Es sei denn, so der EuGH, er würde dort aufgrund der voraussichtlichen Lebensumstände der Personen, denen internationaler Schutz zuerkannt worden ist, in eine Lage extremer materieller Not versetzt, die gegen das Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung verstößt.
Mängel im Sozialsystem des betreffenden Mitgliedstaats erlauben für sich allein genommen nicht den Schluss, dass das Risiko einer solchen Behandlung besteht.
Die Rechtssache Jawo betrifft hauptsächlich die Frage, ob die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) es verbietet, dass eine internationalen Schutz beantragende Person gemäß der Dublin-III-Verordnung in den Mitgliedstaat überstellt wird, der normalerweise für die Bearbeitung ihres Antrags zuständig ist, wenn sie dort aufgrund der voraussichtlichen Lebensumstände, die sie (im Fall der Gewährung internationalen Schutzes) als schutzberechtigte Person erwarten würden, einem ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erfahren. Herr Abubacarr Jawo stammt aus Gambia und stellte in Italien, das er auf dem Seeweg erreicht hatte, einen ersten Asylantrag. Nach seiner Weiterreise stellte er in Deutschland einen weiteren Asylantrag. Die deutschen Behörden lehnten diesen Antrag als unzulässig ab und ordneten die Abschiebung von Herrn Jawo nach Italien an. Der im Juni 2015 unternommene Versuch, Herrn Jawo nach Italien zu überstellen, scheiterte jedoch, da er nicht in seinem Wohnbereich seiner Gemeinschaftsunterkunft anwesend war. Herr Jawo erklärte bei seiner Rückkehr, dass er einen Freund in einer anderen deutschen Stadt besucht habe und ihn niemand darauf hingewiesen habe, dass er seine Abwesenheit hätte melden müssen. Vor dem Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg (Deutschland) hat Herr Jawo geltend gemacht, dass Deutschland der zuständige Mitgliedstaat geworden sei, weil die in der Dublin-III-Verordnung vorgesehene sechsmonatige Frist für seine Überstellung in den normalerweise zuständigen Mitgliedstaat, nämlich Italien, abgelaufen sei. Da er zum Zeitpunkt des Überstellungsversuchs nicht flüchtig gewesen sei, dürfe diese Frist nicht auf höchstens 18 Monate verlängert werden. Seine Überstellung nach Italien sei auch deshalb unzulässig, weil das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen der Antragsteller sowie die Lebensverhältnisse der Personen, denen internationaler Schutz zuerkannt worden sei, systemische Schwachstellen aufwiesen. Der Verwaltungsgerichtshof ersucht den Gerichtshof um Auslegung der Dublin-III-Verordnung und des in der Charta enthaltenen Verbots unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung. Er verweist auf den im August 2016 vorgelegten Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe, aus dem sich konkrete Anhaltspunkte dafür ergäben, dass Personen, denen in Italien internationaler Schutz zuerkannt worden sei, einem Risiko ausgesetzt sein könnten, bei einem Leben am Rande der Gesellschaft obdachlos zu werden und zu verelenden. Nach diesem Bericht werde für die italienische Bevölkerung das unzureichend entwickelte italienische Sozialsystem durch die familiäre Solidarität aufgewogen, die bei Personen, denen internationaler Schutz zuerkannt worden sei, fehle. Der Bericht weise ferner auf Mängel bei den Integrationsmaßnahmen in Italien hin. Die Rechtssachen Ibrahim u.a. betreffen die in der „Verfahrensrichtlinie“2 vorgesehene Möglichkeit, Asylanträge als unzulässig abzulehnen, weil zuvor in einem anderen Mitgliedstaat subsidiärer Schutz gewährt wurde. Staatenlosen Palästinensern, die ihren Wohnsitz in Syrien hatten, wurde in Bulgarien subsidiärer Schutz gewährt, und einem russischen Staatsangehörigen, der nach eigenen Angaben tschetschenischer Volkszugehörigkeit ist, wurde in Polen derselbe Schutz gewährt. Da die neuen Asylanträge, die sie später in Deutschland gestellt haben, abgelehnt worden sind, haben sie bei deutschen Gerichten Klage erhoben. In den Rechtssachen bezüglich der staatenlosen Palästinenser möchte das Bundesverwaltungsgericht (Deutschland) insbesondere wissen, ob die Befugnis zur Ablehnung eines Antrags als unzulässig entfalle, wenn die Lebensbedingungen der Personen, denen in einem Mitgliedstaat subsidiärer Schutz zuerkannt worden sei, als unmenschliche oder erniedrigende Behandlung anzusehen seien, oder wenn diese Schutzberechtigten in dem Mitgliedstaat keine oder im Vergleich zu anderen Mitgliedstaaten nur in deutlich eingeschränktem Umfang existenzsichernde Leistungen erhielten, ohne insofern jedoch anders als die Angehörigen dieses Mitgliedstaats behandelt zu werden. Mit seinen heutigen Urteilen verweist der Gerichtshof darauf, dass im Kontext des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems, das auf dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten beruht, die Vermutung gelten muss, dass die von einem Mitgliedstaat vorgenommene Behandlung der Personen, die internationalen Schutz beantragt haben, und der Personen, denen subsidiärer Schutz gewährt worden ist, in Einklang mit den Erfordernissen der Charta, der Genfer Konvention und der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten steht. Allerdings kann nicht ausgeschlossen werden, dass dieses System in der Praxis auf größere Funktionsstörungen in einem bestimmten Mitgliedstaat stößt, so dass eine ernsthafte Gefahr besteht, dass Personen, die internationalen Schutz beantragen, in diesem Mitgliedstaat in einer Weise behandelt werden, die mit ihren Grundrechten und insbesondere dem absoluten Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung unvereinbar ist3.Daher ist das Gericht, das mit einem Rechtsbehelf gegen eine Überstellungsentscheidung oder gegen eine Entscheidung, mit der ein neuer Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig abgelehnt wurde, befasst ist, in dem Fall, dass es über Angaben verfügt, die der Antragsteller vorgelegt hat, um das Vorliegen des Risikos einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung in dem anderen Mitgliedstaat nachzuweisen, zu der Würdigung verpflichtet, ob entweder systemische oder allgemeine oder aber bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen vorliegen. Solche Schwachstellen verstoßen aber nur dann gegen das Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung, wenn sie eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen, die von sämtlichen Umständen des Falles abhängt. Diese Schwelle wäre erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre. Eine große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse erreichen diese Schwelle nicht, wenn sie nicht mit extremer materieller Not verbunden sind, aufgrund deren diese Person sich in einer solch schwerwiegenden Situation befindet, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann. Des Weiteren kann der Umstand, dass subsidiär Schutzberechtigte in dem Mitgliedstaat, der dem Antragsteller diesen Schutz gewährt hat, keine oder im Vergleich zu anderen Mitgliedstaaten nur in deutlich eingeschränktem Umfang existenzsichernde Leistungen erhalten, ohne insofern jedoch anders als die Angehörigen dieses Mitgliedstaats behandelt zu werden, nur dann zu der Feststellung führen, dass dieser Antragsteller dort tatsächlich der Gefahr ausgesetzt wäre, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erfahren, wenn dieser Umstand zur Folge hat, dass sich dieser Antragsteller aufgrund seiner besonderen Verletzbarkeit unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände. Jedenfalls kann der bloße Umstand, dass in dem Mitgliedstaat, in dem der neue Antrag auf internationalen Schutz gestellt worden ist, die Sozialhilfeleistungen und/oder die Lebensverhältnisse günstiger sind als in dem Mitgliedstaat, der normalerweise für die Bearbeitung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist oder bereits subsidiären Schutz gewährt hat, nicht die Schlussfolgerung stützen, dass die betreffende Person im Fall ihrer Überstellung in den zuletzt genannten Mitgliedstaat tatsächlich der Gefahr ausgesetzt wäre, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erfahren. Der Gerichtshof stellt fest, dass das Unionsrecht es nicht verbietet, dass eine Person, die internationalen Schutz beantragt hat, in den zuständigen Mitgliedstaat überstellt wird oder dass ein Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft als unzulässig abgelehnt wird, weil dem Antragsteller in einem anderen Mitgliedstaat bereits subsidiärer Schutz gewährt worden ist, es sei denn, es ist erwiesen, dass der Antragsteller sich in dem anderen Mitgliedstaatunabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände. In den Rechtssachen Ibrahim u.a. führt der Gerichtshof ferner aus, dass die Tatsache, dass der Mitgliedstaat, der einer internationalen Schutz beantragenden Person subsidiären Schutz gewährt hat, systematisch und ohne echte Prüfung die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft verweigert, die anderen Mitgliedstaaten nicht daran hindert, einen neuen Antrag, den der Betroffene bei ihnen gestellt hat, als unzulässig ablehnen. In einem solchen Fall hat der subsidiären Schutz gewährende Mitgliedstaat das Verfahren zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wieder aufzunehmen. Es darf nämlich nur dann, wenn nach einer individuellen Prüfung festgestellt wird, dass eine internationalen Schutz beantragende Person nicht die Voraussetzungen für die Anerkennung als Flüchtling erfüllt, ihr gegebenenfalls der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt werden. In der Rechtssache Jawo stellt der Gerichtshof auch fest, dass ein Antragsteller „flüchtig ist“, wenn er sich den für die Durchführung seiner Überstellung zuständigen nationalen Behörden gezielt entzieht, um die Überstellung zu vereiteln. Dies kann angenommen werden, wenn die Überstellung nicht durchgeführt werden kann, weil der Antragsteller die ihm zugewiesene Wohnung verlassen hat, ohne die zuständigen nationalen Behörden über seine Abwesenheit zu informieren, sofern er über die ihm insoweit obliegenden Pflichten unterrichtet wurde, was das nationale Gericht zu prüfen hat. Der Antragsteller behält die Möglichkeit, nachzuweisen, dass er den Behörden seine Abwesenheit aus stichhaltigen Gründen nicht mitgeteilt hat, und nicht in der Absicht, sich den Behörden zu entziehen. Des Weiteren kann im Rahmen eines Verfahrens gegen eine gemäß der Dublin-III-Verordnung ergangene Überstellungsentscheidung die betreffende, internationalen Schutz beantragende Person geltend machen, dass die sechsmonatige Überstellungsfrist abgelaufen sei, weil sie nicht flüchtig gewesen sei, und dass aufgrund dieses Fristablaufs der Mitgliedstaat, der ihre Überstellung beschlossen hat, für die Prüfung ihres Antrags zuständig geworden sei. Der Gerichtshof betont schließlich, dass es für eine Verlängerung der Überstellungsfrist höchstens auf 18 Monate genügt, dass der ersuchende Mitgliedstaat vor Ablauf der sechsmonatigen Überstellungsfrist den normalerweise zuständigen Mitgliedstaat darüber informiert, dass die betreffende Person flüchtig ist, und zugleich die neue Überstellungsfrist benennt.
HINWEIS: Im Wege eines Vorabentscheidungsersuchens können die Gerichte der Mitgliedstaaten in einem bei ihnen anhängigen Rechtsstreit dem Gerichtshof Fragen nach der Auslegung des Unionsrechts oder nach der Gültigkeit einer Handlung der Union vorlegen. Der Gerichtshof entscheidet nicht über den nationalen Rechtsstreit. Es ist Sache des nationalen Gerichts, über die Rechtssache im Einklang mit der Entscheidung des Gerichtshofs zu entscheiden. Diese Entscheidung des Gerichtshofs bindet in gleicher Weise andere nationale Gerichte, die mit einem ähnlichen Problem befasst werden. Zur Verwendung durch die Medien bestimmtes nichtamtliches Dokument, das den Gerichtshof nicht bindet. Der Volltext der Urteile (C-163/17, C-297/17 u.a.) wird am Tag der Verkündung auf der Curia-Website veröffentlicht.
Verweigerung von Rücküberstellungen in EU-Staaten sollte absolute Ausnahme bleiben.
Das am heutigen Dienstag gefällte Urteil des Europäischen Gerichtshofs in Luxemburg zu einer erleichterten Flüchtlingsabschiebung in andere EU-Länder kommentierte der innenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Matthias Middelberg.
„Das Urteil des EuGH ist zu begrüßen. Es zeigt, dass Rücküberstellungen in EU-Staaten nur in extremen Ausnahmefällen wegen der Lage vor Ort verweigert werden können. Das sollte auch in der Praxis die absolute Ausnahme bleiben: In der Wertegemeinschaft EU kann von allen Mitgliedstaaten erwartet werden, dass sie die Personen in ihrem Land nicht unmenschlich oder erniedrigend im Sinne der Grundrechtscharta behandeln. Können Personen dennoch aufgrund solcher systemischen Mängel nicht in einen Mitgliedstaat zurückgeführt werden können, sollte das EU-Recht künftig vorsehen, dass dieser Mitgliedstaat gegenüber dem aufnehmenden Mitgliedstaat jedenfalls für die finanziellen Folgen haftet.“