Wolf Wondratschek liest in der JVA Berlin-Tegel über einen „spektakulären K.-o.-Schläger aus der Ukraine“.
Von Dietmar Jochum, TP Berlin.
Im Alter von elf Jahren sei das Virus in ihn „reingegangen“, das ihn zu einem Boxfan machte, verrät der Schriftsteller Wolf Wondratschek den etwa 25 Gefangenen in der JVA Tegel, die am Montag zur Lesung aus seinem Buch “Im Dickicht der Fäuste“ (dtv 2005) erschienen waren. Der “Box-Literat“, dessen Wunsch es war, in einer Haftanstalt über das Boxen zu lesen (“sonderbares Gefühl der Privilegierung“), fühlte sich dann offensichtlich enttäuscht, daß es nicht mehr waren. Auch wenn er zugab, froh zu sein, das Gefängnis nach zwei Stunden wieder verlassen zu können, machte er nicht gerade den Eindruck, in schlechte Gesellschaft geraten zu sein.
Vor allem dann, als ihn das scheinbar in ihm nicht mehr tot zu kriegende Virus so richtig packte und er einen Artikel über ein Treffen mit Wladimir Klitschko, “den spektakulären K.-o.-Schläger aus der Ukraine“, vor dessen Kampf in Las Vegas 2001 vorlas. Die Euphorie war ihm regelrecht anzumerken. Für den – was seine Begeisterung für Boxkämpfe angehe – “unzeitgemäßen Zeitgenossen“ Wondratschek sei nicht das Boxen, sondern das Geld, das dahinterstecke, das Problem, liest er aus dem Buch. Wer das Boxen für das Problem halte, sei von gestern. Damit Geld fließe, müßten Fäuste fliegen. Klitschko, den er nicht mit Muhammad Ali vergleiche, auch keine Anhaltspunkte habe, ihn mit Tyson zu vergleichen, sähe er erst einmal nicht mehr als das Produkt, das er inzwischen sei; der ganze junge Kerl mache auf ihn den Eindruck, daß es um ihn schade wäre, ins Fegefeuer der großen Schmerzen geworfen zu werden. “Ein Satan, wer ihm das Nasenbein ins Gehirn stampfen würde, umso schmerzhafter, als Klitschko eine erstaunliche Menge Gehirn haben muß. Und das nicht in Form eines Boxhandschuhs“, schrieb und liest Wondratschek nun Mike Tyson und Marvin Hagler in Anspielung auf deren Boxphilosophie und Lebenshaltung die Leviten. Tyson hatte seine Auffassung, wozu ein Gegner gut sei, so zu Protokoll gegeben: “Ich will ihm das Nasenbein ins Gehirn treiben“; Hagler bemerkte einst: “Wenn man je meinen kahlen Kopf aufschneidet, wird man darin einen großen Boxhandschuh finden. Das ist alles, was ich bin. Es ist mein Leben.“ Nur allzu klar für Wondratschek, daß in einem Boxring niemals Platz sein konnte für zwei; auch nicht auf dem Thron des Weltmeisters, der Klitschko in Las Vegas dann ja auch verloren ging.
Wie enttäuschend diese Niederlage für Klitschko gewesen sein mag, schildert Wondratschek am Beispiel einer Cola-Flasche, die Vitali Klitschko seinem Bruder Wladimir einmal aus Amerika mitgebracht hatte. Diese habe Wladimir nur im Zusammenhang mit der Phantasie interessiert, die die Lektüre von “Robinson Crusoe“ bei ihm ausgelöst hatte. Nicht die Flüssigkeit, sondern die zwischen ihr und dem Kronkorken befindliche amerikanische Luft (schließlich sei die Flasche in Amerika abgefüllt worden) sei das Entscheidende gewesen. Ich habe, erzählte Wladimir Klitschko Wolf Wondratschek, die Luft geatmet, die Robinson Crusoe atmete.
So sei er für einen Atemzug Gast gewesen in der Welt, für die seine Träume sich interessierten. Und die hatten nach der Niederlage gegen Charles Shufford offensichtlich dann einen Knacks weg.
Trotz seiner Begeisterung für den Boxsport, “der in der Sklaverei seinen Anfang genommen hatte“ und bei dem es seinerzeit um “das Recht auf Freiheit, die Wiederherstellung der eigenen Würde und die Kiste Gold in der Garderobe“ gegangen sei, ist für Wondratschek heute “der Boxer eine Aktie, die Firma, die ihn beschäftigt, eine Kapitalgesellschaft, ein Spekulant jeder, der mit am Verhandlungstisch sitzt“.
Für Wondratschek ist eine Begabung an Klitschko unbestreitbar:
Er werde sich und seine Entourage wohlhabend machen. Erfüllte er nur halbwegs die Erwartungen, kämen Zahltage. Wondratschek, der gesagt hat: “Picasso bin ich nie begegnet. Strawinski auch nicht. Aber endlich Schmeling.“, könnte nun von Gefangenen hören: “Klitschko sind wir nie begegnet. Ali auch nicht. Aber immerhin Wondratschek.“ Und vor etwa zwei Jahren: Graciano “Rocky“ Rocchigiani. Aber der kam ja bekanntlich nicht nach Tegel, um zu lesen, sondern um einzusitzen. Und das nicht nur für zwei Stunden.