„Denken wie ein Philosoph, aber reden wie ein Bauer“.

Am 9. Juni 2018 beging  das Kammergericht mit einem feierlichen Festakt  an seinem zeitweiligen Sitz im Jüdischen Museum in der Berliner Lindenstraße sein 550. Jubiläum, und seine heutigen Nachfahren erinnerten an seine wechselvolle Geschichte. Sie wurden von dem Präsidenten des Kammergerichts, Dr. Bernd Pickel, in einer Eröffnungsrede begrüßt.

An der Feier nahmen neben Persönlichkeiten aus allen Bereichen der Justiz, der Politik und der Wissenschaft aus dem In- und Ausland teil, darunter die Bundesministerin der Justiz und für Verbraucherschutz Dr. Katarina Barley, der Generalbundesanwalt Dr. Peter Frank und der Berliner Senator für Justiz, Verbraucherschutz und Antidiskriminierung Dr. Dirk Behrendt,  der ehemalige Verfassungsgerichtspräsident Prof. Dr. Hans-Jürgen Papier, auch Botschafter bzw. Botschaftsangehörige aus Kroatien, Russland, der Slowakischen Republik  und Spanien, Mitglieder des Bundestags und des Berliner Abgeordnetenhauses sowie aus dem Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, Repräsentantinnen und Repräsentanten europäischer und deutscher Gerichte, darunter der Berliner obersten Gerichte aller Fachgerichtsbarkeiten und insbesondere natürlich der  Oberlandesgerichte aus Deutschland, den Nachbarländern  bis hin zu Argentinien sowie die Leitungsebenen zahlreicher Institutionen, waren anwesend.

„Die Richter des Kammergerichts sind stolz auf ihr Gericht“, so Prof. Johannes Tuchel, Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin sowie Geschäftsführer der Trägerstiftung, bereits in einer Dokumentation über das Kammergericht:

„Es ist das älteste heute in Deutschland arbeitende Gericht. Es verfügt über einen besonderen Namen und hebt sich damit von den übrigen Oberlandesgerichten ab. Und seine Richter haben im 18. Jahrhundert den Weisungen des Königs in dem berühmten Müller-Arnold-Fall (https://www.google.com/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=1&cad=rja&uact=8&ved=0ahUKEwiDkcv1rc_bAhUBnhQKHfqgAdMQFggnMAA&url=https%3A%2F%2Fde.wikipedia.org%2Fwiki%2FM%25C3%25BCller-Arnold-Fall&usg=AOvVaw1fmJMgi1jVtz-om6S_QFqO) widerstanden, ließen sich lieber ins Gefängnis werfen und haben damit einen unschätzbaren Beitrag für die richterliche Unabhängigkeit geleistet. Das sei die eine Seite der Medaille. Es gibt aber auch eine weniger glanzvolle Vergangenheit“, so Tuchel.

Mit ihr befasste sich der Autor Johannes Tuchel  in seiner Abhandlung über die Todesurteile des Kammergerichts 1943 bis 1945 (Lukas Verlag, Berlin 2016). Er ermittelte für diese Zeit bisher 69 Todesurteile, die die Strafsenate des Kammergerichts als verlängerter Arm des von den Nationalsozialisten errichteten „Volksgerichtshofs“ gefällt haben.

„Die Tatvorwürfe stehen dabei in erschreckendem Gegensatz zu den verhängten Strafen: finanzielle Unterstützung von Widerstandsgruppen, Teilnahme an Veranstaltungen, Verteilen von Flugblättern, Verbreiten von Auslandsnachrichten. Eine erschütternde Bilanz für das alte, stolze Gericht!“, so Johannes Tuchel.

Wie hatte es soweit kommen können?, fragte Tuchel in seiner Dokumentation.

„Mehrere Umstände mussten zusammenkommen, um ein rechtsstaatlich arbeitendes Gericht in ein Werkzeug des nationalsozialistischen Terrors zu verwandeln: Die Gesetzeslage musste umgeformt und auf die diktatorische Zieldurchsetzung eingerichtet werden.

Und die an die Spitze des Gerichts berufenen Personen mussten bereit sein, dieses Unrecht durchzusetzen. Beides war der Fall. Bereits im April 1933 reichte der amtierende Präsident Eduard Tigges sein Gesuch um Verabschiedung ein und verließ das Gericht. Im Juni übernahm mit ausdrücklicher Zustimmung der neuen Machthaber ein neuer Präsident die Leitung des Gerichts: Wilhelm Hölscher. Er übte sein Amt bis zu seinem Ruhestand im Jahr 1943 aus und nahm während seiner Amtszeit an der so genannten Euthanasie-Konferenz im Reichsjustizministerium teil“, erinnert Tuchel in seiner Dokumentation weiter.

550 Jahre Kammergericht dokumentieren die Entwicklung des Rechtsstaats in Berlin, Kurbrandenburg, Preußen und der Bundesrepublik Deutschland, sagte Bundesjustizministerin Katarina Barley in ihrer Begrüßungsrede.

Sie zeigen auch, so die Justizministerin weiter, dass diese Entwicklung keineswegs auf einer geraden Linie verlief und der Rechtsstaat immer wieder mit Widerständen, Rückschlägen, Anfeindungen und Angriffen zu kämpfen hatte, konstatierte Barley den Verlauf einer leidvollen Geschichte, den das oberste Gericht Berlins in seinen jeweiligen politischen Konstellationen durchlief.

Insbesondere erinnerte sie dabei an die Nazizeit, als im Plenarsaal des Kammergerichts in der Elßholzstraße in Schöneberg die Schauprozesse des Volksgerichtshofs gegen die Verschwörer vom 20. Juli 1944 stattfanden.

„Der Volksgerichtshof hat allein im Zusammenhang mit dem 20. Juli mehr als 100 Todesurteile gefällt. Kaum einer der vielen Juristen, die sich als Richter oder Staatsanwälte an der Simulation von Recht vor dem Volksgerichtshof beteiligten, wurde von der Nachkriegsjustiz belangt. Nicht ein einziger von ihnen wurde von einem bundesdeutschen Gericht rechtskräftig verurteilt“, monierte Barley die Inkonsequenz, nationalsozialistische Juristen nach dem Krieg und dem sog. Nationalsozialismus rechtlich zu belangen.

Barley erinnerte auch an die Ermordung Günter von Drenkmanns, der am 10. November 1974 von Mitgliedern der „Bewegung 2. Juni“ abends in seiner Wohnung erschossen wurde. Als oberster Richter Berlins war von Drenkmann das erste Opfer des Linksterrorismus in der Bundesrepublik.

Und es war das gleiche Kammergericht, so Barley, „das zum Ärger von Friedrich Wilhelm III. 1820 befand, dass Turnvater Jahn kein Staatsfeind sei, der die Jugend aufwiegelt. Verantwortlich für dieses Urteil war der wohl berühmteste Kammergerichtsrat: der Jurist und Dichter der Romantik E.T.A. Hoffmann“.

Der Berliner Justizsenator, Dirk Behrendt, erinnerte an einen Fall, der in der Zeit des Vormärzes spielt.

„Diese Zeit war geprägt durch die Pariser Julirevolution 1830 und das Hambacher Fest im Mai 1832. Im April 1833 versuchten Aufständische beispielsweise vergeblich mit einem Überfall auf Frankfurter Polizeiwachen eine Revolution in Deutschland in Gang zu setzen.

Mit harten Urteilen wendete sich das Kammergericht gegen diese politische Opposition – insbesondere gegen die Burschenschaften.

Höhepunkt dieser juristischen Gegenwehr war der 4. August 1836: an diesem Tag fällte das Kammergericht 39 Todesurteile gegen Burschenschaftler wegen Hochverrats. Mit insgesamt 206 Strafurteilen, überwiegend Haftstraßen, führte das Kammergericht an diesem 4. August 1836 den härtesten Schlag gegen die politische Opposition im Vormärz. Diese harten Urteile stießen jedoch auch bei Konservativen auf Unverständnis. Letztlich änderte der König die Todesurteile in Haftstrafen ab.“

Der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts Hans-Jürgen Papier stellte in seiner Festrede heraus, wie wichtig es gerade in Zeiten ist, in denen der Rechtsstaat zunehmend auch in Ländern aus unserem Kulturkreis in Gefahr gerät,  die Unabhängigkeit der Justiz  zu wahren. Um dies zu gewährleisten, sei  „eine höhere Wertschätzung der Dritten Gewalt durch die Politik, die sich nicht allein, aber auch in einer verbesserten personellen und sächlichen Ausstattung sowie in einer der Stellung und Verantwortung des Richters angemessenen Vergütung widerspiegelt“, erforderlich.

Die drohende Überforderung der Dritten Gewalt in gewissen Bereichen werde aber noch durch eine weitere Entwicklung gefördert. Oftmals werde die Gesetzgebungsmaschine von der Politik angeworfen, wenn wirkliche oder auch nur vermeintliche Skandale auftreten. Der Ruf nach neuen, immer komplizierteren und detaillierteren Gesetzen sei dann unüberhörbar. Die neuen Regeln seien dann nicht selten so kompliziert und so wenig durchdacht, dass sie in der Praxis kaum oder doch nur schwer justiziabel seien. Nicht selten gelte daher: Je mehr Gesetze, desto weniger gutes und vollziehbares Recht. Bisweilen verstärkte also eine Überregulierung von Lebensbereichen die Vollzugsdefizite und verletze damit den Grundsatz der Unverbrüchlichkeit und uneingeschränkten Durchsetzbarkeit geltenden Rechts. Dies wiederum werde zu einem Verlust von Vertrauen der Bürger in den Staat und in seine Institutionen führen. Staatsverdrossenheit und Politikverdrossenheit seien die Folge. Also: Mehr Gesetze, weniger Recht? Selbstverständlich müsse dies kein Automatismus sein. Eine diesbezügliche Gefahr lasse sich aber kaum leugnen. Ein Gesetzgeber, der auf Verständlichkeit und Transparenz, Systemgerechtigkeit und Folgerichtigkeit, aber auch auf Akzeptanz und vor allem konsequente Durchsetzung seiner Normen achte, sollte deshalb von ganz allein zu einer – auch quantitativ – maßvollen Gesetzesproduktion gelangen.

Unerlässliche Vertrauensbasis für eine im Namen des Volkes entscheidende staatliche Gerichtsbarkeit sei aber vor allem eine ganz simple Erkenntnis, die der große deutsche Rechtswissenschaftler Rudolf von Ihering im 19. Jahrhundert mit der bildersprachlichen Formulierung zum Ausdruck brachte: „Denken wie ein Philosoph, aber reden wie ein Bauer“. Papier: „Ich muss zugestehen, dass ich selbst daran zweifle, dass es mir heute und hier gelungen ist, nach dieser Maxime zu verfahren. Aber es wäre für mich schon ein Erfolg, wenn Sie nicht den Eindruck gewonnen haben, dass mein Vortrag genau umgekehrt angelegt war.“

TP Presseagentur Berlin/dj

550 Jahre Kammergericht: Rede der Bundesjustizministerin Dr. Katarina Barley.

Rede des Berliner Justizsenators Dr. Dirk Behrendt zu 550 Jahren Kammergericht.

Lage und Zukunft der Dritten Gewalt in Deutschland und Europa.

Fotoquellen und Montage: TP Presseagentur Berlin

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