Der Deeskalator hinter Gittern.

Von Tino Wagner.

Scheppernd rollt der Essenwagen über einen Flur der Untersuchungshaftabteilung in Lüneburg. Nasser Abdullah geht zur nächsten Haftraumtür und schließt sie auf. Der Gefangene dahinter steht bereits erwartungsvoll im Türrahmen. Ein kurzer Blick auf das Essen, dann die Frage: „Ist das auch halal?“ „Keine Sorge, das ist erlaubt, es ist Rindfleisch“, erwidert Abdullah. Der JVA-Bedienstete kann die Frage vielleicht besser nachvollziehen als jeder andere. Als Abdullah vor 15 Jahren nach Deutschland kam, hatte er selbst viele Fragen und große Träume. Dass er heute als Justizvollzugsangestellter in der JVA Uelzen arbeitet und Seminare zur Sensibilisierung von Polizisten im Umgang mit ausländischen Mitbürgern durchführt, hätte er damals jedoch nicht geglaubt.

Abdullah wuchs in einem palästinensischen Flüchtlingslager im Süd-Libanon auf. Seine Eltern lebten dort bereits seit 1967, nachdem Israel während des Sechs-Tage-Krieges den Gazastreifen, das Westjordanland und die syrischen Golanhöhen besetzt hatte. Das Lager entwickelte sich mit der Zeit zu einem dichtbesiedelten Labyrinth aus engen Straßen und Häusern aus Blech, Stein und Holz. Die Abwasserkanäle überfluten regelmäßig, die Stromleitungen ziehen sich wie ein Spinnennetz durch die Gassen und oftmals bricht die Trinkwasserversorgung zusammen. Palästinenser, berichtet Abdullah, werden toleriert, aber nicht integriert. „Eine Arbeit oder sogar Eigentum außerhalb des Lagers ist ausgeschlossen.“ Der Alltag sei geprägt von Armut, Gewalt und Korruption. Die Eltern sorgten sich um die Zukunft ihres Kindes.

Auf Drängen seines Vaters verließ Abdullah den Libanon und ging nach Deutschland. Als geduldeter Asylbewerber war es anfangs nicht einfach: Einen Deutschkursus musste er abbrechen, da die Kostenübernahme nicht geklärt war. Stattdessen besorgte er sich Bücher, um die Sprache im Selbststudium zu erlernen. Später wohnte er in einer rund zehn Quadratmeter großen Kellerwohnung ohne Fenster. Eine Arbeitserlaubnis hatte er zu dieser Zeit noch nicht, die finanziellen Mittel waren gerade ausreichend. Aber Abdullah gab nicht auf, er wollte sein Leben selbst gestalten und ohne die Unterstützung anderer leben. „Steine liegen immer auf dem Weg, man muss sie wegräumen, auch wenn es schwer ist“, sagt er lächelnd. „Lernen und arbeiten, Stufe für Stufe wollte ich die deutsche Staatsbürgerschaft verdienen.“

Kraft und Motivation fand er im Sport. Er arbeitete als Trainer und internationaler Kampfrichter für Karate, Kick- und Thaiboxen und absolvierte eine Ausbildung zum Sport- und Fitnesskaufmann. Im sportlichen Bereich konnte er zahlreiche Titel erlangen und brachte es sogar zum Vizeweltmeister im Kickboxen. 2014 erhielt er vom Oberbürgermeister der Hansestadt Lüneburg die ersehnte Einbürgerungsurkunde.

In den folgenden Jahren bekam Abdullah erstmals einen Einblick in den Gefängnisalltag: Als Sportübungsleiter trainierte er die Inhaftierten in der Untersuchungshaftabteilung Lüneburg. Hier entstanden die ersten Freundschaften zu Bediensteten. An einer Arbeit im Polizei- oder Justizdienst war Abullah schon lange interessiert, er wollte „Gutes tun und anderen helfen.“ Im Libanon hatte er weniger gute Erfahrungen gesammelt. So musste er mit ansehen, wie sein Nachbar eines Tages von der Polizei abgeholt wurde. Begleitet von Beleidigungen wurde dieser ins Auto geprügelt, während seine Frau und die Kinder schrien und weinten. Willkür und Gewalt statt Kommunikation. Sein Wissen über die dortigen Verhältnisse und die damit verbundenen Besonderheiten im Umgang mit unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen wollte Abdullah mit anderen teilen und es vor allem besser machen.

Er bewarb sich um einen Ausbildungsplatz in der Justizvollzugsanstalt Uelzen. Während er den Sporttest problemlos absolvierte, bereitete ihm der Rechtschreibtest Probleme. Die Beamtenlaufbahn blieb ihm letztlich verwehrt.

Abdullah, der Deutsch, Englisch und Arabisch spricht, konnte schließlich als Justizvollzugsangestellter eingestellt werden. „Es wäre tragisch, wenn wir Menschen mit seinem Potenzial ziehen lassen müssten“, begründet Sabine Hamann, Anstaltsleiterin der JVA Uelzen, ihre Entscheidung. Seine Aufgaben unterscheiden sich nicht von denen seiner Kollegen und Kolleginnen, aber insbesondere arabische Gefangene vertrauen ihm aufgrund der kulturellen Herkunft und können ihre Fragen notfalls auch in ihrer Muttersprache formulieren.

Als Mitglied im Kriminalpräventionsrat Lüneburg reifte in ihm die Idee für ein Konzept, um Jugendliche aufzufangen und Ordnungshüter im Umgang mit arabischen Mitmenschen zu schulen. Häufig gebe es Missverständnisse, da viele mit dem Kopf noch im Ausland sind. Wichtig sei ein gegenseitiger freundlicher und respektvoller Umgang. In Zusammenarbeit mit der JVA Uelzen und der Lüneburger Polizei konnte die Maßnahme erarbeitet und bereits mehrfach erfolgreich durchgeführt werden. In den Schulungen geht es beispielsweise um das Phänomen der Blutrache, Geschlechterrollen und die Ursachen für Angriffe auf Ordnungshüter, damit mögliches Konfliktpotenzial frühzeitig erkannt wird. „Ich will kulturelle Unterschiede und Verhaltensweisen transparent darstellen, damit meine Kollegen nicht gefährdet werden“, betont Abdullah. Er kam nach Deutschland „in der Hoffnung, alles richtig zu machen“ und seine Eltern mit Stolz zu erfüllen. Sie leben noch immer in dem Flüchtlingslager, stehen in regelmäßigem Kontakt mit ihrem Sohn und freuen sich über den rechtschaffenen Weg, den er gegangen ist. So wie er es ihnen versprochen hatte.

Erstveröffentlichung: Landeszeitung der Lüneburger Heide 25.04.2019

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