EU-Kommission kritisiert schleppende Reformen.

Die Europäische Kommission hat heute ihre jährlichen Fortschrittsberichte zum Stand der Beitrittsverhandlungen mit den westlichen Balkanländern und der Türkei vorgelegt. Darin sieht die Kommission insbesondere die Türkei auf keinem guten Weg zur angestrebten Mitgliedschaft in der EU. Bei den Grundrechten, der Rechtsstaatlichkeit und den demokratischen Institutionen sind viele Rückschritte zu beklagen. „Die Aussicht auf eine EU-Mitgliedschaft ist weiterhin ein Motor für den Wandel und festigt die Stabilität in den Ländern Südosteuropas“, sagte Johannes Hahn, Kommissar für Europäische Nachbarschaftspolitik und Beitrittsverhandlungen. „Ein glaubwürdiger Erweiterungsprozess ist nach wie vor ein unverzichtbares Instrument, um diese Länder zu stärken und ihnen bei der Umsetzung politischer und wirtschaftlicher Reformen zu helfen.“

„Wir bekräftigen heute, dass die EU ihre Unterstützung für diese Bemühungen weiter fortsetzen wird, und rufen die Regierungen der Erweiterungsländer dazu auf, die notwendigen Reformen aktiver anzugehen und sie tatsächlich in ihre politische Agenda zu integrieren – nicht weil die EU es von ihnen verlangt, sondern weil es im Interesse der Bürgerinnen und Bürger dieser Länder und auch Europas insgesamt liegt“, so Hahn weiter.

Positiv ist die Bewertung der Fortschrittsgespräche mit Albanien ausgefallen. Hier empfiehlt die Kommission den Mitgliedstaaten, die Eröffnung der Beitrittsverhandlungen zu erwägen. Allerdings müssten auch in Albanien noch glaubwürdige und greifbare Fortschritte bei der Durchführung der Justizreform, insbesondere der Überprüfung von Richtern und Staatsanwälten erzielt werden.

In den Fortschrittsberichten wird beurteilt, wie weit die Länder des westlichen Balkans, Albanien, Bosnien und Herzegowina, Kosovo, die ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien, Montenegro und Serbien sowie die Türkei bei der Umsetzung wichtiger politischer und wirtschaftlicher Reformen vorangekommen sind, und was noch zu tun bleibt, um die übrigen Herausforderungen zu bewältigen.

Mit der Erweiterungspolitik werden weiterhin Ergebnisse erzielt, und in den meisten Ländern kommen die Reformen voran, wenngleich in unterschiedlichem Tempo. Ein fortgesetztes Engagement für den Grundsatz „Wesentliches zuerst“ ist daher nach wie vor von entscheidender Bedeutung. Die Kommission wird sich auch künftig nachdrücklich für die Rechtsstaatlichkeit, einschließlich der Bereiche Sicherheit, Grundrechte, demokratische Institutionen und Reformen der öffentlichen Verwaltung, sowie für die wirtschaftliche Entwicklung und die Wettbewerbsfähigkeit einsetzen. Eine stärkere Mitwirkung der Zivilgesellschaft und der Interessenträger im Allgemeinen wird auch in Zukunft unverzichtbar sein.

Aktueller Stand

Im Bereich der Rechtsstaatlichkeit wurden generell Anstrengungen unternommen, um die Rechtsrahmen und Rechtsinfrastrukturen zu modernisieren. Albanien hat einstimmig Verfassungsänderungen angenommen, die die Grundlage für eine weitreichende und umfassende Justizreform bilden. Allerdings bestehen in den Justizsystemen der meisten Länder nach wie vor Effizienzprobleme und Mängel in den Bereichen Unabhängigkeit und Rechenschaftspflicht. In den letzten Jahren haben alle Länder ihre Rahmen für die Bekämpfung von Korruption und organisierter Kriminalität ausgebaut. Die Anstrengungen müssen sich hier nun mehr denn je darauf konzentrieren, eine glaubwürdige und nachhaltige Erfolgsbilanz bei Ermittlungen, Strafverfolgungsmaßnahmen und Gerichtsurteilen in Fällen gleich welcher Ebene zu erzielen. Da die Erweiterungsländer auch ihr Strafrecht und ihre Antiterrorgesetze entsprechend geändert haben, können sie in dieser Hinsicht inzwischen mit robusteren Instrumenten vorgehen. Einige dieser Länder haben zudem neue Strategien und Aktionspläne zur Terrorismusbekämpfung verabschiedet, allerdings muss noch mehr getan werden, um die Radikalisierung zu bekämpfen, insbesondere durch Maßnahmen im Bildungsbereich und durch eine bessere Kontrolle von finanzieller Unterstützung aus dem Ausland, die für die Verbreitung radikaler Inhalte eingesetzt wird.

Die Grundrechte sind in den Erweiterungsländern nach wie vor größtenteils gesetzlich verankert. Im westlichen Balkan sind zwar weiterhin Defizite in der Praxis festzustellen, doch im Großen und Ganzen ist die Lage stabil. In der Türkei sind in diesem Bereich Rückschritte zu verzeichnen, und bei der praktischen Verwirklichung sind vielfach erhebliche Defizite festzustellen. Nach dem Putschversuch vom Juli wurde der Notstand ausgerufen. Auf dieser Grundlage wurden weitreichende Maßnahmen ergriffen, die eine Beschneidung der Grundrechte bedeuten. Im Anschluss an den Putschversuch wurde der Vorwurf zahlreicher schwerer Verletzungen des Verbots von Folter und Misshandlung und der Verfahrensrechte erhoben.

Im Hinblick auf die Meinungsfreiheit und die Medienfreiheit besteht in den meisten Erweiterungsländern weiterhin Anlass zu besonderer Besorgnis, wenn auch in unterschiedlichem Maße. Wie bereits in den vergangenen beiden Jahren waren in diesem Bereich keine Fortschritte zu verzeichnen; in einigen Fällen hat sich die Lage sogar verschärft. Diskriminierungen und Feindseligkeiten gegenüber benachteiligten Gruppen, unter anderem aus Gründen der sexuellen Orientierung oder der Geschlechtsidentität, geben nach wie vor Grund zu ernster Besorgnis.

Die Migrationskrise war einer der wichtigsten Punkte der politischen Agenda des vergangenen Jahres. Sie verdeutlichte erneut die strategische Bedeutung der Erweiterungspolitik in der Region. Die EU reagierte mit einem umfassenden und rechtesensiblen Handlungskonzept. Die faktische Schließung der Westbalkanroute durch die betroffenen Länder hat zusammen mit der Erklärung EU-Türkei vom 18. März zu klaren Ergebnissen vor Ort geführt: Die Zahl der irregulären Migranten und Asylsuchenden, die auf den griechischen Inseln ankommen, ist erheblich gesunken (von mehreren Tausend pro Tag auf durchschnittlich weniger als einhundert pro Tag). Auch die Zahl der Todesfälle auf See ist infolgedessen deutlich zurückgegangen.

Das ordnungsgemäße Funktionieren der demokratischen Institutionen stellt nach wie vor für eine Reihe von Ländern eine wesentliche Herausforderung dar. Die zentrale Rolle, die den nationalen Parlamenten für die Demokratie zukommt, muss noch in der politischen Kultur verankert werden. Der Putschversuch in der Türkei im Juli war ein schockierender und brutaler Angriff auf demokratisch gewählte Institutionen. In Anbetracht dieser schweren Bedrohung für die türkische Demokratie und den türkischen Staat war eine umgehende Reaktion auf diese Bedrohung legitim. Das Ausmaß und der kollektive Charakter der Maßnahmen, die im Anschluss an den Putschversuch ergriffen wurden, werfen allerdinge eine Reihe von Fragen auf.

Bei der Reform der öffentlichen Verwaltung haben die einzelnen Länder unterschiedliche Fortschritte erzielt. Das Recht der Bürgerinnen und Bürger auf eine gute Verwaltung, auf Zugang zu Informationen und zur Verwaltungsgerichtsbarkeit muss noch besser geschützt werden.

Ein stärkeres Wachstum, der Anstieg der Investitionen und die Schaffung von mehr Arbeitsplätzen durch den Privatsektor sind Anzeichen dafür, dass sich die wirtschaftliche Lage in der Region schrittweise verbessert hat. Alle Erweiterungsländer stehen jedoch auf wirtschaftlicher und sozialer Ebene vor großen strukturellen Herausforderungen, zu denen auch wenig effiziente öffentliche Verwaltungen und die hohe Arbeitslosigkeit gehören. Insbesondere die Jugendarbeitslosigkeit ist weiterhin besorgniserregend hoch. Zudem wirken sich die anhaltenden rechtsstaatlichen Defizite negativ auf das Investitionsklima aus.

Die vom „Berlin-Prozess“ und der Initiative der sechs Länder des westlichen Balkans ausgehenden Impulse – die insbesondere die Konnektivitätsagenda der EU betreffen – haben die verstärkte regionale Zusammenarbeit und gutnachbarliche Beziehungen weiter gefördert und damit zur politischen Stabilisierung beigetragen und wirtschaftliche Chancen eröffnet.

Weitere Informationen:

Pressemitteilung: Erweiterungspaket 2016: Glaubwürdiger Erweiterungsprozess ausschlaggebend für weiteren Wandel und Festigung der Stabilität in Südosteuropa

Mitteilung zum Erweiterungspaket

Die Berichte zu den einzelnen Ländern:

Albanien

Bosnien und Herzegowina

Frühere Jugoslawische Republik Mazedonien

Kosovo

Montenegro

Serbien

Türkei

„Dem ‚Rückschrittsbericht‘ der EU-Kommission müssen jetzt Taten folgen“, kommentiert Andrej Hunko, europapolitischer Sprecher der Fraktion DIE LINKE im Deutschen Bundestag, den heute von der EU-Kommission vorgelegten Bericht zur Türkei. Hunko weiter:

„Die Türkei hat im vergangenen Jahr eine dramatische Verschlechterung in Bezug auf Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit erfahren. Präsident Erdogan baut die Türkei zu einer lupenreinen Diktatur um. Die EU-Beitrittsverhandlungen müssen unverzüglich ausgesetzt werden.

Dasselbe gilt für die milliardenschweren Heranführungshilfen, mit denen die EU das Erdogan-Regime im Kontext der EU-Beitrittsverhandlungen unterstützt. Allein seit 2007 hat die Türkei in diesem Rahmen fast 6,7 Milliarden Euro erhalten – unter anderem für die Förderung von Demokratie, Rechtsstaat und Grundrechten. Das ist mittlerweile blanker Hohn. Diese Zahlungen müssen eingefroren werden.“

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