BVerfG-Beschluss vom 27. Juli 2020.
1 BvR 1379/20.
Mit veröffentlichtem
Beschluss vom 31.07.2020 hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts eine
Verfassungsbeschwerde und einen gleichzeitig gestellten Antrag auf Erlass einer
einstweiligen Anordnung gegen eine gerichtliche Unterlassungsverfügung in einem
lauterkeitsrechtlichen Verfahren nicht zur Entscheidung angenommen.
Die Kammer bestätigt damit die im presse- und äußerungsrechtlichen Eilverfahren
geltenden grundrechtlichen Anforderungen an die prozessuale Waffengleichheit
(vergleiche Beschlüsse der 3. Kammer des Ersten Senats vom 30. September 2018 –
1 BvR 1783/17 -, – 1 BvR 2421/17 -) auch für einstweilige Verfügungsverfahren
im Bereich des Lauterkeitsrechts (UWG). Sie stellt klar, dass eine Einbeziehung
der Gegenseite in das gerichtliche Eilverfahren auch dann erforderlich ist,
wenn zwar eine außergerichtliche Abmahnung sowie eine Erwiderung auf die
Abmahnung erfolgten und diese dem Gericht vorlagen, aber zwischen dem
Unterlassungsbegehren aus der vorprozessualen Abmahnung und dem nachfolgend
gestellten Verfügungsantrag keine Identität bestand. Daneben begründet auch ein
gerichtlicher Hinweis an die Antragstellerseite zur Nachbesserung ihres
Antrags, ohne die Antragsgegnerseite davon in Kenntnis zu setzen, einen
Verfahrensverstoß.
Gleichwohl fehlt es an einem hinreichend gewichtigen Interesse an der
Feststellung reiner Verfahrensverstöße im einstweiligen Verfügungsverfahren,
wenn die Abweichungen zwischen dem außergerichtlich geltend gemachten
Unterlassungsverlangen und den gerichtlich gestellten Anträgen gering sind, es
an der Darlegung eines schweren Nachteils fehlt und eine mündliche Verhandlung
alsbald erfolgt.
Sachverhalt:
Die Verfassungsbeschwerde und der gleichzeitig gestellte Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung richteten sich gegen eine gerichtlich erwirkte einstweilige Verfügung, die ohne Beteiligung der Beschwerdeführerin ergangen ist.
Die Beschwerdeführerin bietet Dienstleistungen im Dentalbereich an und versendet an ihre Kunden insbesondere Produkte, mit denen diese zu Hause einen Abdruck sowie Fotos von ihrem Gebiss machen können, um daraus individuelle Schienen zur Zahnkorrektur zu erstellen. Die Antragstellerin des Ausgangsverfahrens führte bei der Beschwerdeführerin einen Testkauf eines solchen Abdrucksets durch, mahnte diese unter anderem wegen vorgeblich fehlender Kennzeichnung mit „CE“-Kennzeichen ab und nahm sie auf Unterlassung in Anspruch.
Die Gegnerin des Ausgangsverfahrens stellte daraufhin Antrag auf Erlass einer Unterlassungsverfügung beim Landgericht. Das Gericht wies die Antragstellerin schriftlich auf Bedenken hinsichtlich der Antragsfassung und Glaubhaftmachung hin. Die Antragstellerin ergänzte daraufhin ihren Antrag und erwirkte den Erlass der angegriffenen einstweiligen Verfügung. Die Beschwerdeführerin wurde vor Erlass der angegriffenen Entscheidung nicht an dem gerichtlichen Verfahren beteiligt. Die Beschwerdeführerin erhob Widerspruch gegen die einstweilige Verfügung und stellte Vollstreckungsschutzantrag. Den Antrag auf einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung wies das Landgericht zurück.
Wesentliche Erwägungen der Kammer:
Zwar liegen hier
Verfahrensfehler vor. So ist ein Verstoß gegen den Grundsatz der prozessualen
Waffengleichheit darin zu sehen, dass das Unterlassungsbegehren aus der
Abmahnung und der nachfolgend gestellte Verfügungsantrag nicht identisch sind.
Nur bei wortlautgleicher Identität ist sichergestellt, dass der Antragsgegner
auch hinreichend Gelegenheit hatte, sich zu dem vor Gericht geltend gemachten
Vorbringen in gebotenem Umfang zu äußern. Die Anhörung der Beschwerdeführerin
wäre daher vor Erlass der einstweiligen Verfügung veranlasst gewesen. Zum
anderen liegt ein Verstoß gegen den Grundsatz der prozessualen Waffengleichheit
in der Erteilung eines gerichtlichen Hinweises an die Antragstellerseite, ohne
die Beschwerdeführerin davon in Kenntnis zu setzen. Es ist verfassungsrechtlich
geboten, den jeweiligen Gegner vor Erlass einer Entscheidung in den gleichen
Kenntnisstand zu versetzen wie den Antragsteller. Deshalb sind auch ihm die
richterlichen Hinweise zeitnah mitzuteilen. Dies gilt insbesondere dann, wenn
es bei Rechtsauskünften in Hinweisform darum geht, einen Antrag nachzubessern
oder eine Einschätzung zu den Erfolgsaussichten abzugeben.
Die aufgezeigten Verstöße begründen indes kein hinreichend gewichtiges
Feststellungsinteresse. Die Abweichungen zwischen dem außergerichtlich geltend
gemachten Unterlassungsverlangen und dem ursprünglich gestellten
Verfügungsantrag sowie der nachgebesserten Antragsfassung stellen sich als
gering und nicht gravierend dar. Nach der im Recht des unlauteren Wettbewerbs
entwickelten „Kerntheorie“ umfasst der Schutz eines Unterlassungsgebots nicht
nur die Verletzungsfälle, die mit der verbotenen Form identisch sind, sondern
auch gleichwertige Verletzungen, die den Verletzungskern unberührt lassen. Die
Kerntheorie ist verfassungsrechtlich im Grundsatz unbedenklich. Sie dient der
effektiven Durchsetzung von Unterlassungsansprüchen. Sie wäre wesentlich
erschwert, sofern der Unterlassungstitel nur in den Fällen als verletzt gälte,
in denen die Verletzungshandlung dem Wortlaut des Titels genau entspricht. Es
ist dem Antragsgegner grundsätzlich zumutbar, im Erwiderungsschreiben auf eine
außergerichtliche Abmahnung auch zu kerngleichen, nicht-identischen Verstößen
Stellung zu nehmen. Eine Grenze ist dort zu ziehen, wo der gerichtliche
Verfügungsantrag den im Rahmen der außergerichtlichen Abmahnung geltend
gemachten Streitgegenstand verlässt oder weitere Streitgegenstände neu
einführt. Die Beschwerdeführerin musste sich vorliegend jedoch aufgrund der
außergerichtlich gewählten Formulierung bewusst sein, umfassend auch zu kerngleichen
Verstößen zu erwidern.
Außerdem fehlt es an der Darlegung eines schweren Nachteils, der durch die
Schadensersatzpflicht nach § 945 ZPO nicht aufgefangen werden könnte. Dem
Schutz des Antragsgegners im einstweiligen Verfügungsverfahren wird durch die
Schadensersatzpflicht gemäß § 945 ZPO hinreichend Rechnung getragen. Kommt es
infolge der Vollziehung zu Schäden beim Antragsgegner, sind diese vom
Antragsteller verschuldensunabhängig zu ersetzen. Ein irreparabler Schaden der
Beschwerdeführerin ist nicht ersichtlich.
Zudem stellt sich die Terminierung der Verhandlung über den Widerspruch gegen
die einstweilige Verfügung noch als ausreichend zeitnah dar, um eine zügige
Verfahrensführung zu gewährleisten und der Beschwerdeführerin eine umfassende
Äußerung in der Sache zu ermöglichen.
Quelle: BVferG- Pressemitteilung Nr. 66/2020 vom 31. Juli 2020