Die Zukunft der sechs Westbalkanländer liegt in der Europäischen Union, so Bundeskanzler Scholz bei der Westbalkankonferenz in Berlin. Es sei „höchste Zeit“, dass den Worten in Sachen EU-Beitrittsperspektive auch konkrete Taten folgten.
Er wird den Berlin-Prozess „gerne und mit höchster Priorität“ fortsetzen, sagte Bundeskanzler Olaf Scholz am Montag in einer Pressekonferenz mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen beim Gipfel des Berlin-Prozesses zum Westbalkan im Bundeskanzleramt in Berlin.
Damit Europa in der EU zusammenwachsen kann, hat Deutschland vor zehn Jahren den Berlin-Prozess geschaffen. Das Ziel lautete, alte Gräben auf dem Balkan zu überwinden, neue Verbindungen zu knüpfen und die sechs Westbalkanländer – Albanien, Bosnien und Herzegowina, Kosovo, Nordmazedonien, Montenegro, Serbien – enger miteinander zu verbinden.
Der Begriff „Westbalkan“ hat neben der geografischen auch eine politische Bedeutung. Er wurde beim EU-Gipfel 1998 in Wien in den EU-Sprachgebrauch eingeführt und bezieht sich auf diejenigen Staaten der Balkanhalbinsel, die noch keine EU-Mitglieder sind. Daher werden neben Albanien momentan die jugoslawischen Nachfolgestaaten Bosnien und Herzegowina, Kosovo, Nordmazedonien, Montenegro sowie Serbien zu den Westbalkanstaaten gezählt – nicht jedoch Slowenien und Kroatien, die der EU 2004 beziehungsweise 2013 beigetreten sind.
Das Wichtigste aus dem Pressekonferenz in Kürze:
- Aktionsplan für Regionalen Markt: Beim Treffen unterzeichneten die Gipfel-Teilnehmer einen „Aktionsplan für den Gemeinsamen Regionalen Markt“, um die wirtschaftliche Zusammenarbeit noch enger zu gestalten.
- Zusammenarbeit stärken: Weitere Abkommen und Erklärungen der Westbalkankonferenz betreffen die Förderung des Studentenaustausches, die Bekämpfung irregulärer Migration und organisierter Kriminalität oder auch eine Verpflichtung, die Grüne Agenda für den Westbalkan bis 2030 zügiger umzusetzen. Deutschland unterstützt letzteres mit der Regionalen Klimapartnerschaft Deutschland-Westbalkan.
- Gräben überwinden: Mit Blick auf den Normalisierungsdialog zwischen Serbien und Kosovo, der „nicht zufriedenstellend“ laufe, appellierte der Kanzler, Konflikte der Vergangenheit zu überwinden. Auch in anderen Ländern sei nationalistische, spaltende Rhetorik eine Gefahr für das Zusammenwachsen und das Zusammenleben in Frieden und Wohlstand. Umso wichtiger sei die regionale Initiative zu gutnachbarschaftlichen Beziehungen, die alle sechs Westbalkanstaaten heute angenommen hätten.
Lesen Sie hier die Mitschrift der Pressekonferenz:
(Die Protokollierung des fremdsprachlichen Teils erfolgte anhand der Simultandolmetschung)
Bundeskanzler
Olaf Scholz: Meine Damen
und Herren, liebe Ursula, die sechs Staaten des westlichen Balkans sind Teil
der europäischen Familie. Ihre Zukunft liegt in der Europäischen Union. Diese
Erkenntnis ist nun wahrlich nicht neu, sondern den sechs Staaten vor mehr als
20 Jahren von der Europäischen Union in Thessaloniki gegeben worden. Es wird
also höchste Zeit, dass diesen Worten auch konkrete Taten folgen.
Damit das geschieht, damit Europa in der Europäischen Union zusammenwachsen
kann, hat Deutschland vor nun auch schon zehn Jahren den sogenannten
Berlin-Prozess geschaffen. Seit 2014 bemühen wir uns, auf dem Westbalkan Gräben
zu überwinden, sie zuzuschütten, neue Verbindungen zu knüpfen und die sechs
Länder enger miteinander zu verbinden.
Mein Dank gilt an dieser Stelle zunächst meiner Vorgängerin, die diesen Prozess
seinerzeit ins Leben gerufen hat, einen Prozess, den ich gerne und mit höchster
Priorität fortsetze. Nicht zuletzt die Zeitenwende macht deutlich, wie wichtig
es ist, dass Europa zusammenwächst. Durch den Berlin-Prozess haben wir, die
Länder des westlichen Balkans und die europäischen Partner gemeinsam neuen
Schwung in der und für die Region erzeugt, geleitet von den Prinzipien der
Solidarität, der Gleichheit und der Kooperation.
Diese Prinzipien haben auch unser heutiges Jubiläumstreffen geprägt, ein Treffen,
bei dem wir wichtige Fortschritte erreicht haben, die konkret das Leben der
Bürgerinnen und Bürger in der Region erleichtern. Ein Beispiel ist der gerade
unterzeichnete Aktionsplan für den Gemeinsamen Regionalen Markt. Darin
vereinbaren die sechs Staaten eine noch engere wirtschaftliche Zusammenarbeit
für einen Wirtschaftsraum, der 17 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner
einschließt. Er wird helfen, und das ist mir persönlich sehr wichtig, die
Sozial- und Arbeitsstandards zwischen den Ländern der Region noch besser zu
koordinieren und die Mobilität zwischen den Staaten weiter zu erleichtern.
Ein zweites Beispiel ist das Mobilitätsabkommen zur Förderung des
Studentenaustausches. Das Abkommen legt fest, dass Studentinnen und Studenten
von Hochschulen oder auch Universitäten sich in der ganzen Region besuchen
können. So wächst eine Generation enger zusammen. Sie lebt, sie lernt und sie
studiert miteinander.
Außerdem ist heute eine gemeinsame Erklärung vereinbart worden, um bei der
Bekämpfung irregulärer Migration und organisierter Kriminalität enger
zusammenzuarbeiten, sowie ein Aktionsplan zur Bekämpfung von Plastikmüll und
eine Verpflichtung, die grüne Agenda für den Westbalkan bis 2030 zügiger
umzusetzen. Deutschland unterstützt das mit der regionalen Klimapartnerschaft
zwischen Deutschland und dem Westbalkan, die wir im vergangenen Jahr geschaffen
haben. Bereits die Hälfte der bis 2030 vorgesehenen 1,5 Milliarden Euro wird
bis Jahresende ausgezahlt sein.
All diese Beispiele belegen, wie der Berlin-Prozess konkret dabei hilft,
Grenzen zu überwinden – zwischen den Ländern und auch in den Köpfen. Wie
wichtig das ist, zeigt sich leider jeden Tag aufs Neue. Immer noch erschweren
Konflikte der Vergangenheit die Zusammenarbeit heute. Auch darüber haben wir gesprochen.
Der Dialog zur Normalisierung zwischen Serbien und Kosovo läuft nicht
zufriedenstellend. Ich bestehe beiden Partnern gegenüber darauf, dass sie die
eingegangenen Verpflichtungen vollständig umsetzen. Das ist wichtig für die
Bürgerinnen und Bürger und für eine Zukunft dieser beiden Länder in der
Europäischen Union. Auch in anderen Ländern müssen wir nationalistische,
spaltende Rhetorik feststellen. Das ist eine Gefahr für das Zusammenwachsen und
das Zusammenleben in Frieden und Wohlstand. Klar ist: Nur gemeinsam werden
diese Staaten der Europäischen Union beitreten können.
Umso wichtiger ist die regionale Initiative zu gutnachbarschaftlichen
Beziehungen, die alle sechs Westbalkanstaaten heute angenommen haben. Damit
betonen sie ihre Bemühungen um Versöhnung und partnerschaftliche Lösung von
Konflikten.
Gerade ist es gelungen, beim Mitteleuropäischen Freihandelsabkommen, CEFTA,
weiterzukommen. Das wird die regionale Zusammenarbeit auf ein neues Niveau
heben. Deutschland und der Sonderbeauftragte der Bundesregierung für den
westlichen Balkan, Manuel Sarrazin, haben sich seit mehr als einem Jahr für
diesen Schritt eingesetzt, und ich danke Kosovo dafür, im Vorfeld dieser
Entscheidung wieder dauerhaft einen Grenzposten für serbische Waren zu öffnen.
Das ist der Geist des Berlin-Prozesses – das Zusammenwachsen einer Region zu
fördern, die so viel mehr verbindet als trennt.
Meine Damen und Herren, wir blicken zurück – auf zehn Jahre Berlin-Prozess und
damit auf eine Erfolgsgeschichte. Ich bin entschlossen, sie mit großem
Engagement fortzuschreiben, und ich hoffe, dass es nicht noch einmal zehn Jahre
braucht, bis alle sechs Staaten endlich zu EU-Mitgliedern geworden sind.
Schönen Dank!
Jetzt hat die Präsidentin der Kommission das Wort, liebe Ursula!
Ursula von der Leyen, Präsidentin der Europäischen Kommission:
Herzlichen Dank! Guten Tag! Wir hatten ein sehr gutes Treffen. Herzlichen Dank,
lieber Olaf, dass du dieses Treffen ausgerichtet hast. Ich habe mich sehr
gefreut, hier am zehnten Jahrestag des Berlin-Prozesses teilzunehmen!
Zunächst einmal gab es Gelegenheit, auf ein Jahrzehnt des Fortschritts
zurückzublicken, zusammen mit unseren Partnern auf dem westlichen Balkan; denn
der Berlin-Prozess war immer der Architekt, der Befürworter und der Anker für ein
solides Band zwischen uns. Wir sind dankbar dafür.
Sehr viel hat sich verändert. Es gab viele Konflikte. Turbulenzen haben
innerhalb der Europäischen Union ein geschärftes Bewusstsein geschaffen, das
Bewusstsein, dass eine größere Union auch eine stärkere Union ist und dass es
unsere Verantwortung ist, neue Mitgliedskandidaten näher an uns heranzuführen.
Deshalb haben wir dem westlichen Balkan die gleichen Solidaritätsmaßnahmen
angedeihen lassen, die wir auch innerhalb der Union ergriffen haben.
Ein Beispiel ist die Energiekrise. Wir haben den Haushalten der Staaten auf dem
westlichen Balkan durch unser Energieunterstützungspaket in Höhe von einer
Milliarde Euro geholfen, mit den hohen Energiekosten umzugehen. Wir bauen jetzt
mit 30 Milliarden Euro im Rahmen eines Investitionsplans die Infrastruktur auf,
um den westlichen Balkan unabhängig zu machen. Des Weiteren haben wir ein
Programm zum Zivilschutz. Wir alle haben gesehen, dass es Waldbrände gab und
auch die Überschwemmungen in Bosnien-Herzegowina. Wir haben die Länder parallel
zum europäischen Pfad unterstützt.
Mein zweiter Punkt: Das war vor zehn Jahren nicht der Fall, aber heute ist die
Erweiterung ganz oben auf unserer Tagesordnung. Wenn wir in die Zukunft
blicken, dann sehen wir eine Zukunft, in der alle sechs Länder des westlichen
Balkans Teil der Europäischen Union sind. Um dorthin zu gelangen, müssen wir
Lehren aus der Erweiterungsrunde 2004 ziehen.
Die erste Voraussetzung ist die Anpassung und Übernahme unserer Werte, der
Respekt für Demokratie und die Rechtsstaatlichkeit.
Die zweite Bedingung ist die frühe wirtschaftliche Integration. Deshalb spielt
der Berlin-Prozess eine Schlüsselrolle. Er war immer die treibende Kraft hinter
der wirtschaftlichen regionalen Integration. Der Berlin-Prozess ist also eine
Förderung für den regionalen Markt geworden. Es ist wichtig, dass dieser
Gemeinsame Regionale Markt reibungslos funktioniert. Denn das ermöglicht es den
Ländern, Handel zu treiben, Innovationen voranzubringen und Arbeitsplätze zu
schaffen. Es bringt die Region näher an uns heran und die Wirtschaft näher an
unseren Binnenmarkt.
Ich begrüße also die Einigung, die auch auf Ebene von CEFTA gefunden wurde. Ich
begrüße insbesondere, dass Einschränkungen zu Exporten von Serbien nach Kosovo
aufgehoben werden. Ich beglückwünsche beide Seiten zu ihrem politischen Willen,
und ich gratuliere dir, Olaf, zum Erfolg in den Vermittlungsbemühungen. Denn
das ist ein konkreter Schritt hin zur Normalisierung. Ich begrüße heute auch
die Unterzeichnung des neuen Aktionsplans zum Gemeinsamen Regionalen Markt. Je
besser der Gemeinsame Regionale Markt funktioniert, desto besser werden die
Wirtschaften des westlichen Balkans in unseren Binnenmarkt integriert werden
können.
Das ist mein dritter und letzter Punkt. Wir brauchten eine Brücke zwischen dem
Gemeinsamen Regionalen Markt und dem Europäischen Binnenmarkt. Diese Brücke ist
unser Wachstumsplan für den westlichen Balkan, Investitionen in Höhe von sechs
Milliarden Euro. Es ist kein Zufall, dass ich diesen Wachstumsplan vergangenes
Jahr beim Gipfel in Tirana vorgestellt habe. Der Grund ist ganz einfach. Der
Wachstumsplan und der Berlin-Prozess sind miteinander verknüpft. Mit dem
Wachstumsplan öffnen wir die Tür zu bestimmten Sektoren des Binnenmarktes. Um
diese Öffnung zu nutzen, müssen die Länder des westlichen Balkans Reformen
voranbringen. Diese Reformen werden durch europäische Investitionen in jedem
einzelnen Land unterstützt. Der Fortschritt ist greifbar. Wir haben unsere
Partner gebeten, im Rahmen dieses Wachstumsplans ihre eigene Reformagenda zu
erarbeiten. Fünf von sechs Reformagenden werden diese Woche angenommen. Das
bedeutet, dass vor Jahresende Auszahlungen in Höhe von sechs Milliarden Euro im
Rahmen dieses Wachstumsplans getätigt werden können. Das wäre ohne den
Berlin-Prozess nie möglich gewesen. Die harte Arbeit im Rahmen des
Berlin-Prozesses ist eine Erfolgsgeschichte. Es ist eine lange Straße, aber wir
bewegen uns nach vorn.
Vielen herzlichen Dank, dass du den Berlin-Prozess heute hier ausgerichtet hast!
Frage: Herr Bundeskanzler, in Ihrer Eingangsrede sprachen Sie von einer
neuen Dynamik im Normalisierungsprozess zwischen Serbien und Kosovo. Wie
stellen Sie sich diese neue Dynamik konkret vor, und welche Schritte halten Sie
für entscheidend, um Fortschritte in diesem langwierigen Konflikt zu erzielen?
Meine zweite Frage geht an Sie beide. Den Berlin-Prozess gibt es seit zehn
Jahren. Es hat ein bisschen den Eindruck hinterlassen, dass das auf Kosten der
Demokratie in diesen Ländern gegangen ist. Milorad Dodik spricht immer noch von
einem Unabhängigkeitsreferendum. Serbien bekräftigt seine strategische
Partnerschaft mit Russland auch nach dem Ukrainekrieg. Gleichzeitig verlegt es
weiterhin Militär in die Nähe der kosovarischen Grenze.
Sind Sie sicher, dass der Berliner Prozess, der auch nationalistische Akteure
miteinbezieht, diese Kräfte nicht unbeabsichtigt stärkt? Wäre es nicht
sinnvoller, die Strategie zu überdenken und verstärkt die demokratischen Kräfte
in der Region zu unterstützen?
Bundeskanzler Scholz: Schönen Dank für die Frage. Zunächst einmal ist es
ganz klar: Wir sind sehr froh darüber, dass wir die Entwicklung des Gemeinsamen
Regionalen Marktes voranbekommen und dass wir jetzt dieses Abkommen
abgeschlossen haben. Sie konnten der Zeremonie ja beiwohnen. Das war für uns
sehr wichtig. Dazu mussten Serbien und Kosovo Voraussetzungen schaffen, damit
das auch tatsächlich möglich ist, zuletzt die Grenzöffnung.
Insofern ist da Dynamik in dieser Entwicklung. Wir haben auch Vereinbarungen,
die zwischen den Ländern abgeschlossen worden sind, wo wir immer nur sagen: Wir
wünschen uns, dass die jetzt vollständig auf beiden Seiten umgesetzt werden.
Denn was man nun tun muss, ist letztendlich schon zwischen allen besprochen.
Das ist eine gute Ausgangsposition, in der wir nicht verharren sollten, sondern
die Dynamik des heutigen Tages, an dem wir hier zusammengekommen sind, dann
auch für weiteren Fortschritt nutzen.
Insgesamt, glaube ich, kann man für diese Region insgesamt sagen
und nicht nur, was die beiden Länder betrifft: Wir müssen dafür Sorge tragen,
dass all diese Staaten, die sich irgendwann gemeinsam in der Europäischen Union
befinden wollen, nicht ständig versuchen, den Prozess mit bilateralen
Vorbehalten aufzuhalten. Es bleibt eine Verständigung zwischen der Europäischen
Union und dem einzelnen Land, und die muss „merit-based“ sein, die muss darauf
beruhen, dass man den europäischen Acquis erarbeitet, akzeptiert, im eigenen
Land einführt, und dann ist man sehr dicht beim Beitrittsprozess. Das werden
wir weiter unterstützen.
Ich glaube, hier ist sehr viel gelungen. Ohne die Arbeit, die wir gemeinsam
geleistet haben, aber auch viele andere, wäre das nicht möglich gewesen. Es ist
Prestige und Commitment, dass wir als Deutschland hier unbedingt investieren,
damit alle Staaten am Ende in der Europäischen Union landen.
Natürlich ist das ein Problem – das war ja die zweite Frage – , dass
es so lange dauert. 20 Jahre ist das nun seit der Entscheidung oder dem Angebot
in Thessaloniki her. Es braucht dann immer wieder Geduld, sich dranzumachen.
Und darum ist auch dieser Berlin-Prozess so wichtig, weil er in Wahrheit ein
klares Commitment darstellt. Alle wissen: Da sind welche, die wollen das
wirklich, auf die können wir uns verlassen, und wenn wir uns in unseren Ländern
anstrengen, dann wird sich das auch auszahlen. – Und darauf können sich
wirklich alle verlassen.
Präsidentin von der Leyen: Ich möchte dem noch etwas hinzufügen:
Natürlich haben wir in den letzten 20 Jahren eine lange Phase gesehen, in der Erweiterung
nicht auf der Tagesordnung stand im Gegenteil, sie war
ausgeschlossen. Das hat sich in den letzten Jahren komplett verändert. Ich muss
auch sagen, dass der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine Klarheit
geschaffen hat. Man muss sich entscheiden, dass man auf der richtigen Seite der
Geschichte stehen will, auf der Seite des Völkerrechts. Alle Länder, die sich
um EU-Mitgliedschaft bewerben, waren ganz klar und haben sich auf die Seite der
Demokratie und der Verteidigung des Völkerrechts gestellt.
Ein zweites Element, das abgesehen vom politischen Element wichtig ist, ist die
wirtschaftliche Entwicklung. Wir wissen, dass eine der Erfolgsgeschichten
innerhalb der Europäischen Union und der Erweiterung der Europäischen Union der
Zuwachs an BIP, an Wachstum und Wohlstand ist. Das ist der Grund, warum wir an
diesem Wachstumsplan arbeiten zusammen mit dem Berlin-Prozess, der
die Tür für den Zutritt zum Binnenmarkt teilweise öffnet, sodass mehr Handel
passieren kann und das einen positiven Effekt auf den Wohlstand in
diesen sechs Staaten haben wird.
Frage: Herr Bundeskanzler, ich hätte ganz gerne noch einmal nach dem
Handelsabkommen CEFTA gefragt. Vielleicht können Sie noch einmal kurz
erläutern, was die praktischen Vorteile sind. Denn die Ökonomen sagen ja, dass
diese sechs Länder von ihrer Wirtschaftsstruktur her so ähnlich sind, dass ein
Handelsvertrag zwischen ihnen nicht ganz so viel bringen könnte. Vielleicht
können Sie noch einmal erläutern, wo da die konkreten Vorteile sind.
Und an Sie beide noch einmal die Frage, weil Sie das jetzt eben betont haben,
nach dem Beitrittsdatum: Herr Bundeskanzler, Sie haben eben gesagt, dass diese
sechs Länder nur im Block beitreten können – wenn ich das richtig
verstanden habe, dann würde ich nachfragen, wie Sie das sehen – und das keine
weiteren zehn Jahre dauert. Heißt das, dass wir uns darauf einstellen können,
dass es Beitritte schon vor 2030 geben wird? Rumänien und Bulgarien sind ja
auch beigetreten, ohne dass alle Kriterien erfüllt waren. Danke.
Bundeskanzler Scholz: Noch einmal zu dem Abkommen, das da abgeschlossen
ist: Das ist natürlich notwendig. Es sind auch viele Dinge damit verbunden. Das
ist ja eigentlich das Irritierende. Das sind Länder, die nicht so groß sind,
die dicht beieinanderliegen und die mehr Handel mit Deutschland als
untereinander haben manchmal, nicht immer.
Aber es ist jedenfalls etwas, wo unglaublich viel zusätzliches Wachstum
generiert werden kann, wenn die rechtlichen Barrieren, die nun über die Jahre
entstanden sind, wo Dinge unterschiedlich geregelt sind, die einen einfachen
Austausch von Waren, Gütern und Dienstleistungen erschweren – auch von
Personen, die in anderen Ländern arbeiten wollen – , aufgehoben werden.
Das gilt auch für die Infrastruktur: ausreichende Grenzübergänge, die dann auch
funktionieren, wo man nicht ständig kontrolliert wird und im Stau steht. Dass
das alles dort passiert, hat etwas mit der Frage zu tun, dass wir auch
Infrastrukturen zwischen den Ländern weiterentwickeln, damit die Ressourcen
gemeinsam genutzt werden können. Und alles das ist mit diesen Dingen auf den
Weg gekommen.
Ansonsten bleibt es dabei, dass wir eine gemeinsame Perspektive für alle
entwickeln wollen. Aber es wird Länder geben, die sehr schnell fertig
werden das kann man schon absehen und alle Bedingungen
erfüllen; die werden wir nicht aufhalten. Das, glaube ich, ist niemandes Sicht
der Dinge. Aber alle müssen wissen, dass sie in einer gemeinsamen Zukunft sein
werden und man sich nicht wechselseitig blockieren kann, sondern man letztendlich
nur durch das, was man selber macht, den Raum dafür schafft, dass man beitreten
kann.
Präsidentin von der Leyen: Und vielleicht darf ich noch hinzufügen:
Warum ist CEFTA so wichtig, die Deblockade des Prozesses? Es ist ganz wichtig,
dass es den politischen Willen zur Zusammenarbeit gibt.
Die Psychologie dahinter ist ebenfalls wichtig. Der Wachstumsplan ist ganz klar
und besagt: Du kannst die anderen nicht blockieren, sie müssen an ihren eigenen
Wachstumsplänen arbeiten den einzigen, den sie blockieren, bist du
selbst. Wenn man also die Vorzüge des Binnenmarkts genießen möchte, muss man
seine Hausaufgaben machen und hat keine Konflikte mit den anderen.
Was die zweite Frage betrifft: Es ist ein Prozess, der auf Verdiensten beruht,
und es wird ein solcher Prozess bleiben. Je mehr Beitrittskandidaten nach vorne
schreiten, desto besser ist es. Es gibt aber unterschiedliche
Geschwindigkeiten, Errungenschaften und Erfolge. Wir werden das am Ende sehen.
Wir sollten uns aber ganz klar an die Prinzipien halten, dass es ein Prozess
ist, der auf Verdiensten basiert.
Frage: Herr Bundeskanzler, Taiwan hat sein Militär in die höchste
Alarmstufe versetzt, weil es eine chinesische Militärübung gab. Wie besorgt
sind Sie und wie reagieren Sie darauf?
Frau Kommissionspräsidentin, die USA haben neue Sanktionen gegenüber Iran
angekündigt. Plant die EU etwas Ähnliches, und wann wird das passieren?
Bundeskanzler Scholz: An der Politik, die wir über viele Jahre
verfolgen, was Taiwan betrifft, ändert sich in dieser Situation nichts. Wir
schauen natürlich genau hin. Für uns ist auch immer klar: Wir gehen davon aus,
dass niemand versucht, mit Gewalt an der Situation, wie sie zwischen Taiwan und
der Volksrepublik stattfindet, etwas zu ändern was uns nicht davon
abhält, die Dinge genau zu betrachten.
Präsidentin von der Leyen: Ich kann Sie darüber informieren, dass der
Rat heute eine Entscheidung zu Sanktionen gegen Iran getroffen hat. Der Grund
ist, dass Iran den russischen Drohnenterror unterstützt. Unschuldige Menschen
sind getötet worden, und das wäre nicht möglich ohne den Nachschub aus dem
Iran. Deshalb senden wir mit diesen Sanktionen gegen Iran eine klare Botschaft
aus: Die Unterstützung von Terror und dieser illegale Krieg haben
ernstzunehmende Konsequenzen.
Frage: Es kommt nicht häufig vor, dass Sie gemeinsam vor die Presse
treten; deswegen würde ich gerne die Gelegenheit ergreifen, Sie etwas
grundsätzlicher zu Ihrer Zusammenarbeit zu fragen. Zuletzt haben sich da ja
größere, tiefere Gräben aufgetan, vor allen Dingen beim Thema der Strafzölle
auf chinesische E-Autos. Man kann hier fast schon von einem Zerwürfnis reden.
Was bedeutet das für Ihre weitere Zusammenarbeit?
Vor allen Dingen an Sie, Frau von der Leyen: Wie zuversichtlich sind Sie, dass
Sie bis Ende des Monats noch zu einer Lösung mit China kommen, sodass diese
Strafzölle nicht in Kraft treten?
Bundeskanzler Scholz: Wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf: Nur
weil man etwas fragend in den Raum wirft, wird es noch kein Fakt. Wir
jedenfalls telefonieren sehr eng und oft miteinander, auch direkt und ohne die
ganzen technischen Möglichkeiten, die wir haben, uns durch andere verbinden zu
lassen. Das ist immer sehr intensiv und ausführlich und hilft auch dabei, die
Politik miteinander zu koordinieren.
Natürlich gibt es Fragen, die ich als deutscher Bundeskanzler zu lösen habe,
und auch über diese Fragen haben wir gesprochen. Ich will gerne sagen: Das ist
unverändert. Ich habe auch den Eindruck, unsere gemeinsame Hoffnung ist, dass
es bis Ende Oktober eine Verständigung mit China geben wird.
Präsidentin von der Leyen: Die Zusammenarbeit ist gut und sie ist
intensiv. In der Tat, man kann unterschiedliche Positionen haben, aber deshalb
arbeiten wir gemeinsam am Fortschritt Europas.
Hier geht es um Ausgleichszölle – das ist ganz wichtig – , die in
diesem sehr klaren Verfahren verhängt werden. Es geht darum, dass wir Fairness
für den Produktionsstandort Europa herstellen und dass wir ein „level
playing field“ haben. Das
ist das Entscheidende: Dass diejenigen, die zu unserem Markt kommen, unter
fairen Wettbewerbsbedingungen hier auf diesem europäischen Binnenmarkt
konkurrieren, und dass wir keine Verzerrungen dadurch haben, dass außerhalb der
Europäischen Union in der Produktion große Subventionen gegeben werden.
Wir verhandeln mit China, zum Beispiel darüber, was der Ausgleich sein kann,
der statt der Ausgleichszölle angeboten wird. Da geht es um die Frage von
Preisverpflichtungen, die im Raum stehen, und um Investitionen in Europa. All
dies sind Fragen, die auf dem Tisch sind. Wie immer bei Verhandlungen gilt: Man
hat erst alles verhandelt, wenn auch das letzte Stück verhandelt ist. Wichtig
ist, die Verhandlungen können und würden auch über den Tag hinausgehen, an dem
die Ausgleichszölle in Kraft treten würden. Es ist wichtig zu wissen, dass der
Verhandlungsprozess nicht abrupt unterbrochen würde, wenn die Ausgleichszölle
in Kraft treten, sondern dass ein Verhandlungsprozess auch weitergehen kann.
Entscheidend ist für uns ein Ausgleich für die Subventionen, die in China bei
der Produktion gegeben werden.
Fotoquellen: TP Presseagentur Berlin