende Diskussion abzuschließen, die heute noch – teils überwuchernd – stattfindet?

Weiß: Solange es Menschen gibt, die noch um Anerkennung ihrer Verfolgung ringen, daß sie Entschädigung bekommen für die Wochen, Monate und Jahre, die sie in Gefängnissen der DDR zugebracht haben, solange es Menschen gibt, die um ihre Kinder – Söhne und Töchter – weinen, die an der Mauer erschossen worden sind und wo die Täter, die Mörder nicht hinter Gitter sind, solange kann es eine solche Versöhnungsgeste nicht geben. Und Schorlemmer hat ja auch – da hat er sich später auch revidiert – gefordert, die Akten der Gauck-Behörde ins Feuer zu werfen. Ich glaube, das mit der Generalamnestie sollte er besser auch revidieren.

TP: Ist es damit getan, Gerechtigkeit wiederherzustellen, indem Einzelpersonen verurteilt werden – mag sein, daß das in dem einen oder anderen, vielleicht auch in allen Fällen gerechtfertigt ist, will ich jetzt aber nicht beurteilen -, wäre da nicht einfach mehr nötig, um den Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen – zum Beispiel eine Art Genugtuungsfunktion von staatlicher Seite, Entschädigungen, in welcher Form auch immer?

Weiß: Das ist völlig meine Auffassung. Und deswegen finde ich das auch so heuchlerisch, wenn hier von denjenigen, die als Teil des Systems daran beteiligt waren und eine Rente, eine gute Rente beziehen, von Strafrente gesprochen wird. Die überwiegende Mehrzahl der Bürgerinnen und Bürger der DDR bekommt weniger und wird auch in Zukunft weniger Rente bekommen als die ehemals hoch dotierten und auch heute nicht schlecht bezahlten Rentner, die hier gesessen haben (Weiß meint die Verfasser der o.g. Erklärung, die am 10. 2. 1998 eine Pressekonferenz darüber abhielten). Doch wesentlicher als Entschädigungen ist die moralische Genugtuung der Opfer, und dazu gehört, daß ihre Verfolger sich vor Gericht verantworten müssen. Die Grenzen, die der Rechtsstaat dabei setzt, ist für viele Opfer des realen Sozialismus nur schwer zu verstehen und schwer zu ertragen und wird als neuerliche Demütigung empfunden. Darin hat die friedliche Revolution versagt.

Interview: Dietmar Jochum, TP Berlin

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