Die Forderung nach Abschaffung der Salzgitter-Stelle ist legal gewesen.

TP-Interview mit Prof. Dr. Erich Buchholz.

Frage: Herr Prof. Buchholz, Egon Krenz sagte nach dem Straßburger Richterspruch, er habe ein Urteil bekommen, aber kein Recht.
Durfte er auf den Rechtfertigungsgrund des Grenzgesetzes der DDR überhaupt vertrauen?

Prof. Buchholz: Nach dem Tatprinzip und dem Prinzip der Gesetzlichkeit, das ja das Rückwirkungsverbot mit einschließt, durfte er auf die Rechtslage zur Tatzeit vertrauen. Auch wenn ich daran denke, dass der § 27 des Grenzgesetzes der DDR, der ja eine besondere Rolle spielt, vom Bundesverfassungsgericht als dem Wortlaut nach den bundesdeutschen entsprechenden Vorschriften gleichgestellt wurde, durfte er mit einer solchen Legitimation seines Handelns rechnen. Dass später andere anders geurteilt haben, berührt ja nicht das Vertrauen in Bezug auf die Handlung, die seiner Zeit vorgenommen wurde.

Frage: Nach dem Grenzgesetz der DDR war ja das Leben von Personen nach Möglichkeit zu schonen gewesen. Wenn man sich die festgestellten Sachverhalte in den Urteilen gegen Funktionäre und Grenzsoldaten anschaut, kann man sich des Eindrucks nicht gerade erwehren, dass dies geschehen ist.

Buchholz: Da muss ich zuerst einmal auf folgendes hinweisen: Diese festgestellten Sachverhalte sind zu einem erheblichen Teil unzutreffend.

Frage: Jedenfalls sind sie Bestandteile der Urteile.

Buchholz: Ich weiß nicht welche Sachverhalte und Urteile Sie kennen, diese, die mir bekannt sind – und zwar jetzt nicht unbedingt bezogen auf das, was in den Urteilen steht –, sehen durchaus anders aus. Ich kann die Ansicht nicht teilen, dass da etwa das Leben nicht geschont wurde. Ich denke an solche Fälle – Extremfälle, aber andere waren ähnlich -, wo Grenzverletzer geradezu ins Feuer gelaufen sind. Da kann man doch nicht davon sprechen, dass der Grenzsoldat etwa mit dem Leben nicht genügend schonend umgegangen ist.

Frage: Wie kann jemand, der das Grenzgesetz beachten muss, annehmen, dass er mit Dauerfeuer das Leben von Personen nach Möglichkeit schont?

Buchholz: Da müssen Sie mal bitte bei Dauerfeuer mindestens zwei Dinge unterscheiden: Es gab Fälle von Dauerfeuer, wo das Dauerfeuer als Sperrfeuer abgegeben wurde.

Frage: Von links und von rechts?

Buchholz: Ja. Und zum Beispiel gab es auch Fälle, dass betreffende Grenzverletzer in dieses Sperrfeuer hineingerannt sind.
In anderen Fällen, die mir bekannt sind, war das so – das ist wohl nicht nur einmal gewesen –, dass die Grenzsoldaten – sie sind ja überrascht worden, die lagen ja nicht auf der Lauer, sondern mussten plötzlich vom Turm runter oder wo sie sich gerade befanden loslaufen – aus Versehen fehlerhaft statt Einzel- Dauerfeuer eingeschaltet haben.

Frage: Das ist in einem Fall wohl auch gerichtlich belegt. Es gab aber auch Fälle, wo von vornherein mit Dauerfeuer geschossen wurde – und nicht nur aus Versehen.

Buchholz: Auch da kann es ja versehentlich geschehen sein.

Frage: Der Chef der Grenztruppen, Ex-General Baumgarten, hat im 1. Politbüroprozess gegen Kleiber, Krenz und Schabowski ausgesagt, dass Dauerfeuer nicht gegen das Grenzgesetz verstoßen habe und sich damit nicht gerade Freunde gemacht – auch in den eigenen Reihen nicht.

Buchholz: Wie das Herr Baumgarten in welchem Zusammenhang ausgesagt und gemeint hat, kann ich nicht beurteilen. Dazu kann ich nichts qualifiziertes sagen.

Frage: Es gab ja nun den Konflikt zwischen Dauer- und Einzelfeuer, der ja auch in der DDR schon festgestellt worden ist. Wieso gab es nie Ermittlungsverfahren, wie man das hier und anderen westlichen Staaten gewohnt ist, wenn z.B. ein Polizist, der jemanden getötet oder verletzt hat mit der Dienstwaffe, von der Staatsanwaltschaft automatisch – unabhängig davon, zu welchem Ergebnis es später führt – zunächst mal ein Ermittlungsverfahren eingeleitet wird, um zu untersuchen, was sich wirklich zugetragen hat?

Buchholz: Nach meiner Kenntnis, soweit ich Vorgänge aus den Strafakten kenne, sind jedes Mal, wenn sogenannte Vorkommnisse gewesen sind, Untersuchungen vor Ort durchgeführt worden. Und zwar durch das zuständige Untersuchungsorgan des MfS. Juristisch gesehen war das mindestens eine Anzeigenprüfung im Sinne von § 96 StPO-DDR.
Soweit ich auch weiß, sind betreffende Personen – der Schütze selbst, die anderen Grenzsoldaten und die Vorgesetzten – nach den Umständen befragt worden.

Frage: Es heißt ja jetzt, dass ein Ermittlungsverfahren nie eingeleitet worden ist.

Buchholz: Ich spreche jetzt von dem, was ich weiß, und ich verweise auf den § 96 StPO-DDR. Das war die Anzeigenprüfung, die vor dem Ermittlungsverfahren liegt. Das ist bestimmt gemacht worden.

Frage: Jedenfalls ist mir von verschiedenen Seiten gesagt und bestätigt worden, dass es die eigentlichen Ermittlungsverfahren – wie wir sie hier kennen in der Bundesrepublik – nie gegeben hat. Inwiefern können demzufolge führende Politiker, die eine solche Staatspraxis dulden, juristisch bzw. strafrechtlich nicht zur Verantwortung gezogen werden?

Buchholz: Also erstens, weil Sie auf die Bundesrepublik verwiesen haben: Ich erinnere mich an eine Studie – wohl 100-200 Fälle, wo es um den Schusswaffengebrauch mit Todesfolge von Beamten geht -, aus der hervorgeht – ich kenne nicht alles -, dass in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle nach den ersten disziplinarischen Untersuchungen überhaupt kein Ermittlungsverfahren eingeleitet wurde. Und nur in einigen Fällen Ermittlungsverfahren, Anklage usw. erfolgten. Dass also in jedem Fall ein Ermittlungsverfahren eingeleitet wurde
– jedenfalls nach dieser Studie -, dürfte demnach nicht zutreffen.
Zu den Politikern: Ich weiß doch nicht, welche Informationen die hatten. Sie können doch nur urteilen und sich entscheiden und handeln nach den Informationen, die sie haben. Soweit ich es aus den Akten erfuhr, haben sie ihre Meldungen von den Militärbehörden, vielleicht auch vom MfS bekommen. Und wenn von dort mitgeteilt wird, so und so ist der Fall gewesen und wir haben keine Anhaltspunkte für eine Straftat, welche Entscheidung sollten sie dann treffen? Welcher Minister überprüft denn heute, was Kriminalist X gemacht hat?

Frage: Egon Krenz hat ja nun gesagt, dass er ein Urteil bekommen hat, aber kein Recht. Sie haben ja nun in einem Ihrer vielen Beiträge geschrieben, dass Recht immer politisch sei. Hätten Sie Krenz nicht vorwarnen können, bevor er nach Straßburg gegangen ist?

Buchholz: Wieso sollte ich ihn vorwarnen? Wie ein Gericht entscheidet, ist ja nicht von vornherein sicher. Gerade auch Straßburg – jedenfalls in anderen Verfahren war das ja noch deutlicher – hat keineswegs von vornherein die Sache für eindeutig gehalten. Bei dem Gewicht der Strafe, die Krenz getroffen hat, würde wahrscheinlich jeder sagen, den Versuch – auch wenn die Chance nur 90:10 ist oder was weiß ich was – sollten wir machen. Das hat nichts besonderes mit Krenz zu tun oder mit Straßburg, das ist ein allgemeiner Erfahrungswert von Strafverteidigern.

Frage: Sehen Sie im Straßburger Entscheid ein politisches Urteil?

Buchholz: Entschuldigen Sie, bei den politischen Sachen, um die es sich der Sache nach in all diesen Fällen handelt, handelt es sich immer gleichzeitig um ein juristisches Urteil, um ein Urteil eines Gerichts, insofern nach der Strafprozessordnung, und vom Inhalt her um eine politische Qualifizierung. Das bestreitet ja eigentlich niemand. Wenn der Bundesjustizminister sagte, das SED-Regime sollte delegitimiert werden, ist das etwa keine politische Aussage?

Frage: Glauben Sie, die Richter haben diese Aussage des ehemaligen Bundesjustizministers Klaus Kinkel so direkt als Befehl oder Anordnung aufgefasst?

Buchholz: Wie die einzelnen es aufgefasst haben, weiß ich nicht. Aber ich kann aus vielen Eindrücken – sei es nun bei böswilligen Staatsanwälten, sei es bei scharfen Richtern, sei es bei weniger scharfen Richtern – sagen, mit dieser Erwartung der Politik sind sie konfrontiert worden.

Frage: Wie würden Sie im Gegenzug die Freisprüche werten, die es zweifellos auch gegeben hat?

Buchholz: Da muss man sich den Einzelfall ansehen. Ich kenne eine Reihe von Freisprüchen – ich weiß das auch aus anderen Fällen –, bei denen das Gericht aus tatsächlichen Gründen nicht erklären konnte, dass mit hinreichender Gewissheit zum Beispiel ein Tötungsvorsatz – oder wer geschossen hat usw. – gegeben war. In all diesen Verfahren, um die es hier geht – auch um Rechtsbeugung –, gibt es kaum einen Fall – bei Rechtsbeugung überhaupt nicht –, in dem die erstinstanzliche Kammer aus Rechtsgründen von den Vorgaben abwich, die der BGH gegeben hat. Das war ihnen auch klar. Wenn sie etwa aus den Gesamtumständen her meinten, hier sei eine Verurteilung wohl doch nicht am Platze und der Sachverhalt es hergab, dann haben sie den Weg beschritten, zu argumentieren, dass nicht mit hinreichender Gewissheit die erforderlichen Tatsachen festgestellt werden konnten.

Frage: Es gab auch Urteile, wo die sog. Befehlsgeber freigesprochen, die Schützen dagegen verurteilt wurden. Wie ist das zu erklären?

Buchholz: Ich darf hier nur auf den Fall verweisen, wo der Postenführer, also der unmittelbar Vorgesetzte, der selbst keine MP hatte, weil er von einer Krankheit noch nicht genesen war, seinem Posten zurief: „Schieß doch!“ Es konnte nicht geklärt werden, ob der Postenführer lediglich – wie es nach DDR-Recht zulässig war – meinte, den Grenzverletzer durch gezielte Schüsse ins Bein an der Flucht zu hindern oder befahl ihn tatsächlich zu erschießen. Ein Tötungsbefehl konnte nicht festgestellt werden. Demzufolge wurde er von einer Anstiftung zu einer Tötung freigesprochen. Wenn nun der unmittelbare Vorgesetzte freigesprochen wird, dann darf auch – jedenfalls hinsichtlich dieses Falles – keiner der höheren Vorgesetzten dafür bestraft werden. Denn schon bei diesem letzten und maßgeblichen Anstifter war dieser Kausalzusammenhang nicht mehr gegeben.

Frage: Was ist von der Rechtsprechung zu halten, die von “Vernichtung von Grenzverletzern“ spricht?

Buchholz: Das hat in früheren Zeiten in den Vergatterungen …

Frage: … also in den Tagesbefehlen an die Grenzsoldaten …

Buchholz: … so dringestanden.

Frage: Aber nicht mehr nach 1984, als z.B. Egon Krenz in wichtigen Funktionen, z.B. im Politbüro und im Nationalen Verteidigungsrat war.

Buchholz: Da dann nicht mehr. Und das ist nämlich das Interessante.

Frage: Und trotzdem ist darauf zurückgegriffen worden, auch beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg – bezogen auch auf Krenz.

Buchholz: Jawohl. Das ist es nämlich. Und das ist ganz beachtlich aus kritischer Sicht. Wenn man es an dieser Formel “vernichten“ festmachen wollte, dann hätte die bundesdeutsche Justiz eine klare Zäsur machen und sagen müssen: Ab dem Jahr 1984 galt das nicht mehr.

Frage: Im Straßburger Urteil heißt es, genauso wie es für einen Rechtsstaat legitim sei, gegen Personen, die unter einem früheren Regime Straftaten begangen haben, Strafverfahren durchzuführen, können die Gerichte eines solchen Staates, die an die Stelle der früher bestehenden getreten sind, nicht dafür kritisiert werden, dass sie die zur Tatzeit geltenden Normen bzw. Rechtsnormen im Lichte der Grundsätze eines Rechtsstaates anwenden und auslegen. Wenn das Leben von Personen nach dem Grenzgesetz der DDR nach Möglichkeit zu schonen war, hätte hier nicht eine Rechtsanwendung schon in der DDR erfolgen müssen, die das Grenzgesetz mit seinem Rechtfertigungsgrund ins Verhältnis zu menschenrechtsfreundlichen Gesetzen bzw. Vorschriften setzt, die es in der DDR ja zweifellos gab?

Buchholz: Erstens darf man nicht vergessen, dass Straßburg nicht die Rechtmäßigkeit der bundesdeutschen Rechtsprechung und Gerichte überhaupt prüft, sondern nur unter dem Gesichtspunkt, ob darin ein Konventionsverstoß, also ein Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention, hier speziell gegen Artikel 7 …

Frage: … also das Rückwirkungsverbot …

Buchholz: … stattfindet.
Das ist ein ganz, ganz enger, spezieller Gesichtspunkt. Da fallen viele Dinge links und rechts einfach heraus. Das ist ja so ähnlich wie bei einer Revision usw. Auch das Verfassungsgericht prüft ja nur, ob Grundrechte verletzt sind.
Zweitens sollten wir nicht vergessen, dass die tatrichterlichen Feststellungen falsch sein können. So wie sie im Urteil stehen – sie können nicht korrigiert werden –, liegen sie dem Bundesgerichtshof, dem Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu Grunde.
Zugespitzt: Wenn Sie mir sagen, nach Ihrer Kenntnis stünde im Urteil, es sei so und so gewesen, und das die Tatsachengrundlage ist, die der Europäische Gerichtshof zur Verfügung hat, dann wird er natürlich ein anderes Ergebnis erzielen, als wenn er eine andere Tatsachengrundlage, eine wahrheitsgemäße hätte.
Man darf also nicht übersehen, dass all diese oberen Gerichte, die ja nicht mehr die tatsächlichen Feststellungen überprüfen dürfen, auf die von den Tatrichtern getroffenen Feststellungen “reinfallen“, die ich schon in mehreren Zusammenhängen als objektiv falsch gerügt habe.
Soweit Sie nun das Stichwort “menschenrechtsfreundlich“ aufgreifen, darf ich auf meinen Kollegen Wilhelm verweisen, der in seinem Buch “Die Rechtsbeugung“ aussagt, diese Zauberformel ist erst jetzt gegenüber Bürgern des Beitrittsgebietes erfunden worden. Früher gab es die nicht in der bundesdeutschen Rechtsprechung.

Frage: Es gab aber zweifellos Gesetze, die menschenrechtsfreundlicher waren, als der Rechtfertigungstatbestand im Grenzgesetz der DDR.

Buchholz: Welche Gesetze waren menschenrechtsfreundlicher?

Frage: Zum Beispiel Regelungen in der Verfassung.

Buchholz: Die Verfassung ist ja ein Grundsatz. Bei jeder Grundsatznorm gibt es Ausnahmen. Das wissen die Juristen. Eine Ausnahme wäre hier der Rechtfertigungstatbestand des Grenzgesetzes, der es erlaubte, Grenzverletzer auch mit der Schusswaffe an ihrem Tun zu hindern. Diese Norm wurde ja auch bundesverfassungsrechtlich bekräftigt, zumindest von ihrem Wortlaut her nicht beanstandet.

Frage: Von der Verteidigung ist in den Politbüro-Prozessen, aber auch vor dem Straßburger Gericht angeführt worden, dass eine Bestrafung in der Bundesrepublik nicht vorhersehbar war.
Könnte die Zentrale Erfassungsstelle Salzgitter nicht als ein Kriterium der Vorhersehbarkeit in einem gewissen Sinne verstanden werden?

Buchholz: Keineswegs, denn alle wesentlichen Fragen wurden in der Bundesrepublik anders gesehen als in der DDR. Da ist es nichts Besonderes – ob da Salzgitter war oder nicht. Im übrigen ist Salzgitter eine Sammelstelle von Informationen der verschiedensten Art und keine Strafverfolgungsbehörde. Das haben sie selbst manchmal sogar beklagt. Etwas zu sammeln ist ja nicht besonderes.

Frage: Auch Geheimdienste sammeln Informationen.

Buchholz: Sowieso. Daraus ergibt sich überhaupt nichts.

Frage: Wenn doch nur Informationen gesammelt wurden, wieso ist von DDR-Seite so massiv darauf gedrängt worden, die Salzgitter-Erfassungsstelle einzustellen?
Man hätte sich in der DDR doch auch sagen können, lasst die doch sammeln und horten, was sie wollen, das kümmert uns nicht, wir haben unsere Gesetze und vertrauen darauf.

Buchholz: Ich kann mir vorstellen, die einzelnen Motive dieser Forderung kenne ich natürlich nicht, dass man das als völkerrechtswidrig bzw. dann auch als gegen den Grundlagenvertrag gerichtet angesehen hat. Salzgitter war ja eine ausdrücklich gegen die DDR gerichtete Einrichtung.
Es ist ja nicht die Abschaffung des BND gefordert worden.

Frage: Was man doch konsequent hätte tun müssen, der BND ist doch auch eine Sammelstelle von Informationen aller Art. Die BND-Leute sind doch auch Sammler.

Buchholz: Ja gut, aber dann hätte eine Vereinbarung getroffen werden müssen, in beiden deutschen Staaten den Geheimdienst abzuschaffen. Salzgitter war ja kein Geheimdienst, sondern, wie gesagt, eine speziell gegen die DDR gerichtete Institution.

Frage: Aber Salzgitter ist wahrscheinlich vom Geheimdienst bedient worden.

Buchholz: Ja sicher, wer wird nicht davon bedient. Aber noch mal: Salzgitter war ja in dieser Form eine ausdrücklich gegen die DDR gerichtete Einrichtung gewesen. Und da kann man schon sagen, das ist nicht sehr freundlich und trägt auch nicht dazu bei, die gutnachbarschaftlichen Beziehungen, die man im Grundlagenvertrag vorgesehen hat, zu fördern. Deswegen ist die Forderung nach Abschaffung dieser Salzgitterstelle doch legal gewesen.

Frage: Ist Salzgitter nicht dennoch ein Indiz dafür gewesen, dass in der Bundesrepublik in Bezug auf das Recht der DDR oder auch in Bezug auf das Handeln, das in der DDR damit in Einklang gesehen wurde, von der bundesdeutschen Justiz im Falle von Strafverfolgungsmöglichkeiten eine andere Wertung vorgenommen werden könnte – vor oder nach der Wende?
Wir brauchen ja nur das Strafbefreiungsgesetz für Honecker zu nehmen.

Buchholz: Zum Beispiel. Sehr anschaulich. Oder ich denke z.B. auch an einen Richter des Obersten Gerichts, und auch an andere, die aus irgendwelchen Gründen in die Bundesrepublik kamen und dort wegen ihrer Tätigkeit in der DDR verurteilt wurden.
Und damals gab es noch keinen Einigungsvertrag.

Frage: Aber es ist doch von DDR-Seite gesehen worden, das ist doch auch meine eigentliche Frage, egal wie das Recht von DDR-Seite aus gesehen wurde, dass es in der Bundesrepublik eine andere Sicht der Dinge gibt, dahingestellt wie die rechtliche Einordnung im einzelnen vorgenommen wird, jedenfalls aber eine Strafverfolgung im Hinblick auf in der DDR gesehene Straftaten erfolgt. Und insoweit eine Vorhersehbarkeit gegeben war.

Buchholz: Der Vertrauensgrundsatz, also das Vertrauen auf das eigene Recht, stellt ja nicht darauf ab, wie möglicherweise in einer anderen Situation später geurteilt wird, sondern er stellt auf die Rechtslage zur Tatzeit ab. Das hat ja mit Salzgitter nichts zu tun. Dass die Bundesrepublik Dinge anders sieht, das ist wohl von Anfang an so gewesen, aber es hätte ja noch ganz anders laufen können nach 1989.

Frage: Es hätten auch Verurteilungen in der DDR selbst noch erfolgen können..

Buchholz: Manche Verfahren sind ja in der DDR noch eingeleitet worden, z.B. gegen Honecker.

Frage: Ich bin mir nicht sicher, ob man sich wegen des Verfahrens gegen Honecker wegen Hochverrats nicht lächerlich gemacht hat.

Buchholz: Das war ein Jux.

Frage: Ein Thema bei den ganzen Prozessen um Grenztote usw. war der Pakt über bürgerliche und politische Rechte, der in der DDR ja nie in das nationale Recht transformiert worden ist.

Buchholz: Das stimmt nicht, das stimmt überhaupt nicht.

Frage: Wird sogar in BGH-Urteilen festgestellt.

Buchholz: Schon in der DDR-Verfassung von 1949, also noch vor der Verabschiedung der Pakte auf der Grundlage der allgemeinen Menschenrechtserklärung von 1948, waren im Grunde genommen alle wesentlichen und maßgeblichen Rechte, die dann in den Pakten als Menschenrechte verankert sind, enthalten gewesen. Genauso auch in der Verfassung von 1968, wobei es einen Unterschied gab bezüglich der Verfassung von 1949, die noch ein Grundrecht auf Auswanderung vorsah. Das kannte die Bundesrepublik noch nicht einmal, ist im Grundgesetz nicht vorgesehen. Also da wäre in der Verfassung von 1949 sogar der Artikel 12 Abs. 2 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte…

Frage: … der das Recht vorsah, einen Staat, einschließlich seinen eigenen, zu verlassen…

Buchholz: … verwirklicht gewesen. Dieser war ja auch in der Folgezeit der einzige neuralgische Punkt, wobei man nicht übersehen darf, dass keine internationale Vereinbarung etwa strafrechtliche Handlungen sanktioniert. Ein illegaler, strafbarer Grenzübertritt ist nicht von der UNO gedeckt. Durch keine UNO-Konvention.

Frage: Gemäß Art. 51 der DDR-Verfassung hätte doch eine Transformation ins innerstaatliche Recht der DDR erfolgen müssen.

Buchholz: Wenn es nötig gewesen wäre, war aber nicht nötig

Frage: Das sehen viele Rechtsexperten durchaus anders. Verteidiger in den Strafverfahren um Grenztote etc. haben sich sogar ausdrücklich darauf berufen, dass die Ratifizierung zwar erfolgte, aber nicht die konkrete Umsetzung ins nationale Recht der DDR. Ich sauge mir das ja nicht aus den Fingern.

Buchholz: Kann ja sein. Wie sieht denn das aus mit der Bundesrepublik? Da gab es ja nun auch Regelungen, wie sie in der Europäischen Menschenrechtskonvention stehen, und schon im bundesdeutschen Recht enthalten sind. Auch in der DDR war eine Transformation nicht mehr nötig, weil der Pakt bereits zu 99 Prozent verwirklicht und Regelwerk war.

Frage: Im Internationalen Pakt stand doch auch drin, dass jeder das Recht hat, sein Land zu verlassen, das war ja nun nicht Regelwerk in der DDR.

Buchholz: Wie das im einzelnen wahrgenommen werden kann, welche Verfahren, welche Modalitäten im einzelnen, ist natürlich den einzelnen Staaten überlassen worden.

Frage: Hier hat es die DDR bei der gehabten Praxis belassen. Die DDR-Bürger kämpften sozusagen gegen Windmühlen.

Buchholz: Man kann davon sprechen, dass es lange Zeit dazu keine adäquaten rechtlichen Regelungen gab. Die gab es erst im Laufe der zweiten Hälfte der 80er Jahre.

Frage: Haben sich die bundesdeutschen Gerichte demzufolge zu Recht auf den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte bezogen, als es um die Verantwortlichkeit von in der DDR angenommener Straftaten ging, insbesondere in Bezug auf Todesfälle an der Grenze?

Buchholz: Nein, nein, nicht auf ihn hätten sie sich berufen dürfen, sondern auf das nationale Recht der DDR. Also beispielsweise auf den Artikel 99 der Verfassung der DDR, in dem es heißt, dass die strafrechtliche Verantwortlichkeit durch die Gesetze der DDR bestimmt wird. Dabei möchte ich betonen, dass es um geschriebene Gesetze und nicht um überpositives Recht geht. Genau so in diesem Sinne heißt es im Absatz 2 des Artikels 99 der Verfassung der DDR: „ Eine Tat zieht strafrechtliche Verantwortlichkeit nur nach sich, wenn diese zur Zeit der Tat gesetzlich festgelegt ist, wenn der Täter schuldhaft gehandelt hat und die Schuld zweifelsfrei nachgewiesen ist.“

Frage: Artikel 103 Abs. 2 des Grundgesetzes sieht ja ähnliches vor und selbst eine Einschränkung des Rückwirkungsverbotes, wie sie in Artikel 7 Abs. 2 der EMRK vorgesehen ist, ist nicht von der Bundesrepublik ins staatliche Recht der Bundesrepublik transformiert, also ein Vorbehalt gemacht worden.

Buchholz: Jedenfalls hat die Bundesrepublik durch diesen Vorbehalt, der bis heute gilt, sich ausdrücklich auf das Rückwirkungsverbot, und zwar uneingeschränkt bezogen. Deshalb hätten die Gerichte so erkennen müssen, wie es sich aus Artikel 99 der Verfassung der DDR ergibt, insbesondere den von mir erwähnten Absatz 2 berücksichtigen müssen.

Interview: Dietmar Jochum, 17.12. 2003

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