Die Auslieferung eines Unionsbürgers an einen Drittstaat zum Vollzug einer Strafe kann gerechtfertigt sein, um der Gefahr der Straflosigkeit entgegenzuwirken.

Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn der ersuchte Mitgliedstaat völkerrechtlich zur Auslieferung des Betroffenen verpflichtet ist und der um die Auslieferung ersuchende Drittstaat der Vollstreckung der Strafe im Hoheitsgebiet des ersuchten Mitgliedstaats nicht zustimmt Bosnien und Herzegowina hat Deutschland um Auslieferung eines Bosniers zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ersucht; der Betroffene besitzt auch die kroatische Staatsbürgerschaft und ist daher Unionsbürger.

Nach Auffassung des Oberlandesgerichts München (Deutschland) ist Deutschland wegen der im Rahmen des Europäischen Auslieferungsübereinkommens gegenüber Bosnien und Herzegowina eingegangenen Verpflichtungen grundsätzlich zur Auslieferung des Betroffenen verpflichtet.
Es fragt sich jedoch, ob das Unionsrecht der Auslieferung entgegensteht, und zwar im Hinblick auf das Recht der Unionsbürger, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, sowie angesichts des Verbots der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit. Das deutsche Grundgesetz verbietet nämlich die Auslieferung eines Deutschen an einen Drittstaat. Unter solchen Umständen erlaubt das Unionsrecht eine Ungleichbehandlung zwischen Deutschen und Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten, die, wie der Betroffene, ihren ständigen Wohnsitz im Inland haben, dahin, dass Letzteren dieses Verbot nicht zugutekommt, nur dann, wenn diese Ungleichbehandlung auf objektiven Erwägungen beruht und in angemessenem Verhältnis zu dem mit dem nationalen Recht legitimerweise verfolgten Zweck steht.
Aufgrund seiner Zweifel hinsichtlich der Anwendung der Rechtsprechung des Gerichtshofs bei Bestehen einer völkerrechtlichen Verpflichtung zur Auslieferung hat sich das Oberlandesgericht München mit einer Frage an den Gerichtshof gewandt. Es führt aus, dass die deutschen Behörden die kroatischen Behörden von dem Auslieferungsersuchen in Kenntnis gesetzt hätten, ohne dass diese hierauf reagiert hätten. Nach deutschem Recht könne jedoch der Betroffene seine Strafe in Deutschland verbüßen, wenn Bosnien und Herzegowina dem zustimme.
Mit seinem heutigen Urteil antwortet der Gerichtshof, dass sich der ersuchte Mitgliedstaat (Deutschland) in einer solchen Situation aktiv um diese Zustimmung bemühen muss, damit die Strafe im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats verbüßt wird, und somit der Gefahr der Straflosigkeit entgegengewirkt werden kann, wobei gegenüber dem betroffenen Bürger eine Maßnahme ergriffen wird, durch die seine Freizügigkeit weniger beeinträchtigt wird als durch seine Auslieferung an einen Drittstaat.

Wird diese Zustimmung nicht erlangt, steht jedoch das Unionsrecht (hier das Recht der Unionsbürger, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, sowie das Diskriminierungsverbot) dem nicht entgegen, dass der ersuchte Mitgliedstaat (Deutschland) den betroffenen Unionsbürger in Anwendung eines völkerrechtlichen Übereinkommens ausliefert. Anderenfalls bestünde die Gefahr, dass der Betroffene straflos bliebe.
Eine Auslieferung bleibt jedoch nach der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ausgeschlossen, wenn in dem Drittstaat für den Betroffenen das ernsthafte Risiko der Todesstrafe, der Folter oder einer anderen unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung besteht.
HINWEIS: Im Wege eines Vorabentscheidungsersuchens können die Gerichte der Mitgliedstaaten in einem bei ihnen anhängigen Rechtsstreit dem Gerichtshof Fragen nach der Auslegung des Unionsrechts oder nach der Gültigkeit einer Handlung der Union vorlegen. Der Gerichtshof entscheidet nicht über den nationalen Rechtsstreit.
Es ist Sache des nationalen Gerichts, über die Rechtssache im Einklang mit der Entscheidung des Gerichtshofs zu entscheiden. Diese Entscheidung des Gerichtshofs bindet in gleicher Weise andere nationale Gerichte, die mit einem ähnlichen Problem befasst werden.

Direktion Kommunikation
Referat Presse und Information curia.europa.eu
PRESSEMITTEILUNG Nr. 214/22
Luxemburg, den 22. Dezember 2022
Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache C-237/21 | Generalstaatsanwaltschaft München (Ersuchen um Auslieferung an Bosnien und Herzegowina)

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