Frieden mit Friedhofsruhe verglichen.

TP-Interview mit dem CDU-Abgeordneten im Berliner Abgeordnetenhaus Günter Toepfer.

TP: Herr Toepfer, seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts gegen ehemalige Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrates der ehemaligen DDR werden Stimmen laut, die besagen, die deutsche Verfassung, d.h. das Grundgesetz, gelte nur noch für Westdeutsche, für Ostdeutsche nicht mehr oder nur noch eingeschränkt. Trifft dieser Vorwurf Ihrer Meinung nach zu?

Toepfer: Nein, und was heißt hier, sie gelte nicht m e h r ? Die Verfassung gilt selbstverständlich für jeden, der in Deutschland angekommen ist. das heißt also: für den Ehemaligen aus dem Osten und den Ehemaligen aus dem Westen. Die Frage ist, ob Menschenrechtsverletzungen, die auf dem Gebiet der DDR oder im Auftrage der DDR-Regierung oder des Staatssicherheitsdienstes außerhalb der Grenzen der DDR erfolgten, ungesühnt bleiben oder nicht. Und da habe ich eine völlig andere Meinung und befinde mich im übrigen auch in Übereinstimmung mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, daß selbstverständlich solche gravierenden Menschenrechtsverletzungen – das sind für mich die Schüsse an der Mauer, das sind die vielen Toten an der Mauer – verfolgt werden müssen.

TP: Nun sagen ja die Funktionsträger der ehemaligen DDR, die vor Gericht stehen, sie hätten stets nach der Verfassung sowie nach Gesetz und Recht der DDR gehandelt. Demzufolge würde durch die Prozesse eklatant das Rückwirkungsverbot der Verfassung mit den Füßen getreten.

Toepfer: Es wirkt hier nicht zurück, sondern auch nach DDR-Recht war die Ermordung eines Flüchtlings nicht gestattet, sondern ist ein schweres Strafdelikt, das verfolgt gehört. Daß die heute unter Anklage Stehenden das gerne weginterpretieren wollen, daß sie im übrigen auch – so ähnlich wie das hier auf den Theaterveranstaltungs-Plakaten zu lesen ist: „Ich war’s nicht gewesen, Adolf Hitler war es gewesen!“ – sich so herausreden…, daß also der eigentliche Täter sich grundsätzlich unschuldig fühlt und man dann eben am besten auf jemanden zurückgreift, der schon verstorben ist…, also das macht sich ja jetzt mit Honecker ganz gut oder damals mit Hitler ebenfalls sehr gut. Oder jetzt im Falle Stolpe beispielsweise in dem Staatssekretär für Kirchenfragen als den Ausreicher dieses Ordens. Ich würde mich schämen, einen solchen Orden bekommen zu haben. Und es macht die Sache überhaupt nicht besser oder schlechter, ob ich den aus Stasi-Hand bekommen habe oder aus anderer Hand. Das ist einfach mangelnde Courage, zu dem zu stehen, was man zu verantworten hat. Und sie waren hohe Verantwortungsträger. Und ich bin allen Ernstes der Meinung, sie hätten es anders händeln können – siehe ja auch das Ende der DDR, wo sie ja auch keine Erlaubnis vom Großen Bruder hatten, sondern wo sie durch den Druck, der von der Straße ausgegangen ist, eine Entscheidung, die sie vielleicht hinterher sehr bereut haben, aber eine Entscheidung getroffen haben, die durchaus eine Souveränität zum Ausdruck bringt. Und im übrigen waren sie ja nach eigenem Bekunden 40 Jahre souverän gewesen und haben uns nie wissen lassen, daß sie eigentlich nur Erfüllungsgehilfen sowjetischen Willens seien.

TP: Durch das Grenzgesetz hat die DDR ja beispielsweise etwas auf gesetzliche Grundlage gestellt und jemand, der über die Mauer gehen wollte, mußte wissen, daß das als eine sogenannte Grenzverletzung geahndet werden kann, in letzter Konsequenz auch mit dem Leben bezahlt werden mußte. Wie dem auch sei und man es werten mag, gab es nicht für das, was an Mauer und Grenze geschah, eine rechtliche Grundlage und hat das Rückwirkungsverbot demzufolge Anspruch auf Berücksichtigung? Ist diese Forderung der Angeklagten an den Haaren herbeigezogen oder lediglich eine Schutzsuche?

Toepfer: Sie haben jetzt eigentlich zwei Fragen gestellt. Die Schüsse an der Mauer können auch durch ein Gesetz nicht legalisiert werden. Wer dort auf Wehrlose schießt – es waren auch Kinder gewesen, die beim Schwimmen einfach nicht gesehen haben, daß da eine Grenze durch das Wasser verläuft, und es waren einfach welche, die für sich ein originäres Recht in Anspruch nehmen wollten, nämlich das Recht auf Freiheit und daran gehindert wurden – hat keine Rechtfertigung dafür.

TP: Das Recht auf Ausreise hat die DDR auch in internationalen Vereinbarungen ihren Bürgern zugestanden.

Toepfer: Spätestens ganz dezidiert beim Helsinki-Abkommen; aber was das wert war, wissen alle diejenigen zu berichten, die unter Berufung auf diesen Helsinki-Korb dann in die Zuchthäuser der DDR gegangen sind. Er war im Verständnis der DDR nicht das Papier wert, auf dem er festgehalten war. Es fehlte ganz einfach der Wille. Ich will zugeben, es fehlte ganz einfach auch die Befähigung dazu, solche Entscheidungen zu treffen, die mehr Freiheit gewährleisten, weil sie ganz genau wußten, daß sie ihrer Bevölkerung nicht sicher sind. Die Bevölkerung war praktisch in eine Art Sippenhaft genommen worden, das Ganze umzingelt mit einem Zaun, und dann wurde uns natürlich immer gesagt, daß der Zaun die feindlichen Kräfte, die von außen her einzudringen versuchen, abwehrt. Nun muß ich Ihnen sagen, ich habe im Zuchthaus gesessen, ich weiß, wie der Zaun gerichtet ist. Und dieser Zaun oder diese Zäune an den Grenzen waren gegen die Bevölkerung nach innen gerichtet, daß keiner gehen konnte. Und insofern können die reden, was sie wollen, und sie können mir ihr Grenzgesetz erklären – Grenzgesetz aber mit „G“. Im übrigen eine schöne…

TP: … Wortspielerei…

Toepfer: …Wortspielerei…, das ist einfach keine Entschuldigung dafür; im übrigen haben sie uns ja 40 Jahre gesagt, es gibt gar keinen Schießbefehl. Und jetzt gibt es ja nun sogar Tatbestände, daß der Schießbefehl angesichts der Weltfestspiele aufgehoben wurde. Also wenn man etwas nicht hat, dann bracht man es auch nicht aufzuheben.
Über jeder Verfassung, auch über der unsrigen, stehen grundsätzlich die international verbürgten Menschenrechte. Und auch eine Verfassung kann diese Rechte nicht einschränken oder gar aussetzen. Und man hat keine Legitimation, schon gar nicht eine moralische, wenn man sagt: „Na bitte schön, wir haben ja dieses Recht, dieses Recht und dieses Recht alles ausgesetzt. Es stehe ja in der Verfassung unseres Staates so. Dann würde also praktisch jede Diktatur ein Rechtsstaat sein, weil sie sich im Prinzip in ihre Verfassung alles hineinschreiben kann und alles außer Kraft setzen. So geht es nicht. Ich kann nur noch einmal sagen, die Herren haben zu ihren Taten zu stehen. Sie waren die allerobersten Verantwortungsträger. Was haben sie denn eigentlich getragen, wenn nicht Verantwortung!?

TP: Nun gibt es ja Rechtsexperten, die behaupten, solange internationales Recht nicht in nationales Recht umgesetzt worden ist, ist es für den Staatsbürger kein verbindliches Recht. Können Sie das nachvollziehen?

Toepfer: Nein, die DDR hat Helsinki ratifiziert, ist durch die Volkskammer gegangen, und demzufolge hat man deutlich gemacht, daß man die Vereinbarungen, die man dort eingegangen ist und für die man sich hat auch belobigen lassen durch die Weltpresse, auch einzuhalten beabsichtigt. Was macht es sonst für einen Sinn, einen internationalen Vertrag zu unterschreiben, wenn man nicht willens ist, selbigen dann auch – Ja für wen eigentlich? Ja, für die eigene Bevölkerung! – zu akzeptieren und umzusetzen. Ich meine, für ein paar Spitzenbonzen brauchte diese Freizügigkeit nicht mehr gewährt werden, die konnten sich selbst gewähren, was sie wollten; und sie konnten auch ihre Kraftfahrerlakaien oder sonstige im Westen einkaufen lassen oder ihre persönlichen Geschäfte abwickeln lassen oder auch Urlaub im westlichen Ausland machen. Aber das war ja mit Helsinki nicht beabsichtigt, sondern das sollte eine Sicherheit für die Menschen in Europa geben, daß praktisch ein allgemein verbindlicher Rechtsstandard für alle gelten soll. Und wenn Europa ja zusammenrücken und den Frieden sichern will, dann kann der Frieden nur gewährleistet werden durch mehr Freizügigkeit, durch Menschenrechte. Aber nicht Frieden im Sinne einer Friedhofsruhe. Das ist mißverstanden worden. Da habe ich manchmal den Eindruck, die DDR hat Frieden und Ruhe und Stabilität immer verglichen mit dem Zustand auf einem Friedhof.

TP: Heute werden ja Prozesse und Ermittlungsverfahren en masse geführt gegen irgendwelche Funktionsträger der ehemaligen DDR, gegen Richter, Staatsanwälte und so weiter. Es wurde der Vorwurf erhoben von ihnen und anderen oder die Sorge ausgedrückt, die Verfahren würden das Zusammenwachsen der beiden Bevölkerungsgruppen Ost/West eher behindern als fördern. Das deutsche Volk würde eher gespalten als vereint. Können Sie das nachvollziehen?

Toepfer: Nein, die Prozesse gehören zu einer Demokratie dazu. Wenn es so viele Menschenrechtsverletzungen gegeben hat, die letztlich unter scharf angelegten rechtsstaatlichen Kriterien zu einer Anklage führen, dann ist nicht der Bundesrepublik Deutschland und dem Wirkungsbereich des Grundgesetzes der Vorwurf zu machen, sondern denjenigen, die so viele Verbrechen auf sich geladen haben, daß heute eben diese Anklagen gemacht werden. Ich glaube, es kommt eher der Vorwurf, daß man die Kleinen an den Hammelbeinen nimmt und die Großen nicht. Diesen Vorwurf höre ich häufiger. Die Neigung geht dahin, daß unser Rechtsstaat erkennbar Grenzpolizisten, der eben 80mal auf einen Flüchtling geschossen hat, zu verfolgen, aber die ganz Großen laufen läßt. Und insofern muß ich mal sagen, mich befriedigt das durchaus, daß die eigentlichen Verantwortungsträger – und das sind jetzt die, die jetzt vor Gericht hier sitzen – sich zu verantworten haben; denn das sind diejenigen, die am Schreibtisch gearbeitet haben in gewisser Weise. Ich will das jetzt nicht völlig vergleichen mit Eichmann. Eichmann hat persönlich wahrscheinlich auch nicht einen einzigen Juden umgebracht oder gar auf einen einzigen geschossen; aber zu Recht wurde er als derjenige, der das Ganze zu verantworten hat oder maßgeblich, damals verfolgt und hingerichtet. Und so meine ich – wir richten natürlich nicht hin, das ist klar -, werden die Verantwortlichen sich zu verantworten haben. Und daneben natürlich auch einige der Grenzpolizisten. Und Sie wissen ja auch, da gibt es solche und solche Urteile. Im Bewußtsein vieler Menschen unbefriedigende Urteile. Im Bewußtsein anderer Unrechtsurteile. Aber ich meine ganz einfach, hier hat die Rechtspflege die Aufgabe, zu verfolgen. Wir müssen nicht permanent Rechtspflegeschelte machen. Auch wenn ich mich selbst über manches persönlich ärgere, finde ich schon, daß – nehmen wir nur den Fall der drei Grenzpolizisten, ein vierter ist gestorben, die einen eindeutig aus dem Westen, im Humboldtbecken versehentlich über die Grenzlinie geschwommenen Angetrunkenen, zusammenballerten, und das wohl mit 170 Schüssen – das deutlich macht, daß der Finger bei den Vieren mindestens sehr nah und sehr schnell gekrümmt wurde. Es gibt auch viele, viele andere Beispiele, wo Grenzpolizisten um das Schändliche ihres Tuns wußten und bewußt den Flüchtling nicht treffen wollten, was ja im übrigen auch dann zu Auswertungen bei den Grenzkommandeuren geführt hat, auch mit der Wehklage, daß also so und so viel Stück Munition verschossen, ehe der Flüchtling am Grenzdurchbruch gehindert wurde, während ein Jäger es mit einem Schuß tut. Also dieser Vergleich „Jäger“ und „viel zu viel geballert“ und „unökonomisch“ macht eigentlich schon mal die geringe Wertschätzung dem Leben gegenüber deutlich.

TP: Nun sagen die Funktionsträger der ehemaligen DDR, die heute vor Gerichte stehen, man sei bewußt hingegangen von seiten der bundesrepublikanischen Justiz, habe die Kleinen zuerst vor Gericht gestellt, um dann das Argument zu haben, man könne doch die Kleinen nicht hängen und die Großen laufen lassen.

Toepfer: Ich hätte mir durchaus auch gewünscht, daß die Justiz in der Lage gewesen wäre, die Untersuchungen so durchzuführen, daß früher und nicht erst nunmehr im 7. Jahr nach der Wiedervereinigung diese Leute zur Anklage gebracht werden. Ich hätte mir schon gewünscht, daß das auch vor vier Jahren geschieht. Insofern kann ich durchaus dem Wunsch dieser Leute folgen, daß sie lieber früher ihren Prozeß haben wollten. Bitte sehr, wenn sie konstruktiv mitgewirkt hätten, wenn sie ihre Vergehen zugegeben hätten und nicht – wie heute – mit prozessualen Hilfskrücken versuchen, den Prozeßfortgang zu behindern und letztlich ja auch eine Verurteilung – legitimes Recht jedes Beschuldigten, ist mir schon klar -, dann hätten sie ihren Prozeß schon gehabt. Aber nun dürfen sie sich nicht beschweren, daß man nicht schnell genug gegen sie gehandelt hat.
Ich finde, beides mußte gemacht werden. Die Schüsse desjenigen müssen geahndet werden, der sie tatsächlich ausgelöst hat und natürlich auch die Verantwortung dessen, der das alles befohlen hat.

TP: Egal in welcher Reihenfolge?

Toepfer: Nicht egal in welcher Reihenfolge, nur weiß ich nicht, ob es viel Sinn macht, zu sagen, wir hätten uns zuerst die Großen nehmen müssen. Natürlich ist das, was den Großen vorgeworfen wird, viel schwieriger zu bewerten, viel umfangreicher. Das, was einem Grenzwärterpärchen vorzuwerfen ist, das ist Gott sei Dank „nur“, sage ich mal, der Mord oder der Totschlag an einer Person. Und dann bewertet man das ganze Umfeld und wie es dazu gekommen ist sowie die Persönlichkeit des Täters und so weiter… Aber wenn man sich hier um Krenz und Co bemüht, dann hat man hier natürlich eine viel schwierigere, viel umfangreichere, viel langwierigere oder größere Zeitspanne zu bewerten, also praktisch von dem Augenblick an, wo er in leitende Politik gekommen, also Mitglied des ZK geworden ist. Und das ist einfach nicht nur vergleichbar mit dem Augenblick, in dem ein Grenzer gefeuert hat, sondern das eine ist eine einmalige Tat, und die ist auch viel schneller zu recherchieren und zu überschauen und zur Anklage zu bringen oder zu entscheiden, ob es zur Anklage gebracht wird als das Tun über viele Jahre; denn Ausdruck einer demokratischen Rechtspflege heißt natürlich be- und entlastende Momente für Angeklagte zu eruieren. Zu den entlastenden Momenten gehört ohne Zweifel, daß – wie es die Verteidigung jetzt auch aufbaut – die DDR eine eingeschränkte Souveränität hatte, praktisch eine russische Kolonie war und im übrigen grundsätzlich sich nur als ein Erfüllungsgehilfe sowjetischer Machtstrukturen verstanden hatte. Ich bewerte es allerdings so nicht. Die DDR hatte Souveränität gehabt. Sie hat sie uns im übrigen auch lauthals – wie ich es ja vorhin schon sagte – über 40 Jahre lang so vermittelt, daß sie ein souveräner Staat ab dem 7. Oktober 1949 sei mit einer eigenen Bevölkerung, die nicht mehr deutsch heißt, sondern die DDR-Bürger heißen und, und, und… Ja, dann möchten sie dazu auch bitteschön stehen jetzt.

TP: Glauben Sie, daß die Justiz in der Lage ist, ohne Experten zu einem objektiven Urteil zu kommen?
Toepfer: Nein! Sie brauchen Experten, sie brauchen sehr wahrscheinlich auch Leute, die politische Tatbestände bewerten, ihnen da Ratschlag geben können. Aber das ist ja nichts Unübliches, daß ein Gericht immer dann, wenn es sich überfordert fühlt aus eigenem Sachverstand hier Entscheidungen zu treffen, die also für ein Urteil bedeutsam sind, sich Gutachter bedient. Da sind z.B. Psychologen, Waffenexperten…

TP: … Historiker …

Toepfer: … Historiker …

TP: … Völkerrechtler …

Toepfer: … habe ich auch nichts dagegen; die Frage ist nur, inwiefern das dann einen Einfluß auf die Urteilsfindung nimmt. Aber selbstverständlich, wenn das Gericht das für nötig erachtet – aber das ist eine Sache, die das Gericht selbst zu entscheiden hat bzw. die Anwälte der Beschuldigten können das auch durch prozessuale Mittel versuchen zu erreichen…

TP: … was bisher aber abgelehnt wurde …

Toepfer: … was bisher abgelehnt wurde…, na bitte sehr, das ist eben auch eine Tatsache, daß man nicht das machen muß, was der Verteidiger verlangt. Dann brauchen wir überhaupt gar keine Prozesse mehr zu führen, denn jeder Verteidiger ist natürlich der Meinung, sein Mandant ist unschuldig oder verdient gar keine Strafe. Und demzufolge könnten wir gleich auf den ganzen Prozeß verzichten, zumal ja Herr Krenz sowieso von einer Klassenjustiz spricht. Nur: er hat sie 40 Jahre lang in seinem System, in seinem eigenen Staat in aller Härte durchgeführt. Und er hat einfach noch nicht begriffen, daß es Unterschiede zwischen seiner Justiz und unserer – und ich weiß, worüber ich rede, weil ich von seiner Justiz betroffen war – gibt. Das hat er noch nicht begriffen. Das ist eben Nachhilfeunterricht, der bei manchen nicht zum Verständnis führt. Aber damit müssen wir eben auch leben, daß wir Herrn Krenz nicht davon überzeugen können, daß er nunmehr in einem gesicherten Rechtsstaat lebt, in dem er sich aber eben auch zu verantworten hat.

TP: Können wir ihn mit „unseren“ Worten überhaupt erreichen?

Toepfer: Ja, ich kann das nicht beurteilen. Vom Gefühl her würde ich sagen, zumindest wie er und einige seiner Mitangeklagten sich äußern, glaube ich, daß offensichtlich da Perlen vor die Säue geworfen werden – um mal mit einem deutschen Sprichwort zu reden. Anders scheint mir das bei Schabowski auszusehen, der ja immer noch in dieser Runde mit drin ist, der ja sehr gerne seine Abtrennung haben möchte, weil er sich davon 1. ein Prozeßende wünscht, eine Verurteilung wünscht, mit der er dann auch leben kann, weil er sich auch eine neue Existenz aufgebaut hat. Die wird natürlich durch solch einen langen Prozeß ganz erheblich gefährdet. Welcher Arbeitgeber kann so jemanden so lange entbehren?

Und dann kommt hinzu, daß nach meiner Meinung Krenz – ich habe auch mal mit ihm persönlich geredet – in erheblichem Maße – auch wohl nur partiell, aber in erheblichem Maße – sein eigenes Versäumen, seine eigene Angst, seine eigene Schuld akzeptiert; und er hat sich ja auch ganz generell in toto bei allen entschuldigt, die durch sein Unterlassen und Mitwirkens zu Schaden gekommen sind. Das macht dann aber schon einen anderen Sinn; mindestens bei dem ist offensichtlich – und das erscheint mir nicht taktisches Kalkül, sondern das erscheint mir bei ihm Überzeugung zu sein – etwas angekommen. Dort ist offensichtlich das Bemühen nicht ganz für umsonst gewesen. Bei ihm ist es angekommen, bei den anderen vier kommt es wahrscheinlich nicht an.

TP: Aber im strafrechtlichen Sinne ist es bei Krenz auch nicht angekommen.

Toepfer: Im strafrechtlichen Sinne nicht.

TP: Eine Frage möchte ich Ihnen nicht ersparen – ich habe sie den meisten meiner Interviewpartner gestellt: 1987 hat man Erich Honecker nach Bonn eingeladen, man hat eigens ein Straffreiheitsgesetz für ihn gemacht, also einen Hoheitsträger der ehemaligen DDR hofiert und nach ihrem Zusammenbruch vor Gericht gestellt. Hat man sich hier nicht irgendwo einen gewaltigen politischen Fehler geleistet?

Toepfer: 1987 war nicht 1989 oder danach. 1989 ist eben alles ganz anders geworden. 1987 glaubte man, daß man auch auf bundesrepublikanischer Seite, daß man noch lange mit der DDR auskommen muß und meinte, nur durch eine solche Geste und nur durch Gespräche könne man praktisch zu praktikablen Lösungen kommen. Dieser Versuch ist gutzuheißen und die dafür rechtsstaatlich notwendige Krücke, nämlich das Straffreiheitsgesetz, macht ja eigentlich deutlich, daß im Bewußtsein der Bundesrepublik dieser Mann eigentlich strafbare Taten gemacht hatte, die man nur aus übergeordneten politischen Gründen zurückstellte. Solche Überlegungen gibt es. Es gibt einfach nicht die reine Lehre und das reine Verhalten, wo man sagen könnte: Es wäre wünschenswert, man hätte immer und in jeder Situation so gehandelt, wie man dann später so sich in einer Sache verhält. Ich persönlich hätte mir auch gewünscht, daß dieser Besuch nicht durch Honecker, sondern durch einen Unbelasteten hätte stattfinden können. Aber er war nun einmal der 1. Mann in der DDR, und wenn man mit jemandem redet, redet man mit dem 1. Mann. Und daß man ihn hinterher angeklagt hat – er hat ja keine Amnestie bekommen, um jetzt mal auf das feine juristische überzugehen – ist……..

TP: Aber müßte so ein Straffreiheitsgesetz nicht irgendwo eine künftige Bindungswirkung haben?

Toepfer: Das kann ich nicht beurteilen, ich bin nicht Jurist genug um Ihnen das richtig zu beantworten.

TP: Aber macht man sich nicht politisch unglaubwürdig, wenn man denjenigen, für den man ein Straffreiheitsgesetz erlassen hat, den man quasi mit weißer Fahne auf rotem Teppich hat einlaufen lassen, nachträglich anklagt?

Toepfer: Ja, man macht es schwieriger, daß manche das einfach nicht verstehen können, besonders diejenigen, die nicht genügend Vorbildung auf diesem Gebiete haben. Und ich zähle mich nach dieser von Ihnen sehr präzise gestellten Frage auch dazu. Das ist schwer zu vermitteln. Aber ich glaube, es hat schon Leute gegeben, die – als man Honecker dann angeklagt hat, wissend um diese Regelung von 1987 – gemeint haben: Jawohl, in einem Rechtsstaat ist es trotz vorangegangenen Straffreiheitsbescheides möglich, ihn unter Anklage zu stellen. Und ich muß Ihnen sagen, welch große Enttäuschung ich persönlich empfunden hatte, als Honecker dann wegen der – von mir damals als vermeintliches Krebsleiden eingeschätzt – Krankheit nach Chile ausreisen durfte. Und ich hatte das Gefühl, er wird uns von dort triumphierend aus der Sonne grüßen und wird sich über uns totlachen und bezieht dann eine bundesrepublikanische Rente. Insofern bin ich überzeugt worden, daß sein Gesundheitszustand doch ein ganz schlechter war, denn er hat es dann ja nicht mehr lange gemacht.

TP: Für einige noch zu lange.

Toepfer: Ja, das ist richtig, denn natürlich hat jeder seine persönliche Stellung dazu, aber ich wollte eben auch nicht verhehlen, daß ich damals schon Probleme mit seiner Ausreise hatte. Also, ich hätte mir eine ordentliche Verurteilung für alles das hier gewünscht. Der ist auch ein bißchen zu schnell gestorben, zu schnell deswegen, weil man bestimmt noch manche Fragen an ihn hätte stellen wollen. Und es war ja auch beabsichtigt, daß er in Gerichtsverfahren gegen seine Vasallen beispielsweise, möglicherweise auch gegen sich selbst aussagt. Es ist mir wichtig, hier nochmals zu betonen, daß er ja nicht amnestiert worden ist. Nur meine ich, ein solcher Zustand, wenn man krebsleidend ist, wird sich kaum verbessern, und sein Ende war also offensichtlich den Insidern absehbar. Für uns war es nicht absehbar. Insofern Frieden seiner Asche. Spätestens am Grabe hört natürlich auch die Verantwortlichkeit für seine Taten auf.

TP: Über die Toten trotzdem nur Gutes?

Toepfer: Nein, selbstverständlich nicht. Jeder Tote hat ein Leben gehabt, und jemand hat nicht dadurch Verdienste erworben, daß er gestorben ist, sondern er hat die Verdienste oder die Nichtverdienste im Laufe seines Lebens erworben. Und über die reden wir und über die wird die Geschichte ein Urteil zu fällen haben. Und das war schon immer so gewesen. Und es ist in diesem Falle nicht anders.

TP: Sollte man heute DDR-Unrecht in gewissem Maße noch mehr amnestieren als das bisher, wenn überhaupt, der Fall gewesen ist?

Toepfer: Das wird kommen. Aber ich bin allen Ernstes der Meinung, daß bei der geringen Anzahl von Prozessen und bei der geringen Anzahl von Verurteilungen der Zeitpunkt noch nicht gekommen ist. Man hat sehr sorgfältig den Gesichtspunkt der Befriedung zu gewichten. Befriedung aus der Sicht der Täter kann ich verstehen, daß die das haben wollen, und daß die natürlich eine Amnestie als einen Beitrag zur Befriedung ansehen. Aber bitte sehen Sie die Hunderttausende von Opfern an, sehen Sie diejenigen an, die um ihre Lebensperspektiven gebracht wurden, sehen Sie diejenigen an, die heute unter den Nachwirkungen dieses Systems nach wie vor leiden – ich meine damit meine Haftkameraden beispielsweise. Für die muß Befriedung auch gelten. Und die Befriedung setzt eine ordentliche Auseinandersetzung, eingeschlossen auch für nachgewiesene Verbrechen voraus. Und da das bisher noch nicht in ausreichendem Maße – und bei den Geldschiebereien bisher überhaupt noch gar nicht – erfolgt ist, meine ich allen Ernstes, haben wir nicht nur das Recht, sondern wir haben auch eine Verpflichtung, die Strafverfolgung so lange weiter zu betreiben, wie es nötig ist, um dann die Entscheidung zu einer Befriedung im Sinne einer Generalamnestie oder Teilamnestie zu treffen. Es gibt sowieso jetzt schon nach bundesgerichtlichen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Tatsachen, die nicht mehr verfolgt werden dürfen, also geheimdienstliche Tätigkeiten auf oder vom Boden der DDR aus. Das sind schon, ja wenn Sie so wollen, vorgegriffene Amnestieentscheidungen.

Interview: Dietmar Jochum, TP Berlin

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