Die Beschwerdeführer dürften kein juristisches Problem haben.

TP-Interview mit Günther Kleiber.

Frage:

Herr Kleiber, am 22. März wird der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg sein Urteil verkünden in Sachen Keßler, Krenz, Streletz und des Grenzsoldaten W. gegen die Bundesrepublik Deutschland. Welche Erfolgsaussichten messen Sie den Beschwerden der Beschwerdeführer zu?

Kleiber:

Ich bin sehr skeptisch. Ich glaube, daß das eine schwierige politische und juristische Aufgabe für die Richter aus siebzehn europäischen Ländern ist. Für mutig halte ich die Entscheidung der „Großen Kammer“, daß sie nach der mündlichen Verhandlung am 8. November 2000 feststellte, daß die Beschwerde ernsthafte Fragen in der Sache und im Recht aufwirft, die einer grundsätzlichen Prüfung bedürfen. Und daß keinerlei Grund für eine Unzulässigkeit vorliegt. Eine Entscheidung zugunsten der Beschwerdeführer wäre einer der härtesten Schläge gegen die Justiz der Bundesrepublik Deutschland seit ihrem Bestehen und würde weitgehende Konsequenzen in der Sache und im Recht erfordern. Deshalb meine Skepsis.
Das Auftreten des Vertreters der Bundesregierung, Herrn Klaus Stoltenberg, in der mündlichen Anhörung am 8. November 2000, zeigt, daß offensichtlich der Versuch unternommen wird, eine politische Entscheidung, zu der es möglicherweise kommen wird, zu erreichen. Juristisch hat er offenbar einige Probleme.

Frage:

Sehen Sie auch juristische Probleme bei den Beschwerdeführern?

Kleiber:

Mein Eindruck, daß Herr Stoltenberg versucht, eine politische Lösung zu erreichen, stützt sich darauf, daß er in seiner Erklärung vom 8. November 2000 ein Vokabular verwendet, das an Zeiten des „Kalten Krieges“ erinnert. So sprach er davon, daß die DDR keine Demokratie und kein Rechtsstaat war, redete von einer „menschenverachtenden Staatspraxis“ und so weiter; er unterstellt, daß in den Beschlüssen des Politbüros Formulierungen aufgegriffen wurden, wie etwa, „Grenzverletzer sind zu vernichten“, die er aber nicht belegt. Ich kenne auch keinen Politbürobeschluß, der solche Formulierungen enthält.
Richtig ist, daß die bundesdeutschen Gerichte unterstellt haben, daß die DDR die von den zivilisierten Völkern anerkannten Rechtsgrundsätze verletzt hat. Das haben sie aber erst nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten unterstellt. Mir ist nicht bekannt, daß die Bundesrepublik Deutschland diese Problematik z.B. in der UNO vorgetragen hat, in der beide Staaten gleichberechtigte Mitglieder und von der internationalen Staatengemeinschaft anerkannt und geachtet waren.
Auch in den Vertragsverhandlungen über die „Grundlagen der Beziehungen zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland“ (Grundlagenvertrag) vom 21.12.1972 stand dieses Thema meines Wissens nicht auf der Tagesordnung.
Somit dürften die Beschwerdeführer kein juristisches Problem haben. Mit dem Artikel 7 Absatz 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention, der sogenannten Tyrannenklausel …

Frage:

… auch Nürnbergklausel genannt, die besagt, daß die Verurteilung oder Bestrafung einer Person nicht ausgeschlossen werden darf, die sich einer Handlung oder Unterlassung schuldig gemacht hat, welche im Zeitpunkt ihrer Begehung nach den allgemeinen von den zivilisierten Völkern anerkannten Rechtsgrundsätzen strafbar war …

Kleiber:

… muß die deutsche Justiz alleine fertig werden. Die Bundesrepublik hat 1952 als einziger europäischer Staat diese Klausel, aus bekannten Gründen …

Frage:

… böse Zungen munkeln, um belastete Nazis zu schützen …

Kleiber:

… für sich ausgeschlossen …

Frage:

… also nicht in ihr innerstaatliches Recht transformiert.

Kleiber:

Das könnte nun der Bundesregierung in Straßburg durchaus auf die Beine fallen.
Ich denke, daß die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofes die Beschwerden in der Sache und im Recht prüfen und entsprechend beantworten wird.

Frage:

Warum sind Sie nicht nach Straßburg mitgegangen, haben also auch eine Menschenrechtsbeschwerde eingelegt?

Kleiber:

Bereits während des Prozesses beim Landgericht Berlin von 1995 und 1997 habe ich erklärt, daß ich durchaus bereit bin, als Mitglied des Politbüros und als 1. Stellvertreter des Vorsitzenden des Ministerrates eine politisch-moralische Verantwortung zu übernehmen. Ich habe Revision beim Bundesgerichtshof in Leipzig eingelegt, weil der Antrag der Staatsanwaltschaft in Höhe von 7 Jahren und 6 Monaten im Raume stand. Der BGH bestätigte letztendlich die verhängten 3 Jahre, und das habe ich akzeptiert und meine Strafe in der JVA Hakenfelde angetreten. Ich wollte diesen Abschnitt meines Lebens, der – begonnen mit Hausdurchsuchungen, Verhören der Staatsanwaltschaft sowie 120 Prozeßtagen – nahezu 10 Jahre andauerte, endlich beenden. Nebenbei muß ich erwähnen, daß weitere Rechtsmittel für mich auch eine finanzielle Belastung bedeutet hätten, da ich eine „staatstragende Strafrechtsrente“ bekomme.

Frage:

Wenn in Straßburg zugunsten von Krenz, Keßler, Streletz und des Grenzsoldaten entschieden wird, worin sehen Sie da für sich selber Konsequenzen?

Kleiber:

Wenn die Beschwerdeführer in Straßburg Recht bekommen, hat dieses Urteil Konsequenzen für alle Urteile, die im Zusammenhang mit den Grenzprozessen stehen. Also auch für mich. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte trifft ein Grundsatzurteil, das heißt, daß dann alle Urteile zu Grenzfragen revidiert werden müssen oder zumindest neu zu verhandeln sind. Weitere Konsequenzen wären finanzieller Natur, wie zum Beispiel Haftentschädigung und so weiter. Am 22. März werden wir wissen, wie es weitergeht.
Zitat Luzius Wildhaber (Schweiz), Vorsitzender der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte: „Vor Gericht und auf hoher See ist man in Gottes Hand.“

Frage:

Sind Sie Herrn Krenz dankbar, daß er den Weg nach Straßburg beschritten hat?

Kleiber:

Wenn ich die Presseerklärung des Europäischen Gerichtshofes richtig verstanden habe, wurden die vier Beschwerden in der Reihenfolge Fritz Streletz (2011.1996), Heinz Keßler (28.01.1997), Grenzsoldat K.-H.W. (05.05.1997) und Egon Krenz (04.11.1998) an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingereicht. Sie haben damit eine große physische und psychische Belastung auf sich genommen, die man anerkennen muß. Die Behandlung der Grenzthematik bei der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshofes in Straßburg in der Sache und im Recht ist von prinzipieller Bedeutung für alle geführten Grenzprozessen und den dazu getroffenen Urteilen.

Frage:

Wie haben Sie Ihre Haft in der JVA Hakenfelde empfunden? Ist der dort praktizierte Offene Vollzug der von der Springer-Presse ständig verpönte Hotelvollzug?

Kleiber:

Ich habe meine Strafe am 18. Januar 2000 in der JVA Hakenfelde angetreten. Bis zum 17. April 2000 wurde ich in eine Unterkunft für vier Strafgefangene eingewiesen. Das Leben vollzog sich dort nach strengen Regeln und einer aus über 100 Paragraphen bestehenden Ordnung. Bei grobem Verstoß gegen diese Ordnung erfolgte die sofortige Verlegung in den geschlossenen Vollzug.
Am 18. April 2000 erhielt ich eine Einzelunterkunft und wurde als Freigänger ohne Aufsicht für die Fortführung meines damaligen Arbeitsverhältnisses zugelassen. Ich habe die Haftzeit immer als Strafe empfunden. Es gibt schönere Dinge im Leben.
Für den letzteren Teil Ihrer Frage empfehle ich, daß man solche Schreiberlinge mal 1 Jahr in eine offene JVA einweist.

Interview: Dietmar Jochum, TP Berlin, 15. März 2001

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