Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei einer Veranstaltung zum 100. Todestag von Hugo Preuß, dem jüdischen Juristen, demokratischen Politiker und „Vater der Weimarer Reichsverfassung“ am 26. September 2025 in Schloss Bellevue.
Wer in den 1970er Jahren in Westdeutschland Jura studiert hat, so wie ich, der hat das Verwaltungsrecht vor allem aus den Lehrbüchern von Ernst Forsthoff gelernt, das Staatsrecht aus den Werken von Theodor Maunz und die Verfassungsgeschichte aus denen von Ernst Rudolf Huber. Männer, die alle auf unterschiedliche Weise verstrickt gewesen waren in das Unrecht der NS-Diktatur.
Von Hugo Preuß dagegen hat man als Student in der Regel nichts erfahren. Dabei war dieser Mann einer der großen Vordenker und Wegbereiter der Demokratie in Deutschland. Viel zu lange war er vergessen, wurde er vergessen gemacht. In einer Zeit, in der die Demokratie neuen Anfechtungen ausgesetzt ist, in der viel zu viele Menschen der autoritären Versuchung erliegen, ist das Denken von Hugo Preuß von ganz neuer Aktualität. Auch deshalb ist es mir wichtig, heute an ihn zu erinnern!
Meine Damen und Herren, ich begrüße Sie alle sehr herzlich hier in Schloss Bellevue. Ich begrüße und danke Herrn Professor Marcus Llanque, der uns gleich noch etwas ausführlicher in das Werk von Preuß einführen wird. Herzlich willkommen.
Und es ist mir eine besondere Freude, dass heute Nachfahren von Hugo Preuß hier sind. Sie sind aus der Schweiz und aus Frankreich nach Berlin gekommen; in die Stadt, in der Hugo Preuß jahrzehntelang gewirkt hat und aus der seine Witwe und Kinder einst von den Nazis ins Exil getrieben wurden. Liebe Familie Preuss, Ihnen ganz besonders: ganz herzlich willkommen! Ich freue mich, dass Sie da sind!
Liebe Gäste, Hugo Preuß wurde 1860 als einziger Sohn eines vermögenden Unternehmers hier in Berlin geboren. Er lebte auf der anderen Seite des Tiergartens, in etwa dort, wo heute die Philharmonie steht. Seine materielle Unabhängigkeit erlaubte es ihm, sich ganz der Rechtswissenschaft und dem Gemeinwohl zu widmen, und zwar ohne dabei irgendwelche Rücksichten auf den akademischen oder politischen Mainstream seiner Zeit nehmen zu müssen.
Schon seine Habilitation bei Otto von Gierke stellte die damals herrschenden Staatsvorstellungen vom Kopf auf die Füße: „Gemeinde, Staat, Reich als Gebietskörperschaften“, so lautete der Titel der Arbeit, und sie brach mit der preußischen Staatsvergötzung und der Souveränitätsfixierung der damaligen Juristen. Preuß wollte eine Organisation des Staates von unten nach oben, eine Organisation, die getragen war von der Gleichberechtigung ihrer Glieder, die Selbstverwaltung ermöglichte und in der eine Dezentralisation von Macht bestand, um die Freiheit zu sichern. Damit betrieb Preuß nicht weniger als die Weiterentwicklung von Gierkes Genossenschaftsidee hin zu einer demokratischen Pluralismustheorie. So wurde Preuß nicht nur zu einem scharfen Kritiker jenes Systems, für das er den Begriff Obrigkeitsstaat prägte, sondern auch zum Vordenker von dessen Überwindung. Der Staat ist nichts anderes „als das durch die Verfassung organisierte Volk“, schrieb der Verfassungsdemokrat Preuß. Dem autoritären Obrigkeitsstaat setzte er den demokratischen Volksstaat entgegen.
Aber Preuß beließ es nicht bei der juristischen Theorie. So unangepasst wie in der Wissenschaft agierte er auch in der Politik. 1895 wurde er erstmals in die Berliner Stadtverordnetenversammlung gewählt und begann sofort, jene Privilegien zu bekämpfen, denen er seine eigene Wahl verdankte. Denn beim preußischen Dreiklassenwahlrecht hing das Stimmgewicht jedes Wählers von der Höhe der gezahlten Steuern ab. Preuß stritt für ein gleiches Wahlrecht, für die kommunale Selbstverwaltung und gegen die Gängelung der Gemeinden durch den Staat und dessen Ministerien. Er wandte sich gegen die staatliche Diskriminierung von Juden, die es trotz der formalen Gleichberechtigung in Preußen noch immer gab. Und er propagierte ein neues Verständnis von Verwaltung. Diese sollte nicht nur mit Ge- und Verboten als Eingriffsverwaltung handeln, sondern auch die Versorgung der Bürger, etwa mit öffentlichen Verkehrsmitteln, Wasser oder Energie nicht den Wechselfällen des Marktes überlassen. Auch dies war für Preuß eine öffentliche Aufgabe der Kommunen, eben: Leistungsverwaltung.
In seinem Milieu, im Bürgertum, unter den preußischen Liberalen, bekam er für diese Politik nicht nur Beifall. Aber Preuß machte keinerlei Abstriche, wenn es um seine Überzeugungen ging. Er gehörte der kleinen, linksliberalen Fraktion der Sozialfortschrittlichen an, und wurde 1910 zum ehrenamtlichen Stadtrat in den Berliner Magistrat gewählt.
Man könnte Hugo Preuß einen politischen Professor nennen, wenn man nicht wüsste, dass er im Kaiserreich an der Berliner Universität niemals Professor werden konnte, sondern stets Privatdozent blieb. Jude und Demokrat, mit dieser Kombination hatte er im wilhelminischen Preußen keine Chance, in den Staatsdienst zu gelangen. Allein die private Berliner Handelshochschule berief Preuß zum Professor.
Hugo Preuß war bereits 58 Jahre alt, als im November 1918 seine größte politische Stunde schlug. Die Revolutionsregierung, der Rat der Volksbeauftragen, machte ihn zu ihrem „Verfassungsminister“ und gab ihm den Auftrag, eine neue Konstitution für die junge Republik zu entwerfen. Preuß begrüßte die Revolution und beklagte die „Schlappheit und Servilität“ des deutschen Bürgertums, das aus eigener Kraft eine Überwindung des alten Obrigkeitssystem niemals zustande gebracht hätte. Dass die neuen Regierenden um Friedrich Ebert ausgerechnet einen bürgerlichen Demokraten wie Preuß beriefen, dokumentiert den Verfassungskonsens zwischen Arbeiterbewegung und liberalem Bürgertum: Die künftige Republik sollte eine demokratische werden, keine Herrschaft der Räte.
Innerhalb von sechs Wochen und nach intensiven Beratungen formulierte Preuß den ersten Entwurf für jene Konstitution, die als Weimarer Reichsverfassung in die Geschichte eingehen sollte. „Alle Staatsgewalt liegt beim deutschen Volk“, diese Maxime stellte er an den Anfang seines Entwurfs. Und weil Preuß eben nicht dem Souveränitätsdogma verhaftet war, das den Staat als geschlossenen Machtapparat nach Innen und Außen verstand, war sein Genossenschaftsdenken auch über den Staat hinaus offen. Deshalb formulierte er als weiteren Absatz: „Das Reich erkennt das geltende Völkerrecht als bindenden Bestandteil seines eigenen Rechtes an.“ Preuß sah einen direkt gewählten Präsidenten vor und ein parlamentarisches Regierungssystem; er plädierte für eine vertikal gegliederte Selbstverwaltung, die die bismarcksche Staatsvorstellung ersetzen sollte; und er warb für die Weiterentwicklung des formalen zum sozialen Rechtsstaat: „Der demokratische Rechtsstaat“, so Preuß, „darf sich nicht und kann sich nicht damit genügen lassen, nur eine formale Rechtsgleichheit herzustellen, sondern er muss das formal demokratische Recht mit sozialem Geiste erfüllen.“
Nicht alle seine Ideen wurden damals umgesetzt. So scheiterte etwa sein Vorschlag einer Neugliederung der Länder. Er wollte das übermächtige Preußen ebenso auflösen wie die damals große Zahl von Kleinststaaten und stattdessen annähernd gleich große Einheiten schaffen. Mit dieser Idee hatte Preuß damals keinen Erfolg. Wer allerdings die Pläne von Preuß mit unserer heutigen Ländergliederung vergleicht, der erkennt die Ähnlichkeit und versteht: Preuß war seiner Zeit weit voraus.
Auch wenn Preuß nur für seinen ersten Entwurf die alleinige Verfassungsvaterschaft beanspruchen kann, so ist doch keine andere Konstitution in der deutschen Geschichte, nicht das Werk der Paulskirche und auch nicht das Grundgesetz, so eng mit einer Person verbunden wie die Weimarer Reichsverfassung mit Hugo Preuß.
Die Verfassungsgebung hat Preuß nur um sechs Jahre überlebt. Als Reichsinnenminister trat er mit dem Kabinett schon im Sommer 1919 aus Protest gegen den Versailler Vertrag zurück. Obwohl Mitbegründer der Deutschen Demokratischen Partei, war ihm eine weitere große politische Karriere verwehrt. Zu eigenständig, zu fortschrittlich, zu streitbar war er wohl seinen eigenen Parteifreunden. Allein dem Preußischen Landtag gehörte er bis zu seinem plötzlichen Tod 1925 noch an.
Hugo Preuß hat die großen Verfassungsdebatten am Ende der Weimarer Republik nicht mehr mitprägen können. Erspart geblieben ist ihm auch mitzuerleben, wie die Nazis ab 1933 seine Verfassung endgültig zerstörten, die sie als das angeblich „undeutsche“ Werk eines Juden schmähten. Aber Preuß konnte auch nicht eingreifen, als nach 1945 von Konstruktionsfehlern der Weimarer Verfassung die Rede war, die maßgeblich schuld am Untergang der ersten Demokratie gewesen sein sollten. Viele, die als Politiker, als Juristen, aber auch als Wählerinnen und Wähler selbst an der Zerstörung der Weimarer Demokratie beteiligt gewesen waren, entzogen sich mit Hinweis auf die angeblich verfehlte Verfassung der Verantwortung. Wissenschaftliche Schüler, die sein Erbe hätten verteidigen können, besaß Preuß mangels Universitätsprofessur nicht. Das Mantra der westdeutschen Nachkriegszeit „Bonn ist nicht Weimar“ bedeutete eben oft zugleich: Mit Preuß haben wir nichts zu tun. Auch deshalb blieb dieser bedeutende Mann viel zu lange vergessen.
Heute braucht niemand mehr die Weimarer Verfassung, um von der Zerstörung der ersten deutschen Demokratie abzulenken. Inzwischen werden Hugo Preuß und sein Werk auch sehr viel objektiver und positiver gewürdigt. Und viele sind heute hier im Saal, die mit ihrer Arbeit dazu beigetragen haben. Die wissenschaftliche Biographie von Hugo Preuß und die Gesammelten Schriften sind eindrucksvolle Ergebnisse dieser Arbeit. Dafür danke ich Ihnen allen vielmals!
Natürlich hat der Parlamentarische Rat 1949 manches anders gemacht als Hugo Preuß. Die indirekte Wahl des Bundespräsidenten, der Verzicht auf ein Notverordnungsrecht des Präsidenten und die stärkere Verantwortung des Parlaments statt des Staatsoberhaupts für die Regierungsbildung sind nur drei Beispiele dafür. Dennoch: Die Parallelen zwischen dem Grundgesetz und der Weimarer Reichsverfassung sind viel größer, als man es in Bonn wahrhaben wollte. Heute wissen wir, dass es nicht nur auf den Text einer Verfassung ankommt, sondern auch darauf, wie er interpretiert und angewandt wird. Die Demokratie lebt nicht allein von den Artikeln ihrer Verfassung, sondern davon, dass sie von der großen Mehrheit gewollt, gelebt und verteidigt wird. Heute wissen wir, dass das Werk von Preuß – um mit Christoph Gusy zu sprechen – „eine gute Verfassung in schlechter Zeit“ war.
Wir leben heute gewiss in besseren Zeiten, aber auch jetzt wird die freiheitliche Demokratie wieder angefochten – nicht nur von außen, sondern auch von innen. Für Hugo Preuß waren der wichtigste Garant für den Bestand einer Demokratie die Bürgerinnen und Bürger selbst. „Wenn das Volk nicht die Verfassung des Volksstaates schützt, ist die Verfassung, aber auch das Volk schutzlos“, schrieb er einmal.
Immer wieder müssen wir deshalb daran erinnern, dass die Demokratie nicht selbstverständlich ist und jede und jeder von uns etwas dafür tun muss, um sie zu schützen. Gleichgültigkeit, Lethargie, Rückzug sind keine Haltung. Solche Passivität, solche „Schlappheit“, hätte Preuß gesagt, passt nicht zu einer Demokratie.
Es war ein langer, mühsamer Weg, die Demokratie in Deutschland zur Geltung zu bringen. Voller Irrwege, voller furchtbarer Rückschläge. Aber zu jeder Zeit hat es Menschen gegeben, die sich mit Mut und Leidenschaft für sie eingesetzt haben.
Menschen wie Hugo Preuß. Sein Beispiel zeigt, was auch ein Einzelner bewegen kann – und das Leid, das seiner Familie, das so vielen deutschen Familien ab 1933 angetan wurde, erinnert uns daran, was auf dem Spiel steht.
Das Beispiel von Hugo Preuß ist deshalb Ansporn, auch heute Haltung zu zeigen und sich für die Demokratie zu engagieren – nicht nur in der Politik oder der Wissenschaft, sondern auch als Bürger und Bürgerin der eigenen Gemeinde. Deshalb, so meine ich, ist es wichtig, dass Hugo Preuß nicht vergessen bleibt; deshalb sollte Hugo Preuß ein fester Teil unserer demokratischen Traditionen werden, unserer republikanischen Gedenkkultur und, ja, auch unserer juristischen Ausbildung.
