Über das neue Buch von Friedrich Wolff „Einigkeit und Recht“.
Von Dietmar Jochum, TP Berlin.
„Wäre man mit den ‚DDR-Verbrechern‘ so verfahren wie mit den Nazis, hätte es gar keine Strafverfolgung gegeben. Gegenüber den braunen Verbrechern wurden beide Augen zugedrückt, Mörder wurden amnestiert, begnadigt und freigesprochen. Gegenüber den DDR-Beschuldigten wurden
dagegen die gewagtesten Rechtskonstruktionen erdacht, um sie zu verurteilen.“
Also nicht Einigkeit und Recht, so der Titel seines neuen Buches, ist nach Auffassung von Friedrich Wolff den DDR-Bürgern nach der Einigung durch die deutsche Justiz widerfahren, sondern wohl eher Uneinigkeit und
Unrecht. Einen der Hauptbeschuldigten für diese Misere sieht der
Rechtsanwalt und ehemalige Honecker-Verteidiger insbesondere in
Ex-Bundesjustizminister Klaus Kinkel (FDP), der am 23. September 1991
auf dem Deutschen Richtertag in Köln unter anderem erklärte: „Ich baue
auf die deutsche Justiz, es muss gelingen, das SED-Regime zu
delegitimieren…“
Die Justiz sei dann ihrem Minister und der bereits im Kalten Krieg
produzierten öffentlichen Meinung ausnahmslos gefolgt.
Ob die bundesdeutsche Nachwendejustiz nun ihrer von Kinkel verordneten
„Pflicht, nicht dem eigenen Triebe“ gehorchte, mag dahingestellt
bleiben. Jedenfalls ließ sie von Anfang an keine Zweifel daran
entstehen, daß sie die juristische Bewältigung der DDR-Vergangenheit
keinesfalls auf die lange Bank zu schieben gedenkt. Wolff hat diesen
nach der Einigung erlebten Übereifer, den er bei der
Nazi-Vergangenheitsbewältigung vermißt, präzise aufgezeichnet. Bis auf
40 SPD-Bundestagsabgeordnete hätten alle übrigen dem Einigungsvertrag
blindlings zugestimmt. „Kein Ausschuß, kein Abgeordneter hatte die
Möglichkeit, auf die Gestaltung der Gesetze, die in diesem Vertrag
eingeschlossen sind, Einfluß zu nehmen, beispielsweise durch
Änderungsanträge in der zweiten Lesung“, zitiert Wolff die 40
Parlamentarier aus ihrer gemeinsamen Erklärung. Das DDR-Bild der
Westdeutschen zum Zeitpunkt des Beitritts der DDR war überwiegend ganz
finster, wird die Situation insbesondere der Wendezeit von Wolff
gezeichnet. Wolff zitiert dazu einen westdeutschen Jura-Professor: „Die
Verbrechen im Dritten Reich richteten sich in erster Linie gegen andere
Völker, die in der DDR gegen die eigene Bevölkerung, deren Freiheiten
die politische Führung in den unterschiedlichsten Varianten beschnitt.“
Zu Recht moniert der Autor hier, daß bei einer solchen undifferenzierten
Betrachtungsweise unklar bleibt, ob der Professor die Juden, die in den
Gaskammern und KZ umgebracht wurden, zu den Deutschen zählt, ob er die vier Millionen gefallenen deutschen Soldaten als Opfer der Verbrechen
gegen die eigene Bevölkerung betrachtet, auch ob sich der Wert eines
Menschenlebens nach der Nationalität richtet.
Für Wolff ist die (juristische) Bewältigung der DDR-Vergangenheit ohne das verzerrte DDR-Bild, das (vor allem) die bundesdeutschen Medien in den Köpfen der Westdeutschen erzeugten, nicht zu verstehen.
So hätten die Juristen dieses DDR-Bild mehr oder weniger ebenfalls verinnerlicht.
Da in Artikel 17 des Einigungsvertrages vertraglich festgeschrieben wurde, daß in der DDR ein „DDR-Unrechtsregime“ geherrscht habe und der Bundestag diesen Vertrag zum Gesetz erhoben hatte, sei schon dadurch ein juristisches Verdikt über den ehemaligen politischen Gegner gefällt worden.
Ungeachtet der abweichenden Meinung der Mehrzahl der (westdeutschen)
Rechtswissenschaftler seien dann Urteile wegen der Schüsse an der Grenze
gegen Grenzsoldaten, Offiziere, Mitglieder des Nationalen
Verteidigungsrates und des Politbüros ohne Rücksicht auf das
Rückwirkungsverbot des Grundgesetzes und der Europäischen
Menschenrechtskonvention gefällt worden. Auch wegen Rechtsbeugung,
Wahlfälschung, MfS-Straftaten, Denunziationen, Mißhandlungen,
Amtsmißbrauch/Korruption, Wirtschaftsstraftaten, Dopings und sonstigen
Delikten erfolgten Verurteilungen. Bemerkenswert ist für Wolff vor allem
die hohe Zahl der Ermittlungsverfahren (über 100 000) und die dagegen
niedrige Zahl der Verurteilungen (289). Auch wenn damit, so Wolff, die
meisten Ermittlungsverfahren eingestellt, die meisten Angeklagten
freigesprochen wurden und die wenigen Urteile, die Strafen aussprachen,
mild waren, so mußten doch die über 100 000 Beschuldigten lange unter
dem Verdacht leben, Rechtsbeugung oder Totschlag oder andere
Kriminalstraftaten begangen zu haben. Wolff: „Lange mußten sie unter
diesem Verdacht leben. Die Verfahren liefen über Monate und Jahre. Die
Beschuldigten brauchten Rechtsanwälte, mußten Honorare zahlen, waren
abgestempelt, hatten ein Strafverfahren am Hals, der Betrieb durfte es
nicht wissen, öffentlich traten sie am besten nicht hervor, politisch
schon gar nicht. Die Familie litt. Die Ossis trugen das nicht so leicht
wie es anscheinend BRD-Politiker tragen, wenn gegen sie ermittelt wird.“
Warum waren die Staatsanwälte so hemmungslos eifrig, warum hörte kein
Richter auf die Meinung seiner Rechtslehrer, fragt in Wolff in Richtung
der mit der Regierungskriminalität befaßten Juristen, die solche
Rechtsprobleme und Prozeßhindernisse wie Verjährung, DDR-Amnestien, das Rückwirkungsverbot – aber auch Selbstgefährdung und Schuldnachweis nicht zur Kenntnis genommen hätten.
Der Jurist zeigt auf, wie oft seit 1990 die Verjährungsfristen für DDR-Taten verlängert worden sind, wie mit dem Rückwirkungsverbot durch das Bundesverfassungsgericht im Jahre 1996 umgegangen worden ist; er zeigt die Rechtskonstruktionen auf, die entwickelt wurden, um die Politbüromitglieder, insbesondere Häber, Böhme und Lorenz zu verurteilen. Obwohl sie zunächst vom Vorwurf der Tötung durch Unterlassen freigesprochen worden sind, hob der BGH dieses Urteil
auf, weil er der Meinung war, auch wenn es die Angeklagten nicht
vermochten, so hätten sie es doch versuchen müssen, die Todesfälle an
der deutsch-deutschen Grenze zu verhindern. Nach DDR-Recht wurden sie
dann sogar wegen Anstiftung zum Mord verurteilt. Wolff betont: Der
Verfolgungseifer gegen Rote war größer, viel größer als gegen Braune und
die Verbrechen der Roten waren, sofern es überhaupt welche gab,
unendlich viel kleiner. Wie unterschiedlich die deutsche Justiz auch mit
Verjährungsfristen umgegangen ist, zeigt Wolff an einem Fall auf, der sich
1943 in Italien bei Caiazzo zutrug.
Im Oktober jenes Jahres tötete ein Offizier mit anderen Soldaten seiner Kompanie aus niedrigen Beweggründen und grausam 15 italienische Zivilpersonen (fünf Frauen und 10 Kinder im Alter zwischen vier und 14 Jahren). Sie wurden freigesprochen. Der Freispruch wurde mit Verjährung
begründet, weil eine solche Tat, wäre sie rechtzeitig bekannt geworden,
kriegsgerichtlich verfolgt worden wäre, so der BGH. Hier hätte Wolff
auch fragen können, ob dieser Bundesgerichtshof nicht die Bilder eines
schreienden Freislers vor Augen hatte, der einen Angeklagten, der Morde
im Dritten Reich anprangerte, als schäbiger Lump titulierte. Mooorde???
Welche Nazijustiz hätte solche verfolgt ohne selbst Freisler vor die
Flinte zu kommen. Moorde??? Wolff weist hier sehr zu Recht darauf hin,
nicht nur an diesem Beispiel, daß die Bewältigung der NS-Vergangenheit
durch die bundesdeutsche Justiz fehl schlug. Die Beispiele dafür hätte
er beliebig erweitern können. Das Urteil des BGH in der Caiazzo-Sache
scheint typisch dafür zu sein, wie undifferenziert die deutsche Justiz
die Verbrechen der Nazis vom Unrecht in der ehemaligen DDR betrachtete.
Die juristische Vergangenheitsbewältigung bezog sich nicht nur auf die
strafrechtliche Vergangenheitsbewältigung. In „Einigkeit und Recht“
beleuchtet Wolff unter anderem auch anschaulich die Bewältigung offener
Vermögensfragen mittels des Verwaltungsrechts und des Zivilrechts, wobei
er die Schwierigkeiten der Gerichte, die Zuständigkeitsgrenze zwischen
Verwaltungs- und Zivilgerichten zu ziehen, aufzeigt. Das ging nicht
selten zu Lasten der jeweiligen Kläger, die, wenn sie den falschen
Rechtsweg beschritten hatten, das Ganze noch einmal von vorne beginnen
mußten. Friedrich Wolff gibt auch Geschichtsunterricht. So erörtert er
die Revolutionsjahre 1848 bis 1849, die Periode der Reaktion 1850 bis
1871, „Recht und Freiheit“ im Kaiserreich, dasselbe in der Weimarer Zeit
und Last but not Least die Kommunistenverfolgung in der Nazizeit.
Auch die Kommunistenverfolgung in der Bundesrepublik zwischen 1949 und 1968 wird hinreichend beleuchtet. Selbst die politische Justiz in der DDR ist für Wolff kein Ruhmesblatt. Ihre politische Richtung war für ihn jedoch eine andere: Die politische Justiz der DDR war eine Justiz gegen das
Wiedererstehen von Kapitalismus und Faschismus.
Ausnahmen bilden Prozesse wie etwa die gegen Walter Janka, Wolfgang Harich, Rudolf Bahro und andere Sozialisten beziehungsweise Kommunisten, die die DDR-Politik von links kritisierten. Nach Wolff richtete sich die politische Justiz der DDR einerseits gegen Nazi und Kriegsverbrecher, andererseits gegen Oppositionelle, die meist unter dem Einfluß der BRD-Politik standen und, wie die Geschichte beweise, letztlich tatsächlich den Untergang der DDR herbeiführten. Und bei der Einigung seien dann viele Fehler gemacht worden..
Wolff erinnert an die 1956 erfolgte Angliederung des Saarlandes an die
Bundesrepublik. Da sei zum Beispiel vereinbart worden, daß Spione nicht
bestraft werden und so sei es geschehen. Wolff: „Das waren natürlich
keine Kommunisten, die da spioniert hatten und die Interessen
Frankreichs wurden auch nicht von einem Krause vertreten“, kritisiert Wolff die unter dem umstrittenen Verhandlungsführer der DDR-Seite und späteren Bundesverkehrsminister Wolfgang Krause zustande gekommenen Ergebnisse des Einigungsvertrages mit der Bundesrepublik im Jahre 1990. Die Lücke im Einigungsvertrag sei danach verständlich.
Ein umfangreicher Quellenanhang macht Friedrich Wolffs Buch zu einem
nachprüfbaren Geschichtswerk, bei dessen Lektüre man starke Zweifel bekommt, ob die durch umstrittene Rechtskonstruktionen zustande gekommenen Urteile gegen Funktionsträger und andere durch bundesdeutsche Gerichte Verurteilte DDR-Bürger vor der Geschichte Bestand haben werden.
Friedrich Wolff: Einigkeit und Recht. Die DDR und die deutsche Justiz.
edition ost Berlin 2005, 192 Seiten, 12,90 Euro