Im Namen des Volkes gegen Häber u.a
Im Namen des Volkes
(532) 25 Js 4 / 94 Ks ( 9 / 96 )
Strafsache
g e g e n
1. Prof. Herbert H ä b e r ,
geboren am 15. November 1930 in Zwickau
…
2. Dr. Hans-Joachim B ö h m e ,
geboren am 29. Dezember 1929 in Bernburg/Saale
…
3. Siegfried L o r e n z ,
geboren am 26. November 1930 in Annaberg
…
w e g e n
Totschlags
Die 32. große Strafkammer des Landgerichts Berlin – Schwurgericht – hat aufgrund der Hauptverhandlung am 9., 16., 23. und 30. Mai 2000, 6., 15., 20. und 27. Juni 2000, 4., 5. und 7. Juli 2000, an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter am Landgericht Luther
als Vorsitzender,
Richterin am Landgericht König,
Richterin Bach
als beisitzende Richterinnen,
Rentner Horst Heß,
Diplom-Ingenieurin Marianne Liekweg
als Schöffen,
Oberstaatsanwalt Jahntz
als Beamter der Staatsanwaltschaft,
Rechtsanwälte Herrmann und Amelung für den Angeklagten
Prof. Häber,
Rechtsanwälte Arndt, Röver und Wuthenow für den Angeklagten
Dr. Böhme,
Rechtsanwalt Dr. Wolff und Rechtsanwältin Kossack für den
Angeklagten Lorenz
als Verteidiger,
Rechtsanwälte Plöger, Pelizeaus, Steinmann und Paul
als Vertreter der Nebenklägerin Irmgard Bittner,
Justizsekretärin Pakebusch
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
in der Sitzung vom 7. Juli 2000
für R e c h t erkannt:
Die Angeklagten werden auf Kosten der Landeskasse
Berlin, die auch ihre notwendigen Auslagen zu tragen
hat, freigesprochen.
Sie sind für die freiheitsbeschränkenden Maßnahmen
zu entschädigen.
G r ü n d e
I.
Gegenstand des vorliegenden Verfahrens ist der Tod von vier Flüchtlingen, die zwischen 1984 und 1989 unbewaffnet und ohne Gefährdung anderer versuchten, an der damaligen Grenze zu Berlin (West) die DDR zu verlassen.
Die Staatsanwaltschaft II bei dem Landgericht Berlin legt den Angeklagten mit Anklageschrift vom 29. Februar 1996 – welche mit dem Eröffnungsbeschluß der Kammer vom 9. April 1998 zur Hauptverhandlung zugelassen wurde – zur Last, als Mitglieder des in Berlin tagenden Politbüros des Zentralkomitees (ZK) der SED gemeinschaftlichen Totschlag durch Unterlassen begangen zu haben.
In dieser Funktion seien die Angeklagten entscheidend an der weiteren Aufrechterhaltung der Grenzsperranlagen zum Westteil Berlins beteiligt gewesen, die ab August 1961 errichtet, nachfolgend ausgebaut und ständig aufrechterhalten worden waren. Durch das von den Angeklagten geduldete Fortdauern der Umsetzung der vom Politbüro getroffenen Grundentscheidungen und der die Vorgaben des Politbüros in militärischer und technischer Hinsicht präzisierenden Beschlüsse der nachrangigen Organisationen in konkrete militärische Befehlsketten, die bis zu den zu vergatternden Grenzposten und -postenführern reichten, seien die Sperranlagen zum Westteil Berlins fortlaufend mit dem Ziel absoluter Unüberwindlichkeit für Fluchtwillige unterhalten worden. Dementsprechend seien an der Grenzmauer bei Fluchtversuchen nach West-Berlin Personen durch Grenzposten erschossen worden, was die Angeklagten billigend in Kauf genommen hätten.
Konkret legt die Anklageschrift dem Angeklagten Prof. Häber zur Last, durch Unterlassen in dem Zeitraum vom 24. Mai bis zum 1. Dezember 1984 in einem unselbständigen Teilakt für den Tod von Michael Horst Schmidt am 1. Dezember 1984 strafrechtlich verantwortlich zu sein. Die Mitgliedschaft Prof. Häbers im Politbüro habe freilich bis zum 22. November 1985 gewährt.
Den Angeklagten Lorenz und Dr. Böhme wirft die Staatsanwaltschaft vor, durch Unterlassen im Zeitraum vom 21. April 1986 bis zum 5. Februar 1989 durch jeweils drei unselbständige Teilakte für den Tod von Michael Bittner am 24. November 1986, Lutz Schmidt am 12. Februar 1987 und Chris Gueffroy am 5. Februar 1989 strafrechtlich verantwortlich zu sein. Politbüro-Mitglieder seien beide bis zum 8. November 1989 gewesen.
Außer den Angeklagten war das frühere Mitglied des Politbüros des Zentralkomitees Werner Ernst Eberlein wegen desselben Tatvorwurfs wie die Angeklagten Lorenz und Dr. Böhme angeklagt. Mit Beschluß der Kammer vom 9. April 1998 ist die Eröffnung des Hauptverfahrens hinsichtlich des Angeschuldigten Eberlein abgelehnt worden, weil er auf Dauer verhandlungsunfähig ist.
Soweit in anderen Strafverfahren die Funktionsträger der DDR Schabowski, Kleiber und Krenz beziehungsweise Keßler, Streletz und Albrecht strafrechtlich zur Verantwortung gezogen worden sind, handelte es sich stets – im Gegensatz zum Gegenstand des hiesigen Verfahrens – um deren aktive Mitwirkung bei einzelnen Entscheidungen zum Grenzregime.
Die Staatsanwaltschaft vertritt im vorliegenden Verfahren die Auffassung, daß nach zusammenfassender Würdigung für die Angeklagten aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu dem höchsten Partei- und letztlich staatstragenden Gremium Politbüro die Rechtspflicht und die tatsächliche, jedoch nicht wahrgenommene Möglichkeit bestanden habe, auf eine Humanisierung des Grenzregimes hinzuwirken, um damit Tötungen von Flüchtenden zu verhindern.
Zwar wirkten die Angeklagten nicht selbst an konkreten Beschlüssen zur Errichtung beziehungsweise zum Ausbau des Grenzregimes mit. Sie hätten sich jedoch in Kenntnis der Tatsache, daß den Einsatz von Schußwaffen zur Verhinderung von Fluchten aus der DDR in den Westen um jeden Preis anordnende Entscheidungen ergangen waren und gemäß den darauf orientierten Vorgaben des Politbüros weiter ergehen würden, diese Entscheidungen und Vorgaben zu eigen gemacht. Sie unterließen es hierbei im Bewußtsein ihrer tatsächlichen Machtposition entgegen ihrer in der DDR-Verfassung und in internationalem Recht gesetzlich normierten Garantenpflicht auf eine ihnen und dem von ihnen mitgetragenen Politbüro vorbehaltene und mögliche Humanisierung des Grenzregimes hinzuwirken. Im Hinblick auf die Tötungshandlungen zum Nachteil fluchtwilliger DDR-Bürger habe von den Angeklagten erwartet werden können, daß sie ihrer Verantwortungsübernahme durch die Mitgliedschaft im Politbüro des ZK der SED gerecht wurden und aktiv für eine solche Humanisierung eintraten, beispielsweise dergestalt, daß sie im Rahmen der Beratungen des grundsätzlich in einem halbjährigen Turnus aufgestellten Arbeitsplanes des Politbüros Diskussionsbeiträge und Vorschläge zur Aufnahme eines Arbeitstitels „Möglichkeiten der Humanisierung der Staatsgrenze West und der Grenze zwischen West-Berlin und der Hauptstadt der DDR“ einbrachten.
Dieses Unterlassen sei unter Anwendung des gemäß § 2 Abs. 3 StGB gebotenen Vergleichs der verwirklichten Strattatbestände nach dem StGB/DDR und dem Strafrecht der Bundesrepublik Deutschland nach dem milderen Strafrecht der Bundesrepublik Deutschland als Verbrechen gemäß §§ 112, 22 Abs. 1, 9, 63 StGB/DDR i.V.m. §§ 212, 25 Abs. 2, 52, 13 StGB, Art. 315 EGStGB strafrechtlich zu ahnden.
Die Angeklagten waren aus rechtlichen Gründen freizusprechen.
II.
Die Kammer legt ihren Feststellungen zur politisch-historischen Entwicklung in der DDR teils allgemeinkundig gewordene Tatsachen zugrunde, teils die Ergebnisse der Verlesungen von Rechtsvorschriften.
Sie folgt dabei insbesondere auch den ausführlichen und umfassenden Feststellungen des im Selbstleseverfahren in die Hauptverhandlung eingeführten – rechtskräftigen – Urteils des Landgerichts Berlin vom 27. August 1997 ((527) 25/2 Js 20/92 Ks (1/95)).
Die politische Macht in der DDR war nicht auf verschiedene Träger verteilt, sondern ging von nur einem Herrschaftszentrum aus. Dieses umfassend und unkontrolliert herrschende Führungszentrum war das Politbüro des Zentralkomitees der SED, die ihrerseits für alle Bereiche der DDR einen Alleinführungsanspruch erhob. Dieser Alleinführungsanspruch der SED war verfassungsrechtlich gesichert durch Art. 1 Abs. 1 der Verfassung der DDR vom 6. April 1968 (in der Fassung vom 7. Oktober 1974 – Gbl I 432): „Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern. Sie ist die politische Organisation der Werktätigen in Stadt und Land unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei.“
Das Politbüro war das oberste Entscheidungsgremium der SED und damit das höchste Machtorgan der DDR. Jede grundsätzliche politische und jede wichtige personelle Entscheidung des Landes wurde im Politbüro gefällt. Das Politbüro befaßte sich mit der Außen- und Sicherheitspolitik ebenso wie mit der Innen- und Wirtschaftspolitik. Es regelte grundlegende übergreifende Bereiche ebenso wie Detailfragen. Das Politbüro konnte jede Angelegenheit zur Entscheidung an sich ziehen. Es hatte die umfassende Kompetenz, über die eigene Zuständigkeit zu entscheiden. Seine Entscheidungen betrafen parteiinterne, staatliche, wirtschaftliche und gesellschaftliche Fragen.
Das Politbüro gestaltete in einer Aufbauphase in den Jahren 1952 bis 1962 das Grenzregime an der innerdeutschen Grenze durch eine Vielzahl von ausführlichen und detaillierten Entscheidungen. Ziel dieser Entscheidungen war es, die DDR gegenüber der Bundesrepublik Deutschland und anderen westlichen Staaten möglichst umfassend abzuschotten. Im Politbüro wurden die Entscheidungen zur „Errichtung eines besonderen Regimes an der Demarkationslinie zwischen der DDR und Westdeutschland und im Küstengebiet“, zum Bau der Berliner Mauer und zur Anwendung der Schußwaffe getroffen. Das Politbüro befaßte sich noch bis in das Jahr 1962 hinein regelmäßig und konkret mit der Grenzsicherung und schuf die Rahmenbedingungen zur Abriegelung der Grenze zur Bundesrepublik Deutschland. In umfangreichen und detaillierten Beschlüssen aus den Jahren 1971 und 1973 entschied das Politbüro, die Grenzanlagen in einigen Bereichen durch Schützenminen zu verstärken.
Neue und grundlegende Entscheidungen des Politbüros zum Grenzregime waren späterhin nicht erforderlich, da das Sicherungssystem aufgrund wohlorganisierter vom Politbüro geschaffener Mechanismen funktionierte. In einer Reihe von Entscheidungen in anderen, mit dem Grenzregime nur mittelbar zusammenhängenden Bereichen machte das Politbüro deutlich, daß weiterhin die Grenzübertritte streng reglementiert werden sollten. Bis zu seiner Auflösung faßte das Politbüro keine so umfassenden und konkreten Beschlüsse zur Grenzsicherung mehr; dies war auch nicht erforderlich: das Politbüro hatte seine Grundlinie vorgegeben, entschied diese beizubehalten und konnte im übrigen die konkrete Ausgestaltung der militärischen Grenzsicherung in die Hände der damit befaßten nachgeordneten Organe geben in der Gewißheit, daß die Umsetzung in seinem Sinne erfolgen würde.
Seit den siebziger Jahren hatten die Grenztruppen der DDR unter anderem die Aufgabe, die „Unantastbarkeit der Staatsgrenze der DDR zur Bundesrepublik Deutschland und Westberlin“ zu wahren. Der Befehlsweg der Grenztruppen verlief so, daß der Minister für nationale Verteidigung in der Regel jährlich, orientiert am jeweiligen Ausbildungsjahr der zumeist wehrpflichtigen Grenzsoldaten, an den Chef der Grenztruppen den Befehl 101 gab; der Chef der Grenztruppen setzte diesen Befehl um durch den Befehl mit der Nr. 80 an die Chefs der drei Grenzkommandos; diese erließen auf dieser Grundlage Befehle mit der Nr. 40 an die Kommandeure der einzelnen Grenzregimenter, die diese durch Befehle mit der Nr. 20 umsetzten. In Umsetzung dieser Befehle wurden die Grenzsoldaten vor jedem Wacheinsatz vergattert. Sie wurden verpflichtet, die Unverletzlichkeit der Grenzen zu gewährleisten und ihren Dienst wachsam und auf der Grundlage der Rechtsvorschriften und Bestimmungen zu erfüllen. Bis in die siebziger Jahre wurde angeordnet, „Grenzverletzer festzunehmen oder zu vernichten“, später hieß es an Stelle von „vernichten“ „Fluchtverhinderung“.
Sämtliche Handlungen der Grenztruppen, also auch die Anwendung der Schußwaffe gegen Flüchtlinge, beruhten auf dieser Befehlskette.
Im Falle eines Fluchtversuches sollte nach der offiziellen Befehlslage jedenfalls der achtziger Jahre eine abgestufte Reaktionsfolge eingehalten werden. Der Flüchtling war zunächst anzurufen und zum Stehenbleiben aufzufordern. Blieb dies erfolglos, sollten Warnschüsse abgegeben werden, um den Flüchtling zum Aufgeben seines Vorhabens zu veranlassen. Setzte er seine Handlung dennoch fort, sollte die Schußwaffe als letztes Mittel gezielt eingesetzt werden, um Fluchtunfähigkeit zu erreichen, allerdings nicht, wenn das Leben oder die Gesundheit Unbeteiligter gefährdet werden konnte, gegenüber Kinder und Frauen, und wenn das Hoheitsgebiet eines anderen Staates beschossen werden würde. Die Bezeichnung des Schußwaffeneinsatzes als letztes Mittel besagte hierbei lediglich, daß die Schußwaffe nicht angewendet werden sollte, sofern der Flüchtling durch andere Maßnahmen, insbesondere durch einfache körperliche Gewalt, gestellt werden konnte. Die Schußwaffe sollte im übrigen nur mit Einzelfeuer gegen die unteren Extremitäten des Flüchtlings eingesetzt werden. Nach Inkrafttreten des Grenzgesetzes der DDR vom 25. März 1982 am 1. Mai 1982 fand in der Ausbildung der Grenzsoldaten keine einschneidende Veränderung statt.
In den mit der Grenzsicherung betrauten Organen herrschte die Auffassung, daß § 27 Grenzgesetz die bisherige Praxis des Schußwaffeneinsatzes gesetzlich festschreibe und rechtfertige.
Diese Annahme war unzutreffend.
§ 27 Grenzgesetz hatte folgenden Wortlaut:
§ 27
Anwendung von Schußwaffen
(1) Die Anwendung der Schußwaffe ist die äußerste Maßnahme der Gewaltanwendung gegenüber Personen. Die Schußwaffe darf nur in solchen Fällen angewendet werden, wenn die körperliche Einwirkung ohne oder mit Hilfsmitteln erfolglos blieb oder offensichtlich keinen Erfolg verspricht. Die Anwendung von Schußwaffen gegen Personen ist erst dann zulässig, wenn durch Waffenwirkung gegen Sachen oder Tiere der Zweck nicht erreicht wird.
(2) Die Anwendung der Schußwaffe ist gerechtfertigt, um die unmittelbar bevorstehende Ausführung oder die Fortsetzung einer Straftat zu verhindern, die sich den Umständen nach als ein Verbrechen darstellt. Sie ist auch gerechtfertigt zur Ergreifung von Personen, die eines Verbrechens dringend verdächtig sind.
(3) Die Anwendung der Schußwaffe ist grundsätzlich durch Zuruf oder Abgabe eines Warnschusses anzukündigen, sofern nicht eine unmittelbar bevorstehende Gefahr nur durch die gezielte Anwendung der Schußwaffe verhindert oder beseitigt werden kann.
(4) Die Schußwaffe ist nicht anzuwenden, wenn
a) das Leben oder die Gesundheit Unbeteiligter gefährdet werden können,
b) die Personen dem äußeren Eindruck nach im Kindesalter sind oder
c) das Hoheitsgebiet eines benachbarten Staates beschossen würde.
Gegen Jugendliche und weibliche Personen sind nach Möglichkeit Schußwaffen nicht anzuwenden.
(5) Bei der Anwendung der Schußwaffe ist das Leben von Personen nach Möglichkeit zu schonen. Verletzten ist unter Beachtung der notwendigen Sicherheitsmaßnahmen Erste Hilfe zu erweisen.
Verbrechen, die nach § 27 Abs. 2 Satz 1 Grenzgesetz den Einsatz der Schußwaffe rechtfertigten, waren gemäß § 1 Abs. 3 Satz 2 StGB/DDR „andere vorsätzlich begangene gesellschaftsgefährliche Straftaten gegen die Rechte und Interessen der Bürger, das sozialistische Eigentum oder andere Rechte und Interessen der Gesellschaft, die eine schwerwiegende Mißachtung der sozialistischen Gesetzlichkeit darstellen und für die deshalb eine Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren angedroht ist oder für die innerhalb des vorgesehenen Strafrahmens im Einzelfall eine Freiheitsstrafe von über zwei Jahren ausgesprochen wird“. Der Straftatbestand des ungesetzlichen Grenzübertritts (§ 213 StGB/DDR), der im Zusammenspiel mit dem Grenzgesetz den auch tödlichen Schußwaffeneinsatz an der innerdeutschen Grenze rechtfertigen sollte, war nach dieser Festlegung nicht als Verbrechen einzustufen.
§ 213 StGB/DDR hatte folgenden Wortlaut:
§ 213
Ungesetzlicher Grenzübertritt
(1) Wer widerrechtlich die Staatsgrenze der Deutschen Demokratischen Republik passiert oder Bestimmungen des zeitweiligen Aufenthalts in der Deutschen Demokratischen Republik sowie des Transits durch die Deutsche Demokratische Republik verletzt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Verurteilung auf Bewährung, Haftstrafe oder mit Geldstrafe bestraft.
(2) Ebenso wird bestraft, wer als Bürger der Deutschen Demokratischen Republik rechtswidrig nicht oder nicht fristgerecht in die Deutsche Demokratische Republik zurückkehrt oder staatliche Festlegungen über seinen Aufenthaltsort verletzt.
(3) In schweren Fällen wird der Täter mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu acht Jahren bestraft. Ein schwerer Fall liegt insbesondere vor, wenn
1. die Tat Leben oder Gesundheit von Menschen gefährdet;
2. die Tat unter Mitführung von Waffen oder unter Anwendung gefährlicher Mittel oder Methoden erfolgt;
3. die Tat mit besonderer Intensität durchgeführt wird;
4. die Tat durch Urkundenfälschung (§240), Falschbeurkundung (§242) oder durch Mißbrauch von Urkunden oder unter Ausnutzung eines Verstecks erfolgt;
5. die Tat zusammen mit anderen begangen wird;
6. der Täter wegen ungesetzlichen Grenzübertritts bereits bestraft ist.
(4) Vorbereitung und Versuch sind strafbar.
Anmerkung: Zuwiderhandlungen gegen die gesetzlichen Bestimmungen oder auferlegte Beschränkungen über Ein- und Ausreise oder Aufenthalt können in leichten Fällen als Ordnungswidrigkeit verfolgt werden.
Ein Verbrechen konnte der ungesetzliche Grenzübertritt im Hinblick auf die Strafandrohung demzufolge nur unter den erschwerten Voraussetzungen des § 213 Abs. 3 StGB/DDR darstellen; die Prüfung des Vorliegens dieser Voraussetzungen mußte jedoch einem geregelten Strafverfahren vorbehalten bleiben (Artikel 4 des Strafgesetzbuches der DDR) und konnte nicht – schon gar nicht vor Ort an der Grenze – vorweggenommen werden. Deshalb war die Verwendung der Schußwaffe gegen einen einzelnen unbewaffneten Flüchtling, der ohne Anwendung gefährlicher Mittel oder Methoden und ohne Gefährdung anderer die Grenzanlagen zu überwinden trachtete, nach dem Wortlaut von § 27 Abs. 2 Satz 1 Grenzgesetz und § 213 StGB/DDR nicht gestattet.
Dennoch erhielten die Grenzsoldaten in den Vergatterungen durch die zuständigen Offiziere vor jedem Wachwechsel – abweichend von der Gesetzeslage – die Aufgabenstellung, die Grenze zuverlässig zu sichern und Grenzdurchbrüche nicht zuzulassen. Immer wieder wurde ihnen erklärt, daß jede Grenzverletzung ein Verbrechen und jeder Schußwaffeneinsatz gegen Grenzverletzer mit gegebenenfalls tödlicher Folge für den Flüchtling rechtmäßig und durch § 27 Abs. 2 Grenzgesetz gedeckt sei, wenn es kein anderes Mittel gebe, die Flucht zu verhindern. Oberstes Gebot sei es, einen Grenzdurchbruch mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu verhindern. Darüber hinaus wurde den Soldaten der Eindruck vermittelt, daß die Offiziere hinter ihnen stehen würden, wenn sie in einem vom Wortlaut der Vorschriften nicht erfaßten Fall schießen würden. Verbunden war dies auf der anderen Seite mit der unterschwelligen Drohung gegenüber den Grenzsoldaten, bei gelungener Flucht eines DDR-Bürgers mit Sanktionen, zum Beispiel einer Bestrafung im Militärgefängnis in Schwedt, rechnen zu müssen.
Zum Problem dieses Unterschiedes zwischen der Gesetzeslage und der tatsächlichen Befehlslage an der Grenze, geht die Kammer in Übereinstimmung mit der bisher zu dieser Frage ergangenen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und hieran anknüpfend des Bundesverfassungsgerichts davon aus, daß die Gesetzeslage von anders lautenden Befehlen, die keinen schriftlichen Niederschlag gefunden haben, überlagert war.
Diese Divergenz zwischen den offiziellen Anweisungen aufgrund der Gesetzeslage einerseits und den den Grenzsoldaten vermittelten Regeln andererseits ist auch für das hier zu beurteilende Unterlassen der Angeklagten von Bedeutung, worauf später noch einzugehen sein wird.
Durch die ständige und massive Einwirkung auf die Soldaten entstand bei diesen die von der politischen Führung und den militärischen Vorgesetzten erwünschte Vorstellung, daß bei Abwägung zwischen dem Leben des sogenannten Grenzverletzers und der Unverletzlichkeit der Grenze letztere höher einzuschätzen und deshalb der Verlust eines Menschenlebens notfalls hinzunehmen sei. Die Soldaten wußten, daß in vielen Fällen das Ziel, einen Grenzdurchbruch zu verhindern, nicht anders als durch Schußwaffeneinsatz mit gegebenenfalls tödlichem Ausgang zu erreichen war. Trotz der Empfehlung, mit dem zielsicheren Einzelfeuer zu schießen, war den Soldaten aber bekannt, daß auf größere Entfernungen mit ihrer Dienstwaffe, dem als Maschinenpistole bezeichneten Sturmgewehr Kalaschnikow, auch bei Einzelfeuer nicht so genau auf die Beine gezielt werden konnte, daß ein tödlicher Treffer ausgeschlossen wäre. Ein Grenzsoldat aber, der mit Dauerfeuer auf einen Grenzverletzer schoß, verstieß nicht gegen die tatsächliche Befehlslage, wenn er zunächst einen Warnruf, dann einen Warnschuß in die Luft und dann einen oder mehrere auf das Ziel gerichtete Schüsse abgab. Die Abgabe von Dauerfeuer blieb ebenso wie tödliche Schüsse auf einen Flüchtling stets ohne strafrechtliche oder disziplinarische Konsequenzen. Grenzsoldaten, die eine Flucht verhinderten und dabei den Flüchtling unter Anwendung von Dauerfeuer getötet oder verletzt hatten, wurden in gleicher Weise belobigt wie ihre Kameraden, die Einzelfeuer abgegeben hatten. Den betreffenden Soldaten wurde durch ihre Vorgesetzten bestätigt, korrekt und entsprechend dem sogenannten Klassenauftrag gehandelt zu haben.
Aus Anlaß der Parteitage bestätigte das Politbüro immer wieder die Fortführung des praktizierten Grenzregimes, indem es den „Klassenauftrag“ definierte und in diesem Sinne die das Grenzsicherungssystem tragenden staatlichen Organe anwies. Die Formulierung enthielt hierbei für die Organe stets den Auftrag, weiterhin die Souveränität der DDR, ihre territoriale Integrität, die Unverletzlichkeit ihrer Grenzen und ihre staatliche Sicherheit zu gewährleisten. Unter den gegebenen Bedingungen hieß dies für die Grenztruppen – und wurde dort auch so verstanden – weiter so zu handeln wie bisher, keinen unkontrollierten Grenzübertritt zuzulassen und die Schußwaffe auch unter Inkaufnahme tödlicher Verletzungen gezielt gegen Grenzverletzer anzuwenden, wenn es keine andere Möglichkeit gab, einen Grenzdurchbruch zu verhindern. Dieser „Klassenauftrag“ wurde in die militärische Befehlskette umgesetzt und bewirkte für den Zeitraum bis zum nächsten Parteitag das Aufrechterhalten der bis dahin praktizierten Grenzsicherung.
Das Politbüro war in dem hier relevanten Zeitraum nur noch mittelbar mit dem Thema Grenzsicherung befaßt, etwa in der Sitzung des Politbüros vom 25. November 1986 durch die Bestätigung eines Entwurfes einer Festansprache des Ministers für Nationale Verteidigung Keßler zum 40. Jahrestag der Grenztruppen der DDR, beziehungsweise der Beschäftigung mit Fragen der Aus- und Übersiedlung, der Wahrung der Menschenrechte im von der DDR aufgefaßten Sinn und der Kenntnisnahme von Gesprächen mit Politikern.
Das Politbüro trat regelmäßig einmal in der Woche zusammen, in denen es sich mit einer umfangreichen, zuvor vom Generalsekretär festgelegten Tagesordnung beschäftigte. Das geschah auf der Grundlage von diversen Berichten und Vorlagen. Die Einreicher der Vorlagen räumten größere Meinungsverschiedenheiten zu den Sachverhalten im Vorfeld aus. Außerdem erhielten die Mitglieder und Kandidaten des Politbüros eine Fülle von Informationen, die jeweils der Generalsekretär veranlaßte. Einige davon nahmen die Mitglieder des Politbüros ausdrücklich zustimmend zur Kenntnis; die meisten jedoch kamen in den Umlauf und wurden nicht erörtert. Die Kenntnisnahme blieb jedem selbst überlassen.
Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme ist die Kammer der Auffassung, daß jedes Politbüromitglied die Möglichkeit hatte, sich mit eigenen Themenvorschlägen an den Generalsekretär zu wenden und um Aufnahme der Themen in die Tagesordnung zu bitten. Die Behandlung der einzelnen Tagesordnungspunkte verlief üblicherweise so, daß der Generalsekretär, ein fachlich zuständiges Mitglied oder ein Kandidat des Politbüros einen kurzen Bericht über die zur Entscheidung stehende Vorlage gab. Hin und wieder kam es zu Diskussionen, bis dann – zumeist ohne förmliche Abstimmung – festgestellt wurde, daß das Politbüro entweder im Sinne der Vorlage beschlossen habe oder die Vorlage vom Einreicher noch einmal zu überarbeiten sei.
Nur die Politbüromitglieder waren stimmberechtigt. Sie waren entsprechend der weiteren von ihnen ausgeübten Funktionen für die Erarbeitung der Beschlußvorlagen bestimmter Bereiche zuständig. So bildete sich bei den Mitgliedern im Laufe der Jahre faktisch ein Ressortdenken und eine deutliche Konzentration auf den eigenen Tätigkeitsbereich heraus.
Gleichwohl war jedes Mitglied des Politbüros berechtigt, sich zu jedem Thema und zu jeder Vorlage zu äußern. Es gab keine Beschränkung auf bestimmte Themen- oder Zuständigkeitsbereiche.
III.
Des weiteren legt die Kammer ihrer Entscheidung folgende Feststellungen zugrunde:
Der Angeklagte Prof. H ä b e r war seit 1945 beruflich in verschiedenen Organisationen tätig. In den Jahren 1951/52 wurde er politischer Mitarbeiter der Westkommission beim Politbüro des ZK der SED, 1953/54 Leiter des Sektors für gesamtdeutsche Fragen der Abteilung Presse und Rundfunk des ZK, später Leiter der Abteilung Westkommission. Im Jahre 1965 war er zunächst Stellvertreter des Leiters der Westabteilung des ZK und sodann Stellvertreter des Staatssekretärs für Gesamtdeutsche Fragen beim Ministerrat.
Er wurde im Jahr 1971 Direktor des Instituts für Internationale Politik und Wirtschaft und 1973 Leiter der Westabteilung des ZK der SED. Von 1984 bis 1985 hatte er das Amt des Leiters der Abteilung für Internationale Politik und Wirtschaft des ZK inne. Daneben übte er gesellschaftliche Funktionen in verschiedenen Organisationen aus, insbesondere von 1981 bis 1985 als Mitglied der außenpolitischen Kommission beim Politbüro des ZK der SED.
Im Rahmen seiner Tätigkeiten verfügte der Angeklagte Prof. Häber über zahlreiche Westkontakte. Er stand über Jahre hinweg in Kontakt zu hochrangigen Politikern der Bundesrepublik Deutschland und wußte selbstverständlich über die Sperranlagen und den Schußwaffengebrauch an der innerdeutschen Grenze Bescheid. Dadurch mag er seitens des Staatssicherheitsministeriums in den Verdacht geraten sein, möglicherweise ein Langzeitspion westlicher Geheimdienste zu sein. Der Angeklagte, dem nach seiner unwiderleglichen Einlassung klar war, daß man versuchen mußte, in Fragen der Grenze und der Freizügigkeit eine Änderung zum Besseren herbeizuführen, unternahm kleine Schritte, indem er beispielsweise Anfang der 80iger Jahre gegen die aus seiner Sicht menschenunwürdigen Zustände am Grenzübergang Berlin-Bahnhof-Friedrichstraße protestierte. Ebenso wandte er sich anläßlich eines Gesprächs mit Erich Honecker gegen die aus seiner Sicht nicht akzeptable Kriminalisierung von DDR-Bürgern, die einen Ausreiseantrag gestellt hatten. Im Dezember 1982 beriet er mit dem Präsidenten des Abgeordnetenhauses von Berlin (West), Jürgen Wohlrabe, vorbereitende Schritte zur Beratung, wie die Mauer nach beiden Seiten durchlässiger gemacht werden könne. Im Herbst 1983 verschaffte er einer Delegation des Vorstandes der Partei der GRÜNEN die Gelegenheit, von Erich Honecker empfangen zu werden und sich so vor der DDR-Öffentlichkeit darstellen zu können. Auch in der Folgezeit ließ er sich nicht davon abbringen, politische Schritte ins Auge zu fassen, die die Chance einer tatsächlichen Verbesserung im humanitären Sinne in sich trugen.
Ohne vorher Kandidat gewesen zu sein, wurde er am 24. Mai 1984 zum Mitglied des Politbüros gewählt.
Auch in dieser Funktion war er bestrebt, unter Ausnutzung seiner guten Kontakte durch realistische Schritte und Verbesserungen mit Langzeitwirkung konkrete Erfolge zu erreichen und vertraute in dieser Beziehung auf die Unterstützung Erich Honeckers.
Diese seine Bemühungen scheiterten jedoch bereits am 17. August 1984, als der Generalsekretär Erich Honecker auf einer Geheimsitzung in Moskau der sowjetischen Führung die Gründe für seine geplante Reise in die Bundesrepublik Deutschland und in diesem Zusammenhang die von dem Angeklagten Prof. Häber vorformulierten Überlegungen und Vorstellungen zu einem verbesserten Verhältnis zur Bundesrepublik Deutschland im humanitären Bereich vortrug und auf strikte Ablehnung seitens der Sowjetunion stieß.
Ausdrücklich wurde zu diesem Zeitpunkt von den Mächtigsten des Warschauer Paktes die Erleichterung von Kontakten auch und gerade im Reiseverkehr zwischen Ost und West mißbilligt. Die sowjetische Führungsspitze ließ damals keinen Zweifel daran, daß nicht nur die Reisepläne Erich Honeckers auf Ablehnung stießen, sondern diese auch jene Richtung in der Westpolitik der SED betraf, die auf Öffnung gegenüber der Bundesrepublik Deutschland zielte.
Diese ablehnende Haltung der sowjetischen Führungsspitze hatte unmittelbare Auswirkungen auf den Angeklagten Prof. Häber; sein politisches Schicksal war damit besiegelt. Unter dem Vorwurf, er habe „Zugeständnisse an den Feind“ gefordert und damit die Sicherheitsinteressen der UdSSR gefährdet, wurde sein persönlicher Handlungsspielraum eingeengt und weitere politische Arbeit unmöglich gemacht.
Nach seiner unwiderlegbaren Einlassung wurde der Angeklagte Prof. Häber gegen seinen Willen veranlaßt, mit Schreiben vom 17. September 1985, gerichtet an den Generalsekretär des ZK der SED und Vorsitzenden des Staatsrates der DDR Erich Honecker, aus gesundheitlichen Gründen um die Entbindung von der Funktion als Mitglied des Politbüros zu bitten.
Aufgrund des Beschlusses der 11. Tagung des ZK der SED vom 22. November 1985 wurde der Angeklagte Prof. Häber von seinen Funktionen als Mitglied des Politbüros und Sekretär des ZK entbunden; zugleich endete seine seit 1978 bestehende ZK-Mitgliedschaft.
Während der Zugehörigkeit des Angeklagten Prof. Häber zum Politbüro wurde Michael-Horst Schmidt durch Schüsse von Grenzsoldaten getötet. Der damals 20 Jährige erlitt am 1. Dezember 1984 gegen 00.30 Uhr beim Überklettern der Berliner Mauer im Stadtbezirk Pankow im Bereich nord-westlich der Wollankstraße durch Schüsse der Grenzposten eine Lungengewebszerreißung und verblutete.
Wegen der Einzelheiten zum Tatgeschehen nimmt die Kammer insoweit Bezug auf die Feststellungen des im Wege des Selbstleseverfahrens in die Hauptverhandlung eingeführten Urteils des Landgerichts Berlin vom 25. August 1997 gegen die Angeklagten Schabowski, Kleiber und Krenz und auf die Bekundungen der Zeugen Udo Walther, Uwe Hapke (Grenzer) und Uwe Schröder (Freund des Schmidt).
Über den gescheiterten Fluchtversuch wurden die Mitglieder des Politbüros durch die Meldung über die Lage an der Staatsgrenze der DDR des Stellvertreters des Ministers und Chef der Grenztruppen vom 1. Dezember 1984 informiert.
Der Angeklagte L o r e n z trat 1945 der SPD bei, unterstützte alsbald die Vereinigungsbestrebungen mit der KPD und wurde nach der Vereinigung beider Parteien zur SED als Mitglied in den neuen Stadtvorstand von Annaberg gewählt. Nach seiner hauptamtlichen Parteiarbeit im Jugendbereich der SED wurde er 1965/66 Leiter der Abteilung Parteiorgane der Bezirksleitung der SED Berlin und anschließend bis 1976 Leiter der Abteilung Jugend des ZK der SED.
Seit 27. März 1976 war er erster Sekretär der Bezirksleitung der SED Karl-Marx-Stadt und in dieser Eigenschaft zugleich Vorsitzender der Bezirkseinsatzleitung. Im April 1967 wurde er zum Kandidaten des ZK und im Juni 1971 zu dessen Mitglied gewählt.
Auf der Tagung des ZK vom 21. April 1986 wurde der Angeklagte Lorenz zum Mitglied des Politbüros gewählt; diesem Gremium gehörte er bis zu dessen Ende an.
Der Angeklagte Lorenz hat sich anhand seiner schriftlich vorbereiteten Erklärung (abgedruckt in dieser Dokumentation, siehe 2. Verhandlungstag, Anm. D.J.) in der Hauptverhandlung dahingehend geäußert, in dem gesellschaftlichen System der DDR eine hohe politische Verantwortung getragen zu haben. Er habe zu den führenden Leuten in der DDR gehört. An den Beschlüssen aus dem Jahre 1961 zur Sicherung der Staatsgrenze der DDR zu Berlin (West) sei er nicht beteiligt gewesen, er habe die damaligen Entscheidungen aber so verstanden und vertreten, daß damit existentieller Schaden von den Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrages abgewendet würde und die Nachkriegsordnung nicht durch einen kriegerischen Konflikt aus den Fugen geriete. Er habe gewußt, daß es an der Grenze zwischen beiden deutschen Staaten im Laufe der Jahre zu gefährlichen Zwischenfällen gekommen sei, wobei zumeist junge Menschen getötet oder schwer geschädigt wurden. An den Sitzungen des Politbüros, die wöchentlich in Berlin stattfanden, habe er mit wenigen Ausnahmen teilgenommen und bezeichne sich für die im entsprechenden Zeitraum vom Politbüro gefaßten Beschlüsse mitverantwortlich. Das Regime an der Staatsgrenze der DDR sei ihm bekannt gewesen. Er habe gewußt, daß es sich um militärisches Sperrgebiet handelt und auf der Grundlage des Grenzgesetzes Vorschriften über den Gebrauch von Schußwaffen bestanden.
Er habe, wenn auch nicht in allen Fällen über alle Einzelheiten Kenntnis davon gehabt, daß es bei Zwischenfällen an der Staatsgrenze, bei Fluchtversuchen wie bei Angriffen gegen Grenzsoldaten Tote gab. Er habe eine Vorstellung vom komplizierten und verantwortungsvollen Dienst der Angehörigen der Grenztruppe der DDR gehabt und gewußt, was von deren besonnenen Handeln an der sensiblen Grenze zwischen zwei hochgerüsteten und feindlich gegenüberstehenden Militärbündnissen abhing. Er sei davon ausgegangen, daß das Infragestellen von Grenzen, jede Grenzverletzung, jede Provokation, jeder Grenzkonflikt an der Staatsgrenze der DDR zur BRD zu unübersehbaren Folgen hätte führen können. Die Gewährleistung von Ruhe, Ordnung und Sicherheit an der Grenze dienten nach seiner Auffassung dem Frieden in Europa. Demzufolge habe er in der Zeit seiner Mitgliedschaft im Politbüro keine das Grenzregime betreffenden Initiativen ergriffen.
Der Angeklagte Dr. B ö h m e übte von Mai 1945 an verschiedene Tätigkeiten bei der Stadtverwaltung Bernburg aus, bis er im Jahre 1949 seine hauptamtliche Tätigkeit als Parteifunktionär der SED begann. Er war von 1968 bis 1989 Mitglied des Sekretariats der Bezirksleitung der SED Halle und von 1976 bis 1989 Abgeordneter des Bezirkstages Halle. Seit April 1981 war er Mitglied des Zentralkomitees der SED.
Auf der Tagung des Zentralkomitees der SED vom 21. April 1986 wurde er als Mitglied des Politbüros gewählt, ohne vorher dessen Kandidat gewesen zu sein. Diese Ämter hatte er bis Ende 1989 inne.
Der Angeklagte Dr. Böhme äußerte sich anhand seiner schriftlich vorbereiteten Erklärung in der Hauptverhandlung dahingehend, daß die Unverletzlichkeit seiner Grenzen ein zentrales Anliegen jedes Staates sei und gerade hier, wo sich zwei entgegengesetzte Gesellschaftssysteme und hochgerüstete Militärbündnisse gegenüberstanden, eine entscheidende Bedingung für die Vermeidung internationaler Konflikte und die Erhaltung des Friedens bedeutet habe. Er habe als politischer Funktionär der SED das Grenzregime der DDR stets als legitim angesehen. Grenzzwischenfälle hätten immer seine Besorgnis ausgelöst, nicht nur weil sie menschliches Leid verursachten, sondern auch weil sie der DDR schadeten. Dabei habe ihn die Frage bewegt, warum es in der DDR den gesellschaftlichen Kräften, aber auch den Familien der meist jungen und unerfahrenen Menschen nicht gelang, diese von solch lebensgefährlichen Vorhaben, wie dem Eindringen in militärisches Sperrgebiet, Grenzverletzungen und gewaltsame Grenzdurchbrüche abzuhalten.
In dem Bewußtsein, durch die Beibehaltung der Grenzsicherung seitens der DDR eine militärische Auseinandersetzung an der hochsensiblen Grenze zwischen den beiden entgegengesetzten Weltsystemen und Militärbündnissen zu verhindern, habe er im Rahmen seiner politischen Tätigkeit keine Aktivitäten zur Änderung des Grenzregimes entfaltet.
Seit 1986, mithin während der Mitgliedschaft der Angeklagten Lorenz und Dr. Böhme im Politbüro wurden bei Fluchtversuchen weitere Personen getötet:
Am 24. November 1986 versuchte der 25jährige Michael Bittner gegen 01.20 Uhr, in Höhe der Nohlstraße in Glienicke/Nordbahn die Grenzsperranlagen zu überwinden. Durch Schüsse von Grenzposten erlitt er eine Herzruptur, an der er um 01.50 Uhr im Regimentsmedizinpunkt in Glienicke verstarb.
Über den gescheiterten Fluchtversuch mit tödlichem Ausgang wurde das Politbüro durch die Tagesmeldung über die Lage an der Staatsgrenze der DDR des Chefs der Grenztruppen vom 24. November 1986 informiert.
Am 12. Februar 1987 wurde der 24jährige Lutz Schmidt bei dem Versuch, die Berliner Mauer im Stadtbezirk Treptow im Bereich Rheingoldstraße/Siedlung „Am Rehpfuhl“ zu überwinden, von Grenzposten erschossen.
Im Hinblick auf die Ereignisse zum Nachteil von Schmidt und Bittner nimmt die Kammer wegen der Einzelheiten auch insoweit Bezug auf die Feststellungen des im Wege des Selbstleseverfahrens in die Hauptverhandlung eingeführten Urteils des Landgerichts Berlin vom 25. August 1997 gegen die Angeklagten Schabowski, Kleiber und Krenz. Sie hat, wie im Fall des Michael-Horst Schmidt, ergänzend und mit den Feststellungen in Einklang stehenden Bekundungen der Zeugen Hartmut Britzke und Klaus Schindler (Postenführer/Arzt im Falle Bittner) und der Zeugen Michael Jahr und Ekkehard Teschner (Grenzer im Fall Lutz Schmidt) verwertet. Zu allen Todesfällen, einschließlich Chris Gueffroy, hörte sie Prof. Dr. Schmechta als Sachverständigen und als sachverständigen Zeugen.
Am 5. Februar 1989 versuchten der 20jährige Chris Gueffroy und der gleichaltrige Christian Gaudian die Grenzsperranlagen in Berlin-Treptow im Bereich Britzer Allee/Straße 16 zu überwinden. Als sie das letzte Sperrelement erreicht hatten, wurden sie durch Grenzposten unter Beschuß genommen. Chris Gueffroy erlitt unter anderem einen Brustdurchschuß, dem er kurz darauf erlag. Christian Gaudian wurde durch einen Schuß am rechten Fuß verletzt.
Wegen der Einzelheiten der Tötung von Chris Gueffroy nimmt die Kammer Bezug auf die Feststellungen zum Tatgeschehen des in der Hauptverhandlung insoweit verlesenen Urteils des Landgerichts Berlin vom 14. März 1994 gegen die Angeklagten Schmidt und Heinrich.
Ob hiernach ein (insoweit strafbefreiender) Exzeß des Mittäters erörtert werden müßte, kann unentschieden bleiben. Denn die Straflosigkeit der Angeklagten Lorenz und Dr. Böhme folgt bereits aus anderem, allumfassenden Grund.
IV.
Die rechtliche Würdigung ergibt, daß gegen keinen der Angeklagten ein Strafanspruch nach dem Strafrecht der DDR besteht.
Eine Strafbarkeit der Angeklagten nach dem Strafrecht der DDR ist nicht gegeben, weil durch die Untätigkeit der Angeklagten kein für den Erfolgseintritt kausales Unterlassen vorliegt.
Demzufolge ist ein Strafanspruch der DDR, der auf die Bundesrepublik Deutschland übergegangen sein könnte (Art. 315 Abs. 1 Satz 1 EGStGB i.d.F. des Einigungsvertrages vom 31.8.1990) zu verneinen, da nach dem zur Zeit der Tat geltenden Recht der DDR weder eine Freiheitsstrafe noch eine Verurteilung auf Bewährung noch eine Geldstrafe verwirkt gewesen wäre.
Keine Vorschrift des StGB/DDR belegt das Verhalten der Angeklagten mit Strafe, insbesondere liegt eine strafrechtliche Verantwortung wegen gemeinschaftlicher Beihilfe zum Mord gemäß §§ 112 Abs. 1, 22 Abs. 2 Nr. StGB/DDR (1968) durch Unterlassen nicht vor.
Jede vorsätzliche Herbeiführung des Todes eines anderen Menschen war nach § 112 StGB/DDR Mord, soweit nicht die besonderen Voraussetzungen des § 113 (Totschlag) vorlagen, wobei die Tötung durch Tun oder Unterlassen verursacht werden konnte.
Nach § 22 Abs. 2 Ziffer 3 StGB/DDR kann als Teilnehmer an einer Straftat bestraft werden, wer vorsätzlich einem anderen zu der begangenen Straftat Hilfe leistet oder wer dem Täter nach der Tatausführung vorher zugesagte Hilfe leistet, ohne selbst objektiv und subjektiv Merkmale des Straftatbestandes zu verwirklichen. Eine Hilfeleistung durch Unterlassen zieht strafrechtliche Verantwortlichkeit wegen Beihilfe jedoch nur dann nach sich, wenn der betreffenden Person die Rechtspflicht oblag, gegen die strafbare Handlung des Täters einzuschreiten. Voraussetzung war demzufolge das Bestehen einer Erfolgsabwendungspflicht im Sinne von § 9 StGB/DDR. Diese wurde definiert als der Vermeidung von Schäden oder Gefahren dienende konkrete Rechtspflicht, die unter anderem aus der gesellschaftlichen Stellung, der beruflichen oder sonstigen Tätigkeit oder aus anderen, eine besondere persönliche Verantwortung für den Schutz der Gesellschaft oder des einzelnen vor Schäden und Gefahren begründenden tatsächlichen Umständen erwuchs.
Die Kammer ist zwar in Übereinstimmung mit der Staatsanwaltschaft der Ansicht, daß die Angeklagten als Mitglieder des mächtigen Politbüros eine leitende Stellung und Funktion im Partei- und Staatsapparat mit inne hatten, aufgrund derer es ihnen in besonderer Verantwortung oblag, Schäden für Leib und Leben von DDR-Bürgern, auch wenn sie sich ins Sperrgebiet der innerdeutschen Grenze begaben, abzuwenden.
Diese Rechtspflicht zum Handeln war durch Art. 1 und Art. 30 Abs. 2 der Verfassung der DDR 1968 und durch den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPBPR) vom 19. Dezember 1966, in Kraft getreten am 23. März 1976 und dessen Art. 6 und 12 gesetzlich normiert (vgl. BGHSt 39, 1 ff (22)). Aus der Gesamtschau der genannten Artikel der Verfassung der DDR von 1968 sowie der im IPBPR niedergelegten völkerrechtlichen Verpflichtungen folgte eine zumindest abstrakte rechtliche Regelung im Sinne des Pflichtenbegriffs des § 9 StGB/DDR. Die nach der Strafrechtslehre der DDR zusätzlich erforderlichen tatsächlichen Umstände, welche die abstrakte rechtliche Regelung zu konkretisieren hatten, ergeben sich daraus, daß – wie vorstehend im einzelnen dargestellt – die SED, als staatstragende Partei und aufgrund der von ihr gelenkten gesamtgesellschaftlichen Entwicklung, durch die tatsächliche Verantwortungsübernahme für den Grundrechtsschutz und die Grundrechtsverwirklichung der DDR-Bürger zu sorgen und das Politbüro seinerseits diese tatsächliche Verantwortung für die Gewährung und Effektuierung der Grundrechte der Bürger der DDR übernommen hatte.
Den Angeklagten waren grundsätzlich Aktivitäten zur Humanisierung des Grenzregimes auch zumutbar. Im Hinblick auf die zahlreichen Tötungshandlungen zum Nachteil fluchtwilliger DDR-Bürger und die dadurch betroffenen Rechtsgüter auf Leben und körperliche Unversehrtheit, konnte von den Angeklagten erwartet werden, daß sie ihrer Verantwortungsübernahme kraft Mitgliedschaft im Politbüro gerecht wurden und aktiv für eine solche Humanisierung eintraten. Dabei wird den Angeklagten vorliegend nicht zum Vorwurf gemacht, daß sie nicht auf Beseitigung der Grenze insgesamt durch einen gänzlichen Abbau der Sperranlagen und Beseitigung der Berliner Mauer hinwirkten, denn es gehört zu den gerichtsbekannten historischen Tatsachen, daß die DDR während der gesamten Dauer ihres Bestehens in Bezug auf das Grenzregime nur eingeschränkt souverän war.
Offenkundig war die DDR in den Block der Staaten des Warschauer Vertrages integriert, in dem die dominierende Rolle der UdSSR kaum politische Alleingänge duldete. Alle grundlegenden militärischen Fragen mußten mit der DDR abgestimmt werden. Entscheidungen, die die Sicherheit des Bündnisses und militärstrategische Fragen betrafen, durfte die DDR nicht alleine treffen. Die technische Ausgestaltung der kraft Vorgabe sicheren Grenze blieb jedoch weitgehend der Entscheidung der DDR überlassen, insbesondere deshalb, weil sowjetische Truppeneinheiten zumindest in der Funktion von Interventionsgruppen an der Grenze nicht eingesetzt waren.
Da die Sicherung der Grenze zur Bundesrepublik Deutschland und zu Berlin (West) indes stets im gemeinsamen Interesse der DDR und der UdSSR lag, erfolgte andererseits keine Entscheidung zum Grenzregime gegen den ausdrücklichen Willen der DDR-Führung oder unter Einwirkung irgendeines Zwanges. Daß das Politbüro im einzelnen gewisse Spielräume bei der Ausgestaltung der Grenzsicherung hatte, zeigt der „eigenmächtige“ Abbau der Erdminen und Selbstschußanlagen im Jahre 1985. Darüber hinaus war es dem Politbüro möglich, bei besonderen Anlässen, etwa bei Staatsbesuchen und Parteitagen, die Vorkehrungen zur Sicherung der Grenze so zu gestalten, daß die Grenzsoldaten die Schußwaffe nicht einsetzen mußten. Dies belegt, daß eine ebenfalls noch effektive Grenzsicherung möglich war, ohne daß es zu einer Vielzahl von tödlichen Schüssen kommen mußte. Unabhängig von solchen Gestaltungsmöglichkeiten in Einzelfällen hatte es die DDR auch nicht einmal versucht, die abnorm hohe Zahl von Toten an ihrer Grenze, die durch bloße Wahrnehmung militärischer Schutzaufgaben nicht erklärbar war, im Einvernehmen mit der UdSSR zu reduzieren. Hierzu hätten womöglich entsprechende Vorlagen im Politbüro erarbeitet werden müssen. Und gerade dieses zumutbare Tun war von den – gleichwohl untätigen – Angeklagten als eine beispielhaft aufgezeigte Möglichkeit zu verlangen. Eine andere Möglichkeit hätte DDR-intern darin bestanden, schlicht auf die Einhaltung des Grenzgesetzes hinzuwirken, denn die tatsächliche Befehlslage stimmte – wie oben näher ausgeführt – nicht mit den Gesetzen der DDR überein, was den Angeklagten bewußt war.
Denn die Frage der Aufrechterhaltung der vielfach auch vom Ausland kritisierten Praxis des Grenzregimes und die Tötung vieler fluchtwilliger DDR-Bürger stellte ein zentrales Problem in der Gesellschaft der DDR dar.
Es handelte sich keineswegs nur um eine Angelegenheit aus dem begrenzten Sicherheitsbereich, sondern aufgrund der tatsächlich übernommenen Pflichtenstellung und im Hinblick auf das betroffene Rechtsgut um eine der Gesamtverantwortung aller Politbüromitglieder obliegenden bedeutsamen Grundentscheidung.
Der Angeklagte Dr. Böhme hat eingeräumt, einerseits selbstverständlich wie alle Bürger der DDR durch die Medien seines Landes über Grenzzwischenfälle und aus ihm zur Verfügung stehenden West-Zeitungen informiert gewesen zu sein und andererseits als Mitglied des Politbüros dann noch ADN-Informationen über die Reaktion der Westpresse erhalten zu haben.
Angesichts der gerichtsbekannt grundsätzlichen wie gesamtgesellschaftlichen Bedeutung der Lage an der Grenze ist die Kammer davon überzeugt, daß die entsprechenden Meldungen von Grenzzwischenfällen auch dem Angeklagten Lorenz zur Kenntnis gelangten. Es mag sein, daß die Angeklagten Dr. Böhme und Lorenz im übrigen nicht alle Informationen, die als Unterlagen im Politbüro verteilt wurden, zur Kenntnis nahmen; diese erstreckten sich aber auf andere Bereiche, die nicht unmittelbar die Existenz der DDR betrafen. Auch die Angeklagten wollten keine Destabilisierung der DDR und der SED-Herrschaft. Das wäre ihren politischen Vorstellungen zuwider gelaufen und hätte zudem ihre herausgehobene Stellung gefährdet.
Ebenso fanden die Grenzzwischenfälle Erwähnung in den für alle Angeklagten zugänglichen Westmedien. Sie spiegelten die konkreten Ereignisse wider, die wegen ihres realen Bezuges nicht gänzlich als feindliche Propaganda ohne Wahrheitsgehalt hätten abgetan werden können. Auch die Tatsache, daß es infolge der zahlreichen Todesfälle an der Mauer zu fortdauernden Spannungen zwischen beiden deutschen Staaten kam, blieb den Angeklagten bei realistischer Betrachtungsweise nicht verborgen. Darüber hinaus wurden die Angeklagten Dr. Böhme und Lorenz ausweislich des im Wege des Selbstleseverfahrens in die Hauptverhandlung eingeführten Protokolls über die Sitzung des Politbüros am 26. April 1988 zu Tagesordnungspunkt 13 nebst dessen Anlage Nr. 8 über die Entwicklung und Bekämpfung der Kriminalität innerhalb der DDR unterrichtet. Gerade die – nach dieser Statistik – in den Jahren 1985 bis 1987 deutlich gestiegene Zahl der sogenannten ungesetzlichen Grenzübertritte ( 1985 = 1.790; 1986 = 2.333; 1987 = 4.572) schärfte das Problembewußtsein der Angeklagten Dr. Böhme und Lorenz.
Ebenso weckte die Anzahl der Tötungshandlungen gegen fluchtwillige DDR-Bürger und der dadurch betroffenen Rechtsgüter auf Leben und körperliche Unversehrtheit bei den Angeklagten Dr. Böhme und Lorenz Mißtrauen dahingehend, daß der praktizierte Schußwaffengebrauch an der Grenze nicht mit der bestehenden Gesetzeslage in Einklang zu bringen war.
So konnte von den Angeklagten zumindest erwartet werden, daß sie ihrer Verantwortungsübernahme im Politbüro gerecht wurden und Aktivitäten entfalteten, um auf die Einhaltung der eigenen Gesetze hinzuwirken.
Dennoch fehlt es nach Auffassung der Kammer an der erforderlichen Kausalität zwischen dem als notwendig erachteten Handlungsbeitrag und den eingetretenen Tötungserfolgen.
Dabei ist sich die Kammer der Kausalitätsproblematik des Unterlassens im Strafrecht bewußt. Das Unterlassen gebotenen Tuns kann ebenso negative Auswirkungen erzeugen wie eine schädigende Handlung.
Gleichwohl besteht eine kausale Wirksamkeit des Unterlassens nur dann, wenn von den dafür Verantwortlichen Personen Tätigkeiten, die von den Rechtsvorschriften gefordert werden und die für einen gefahrlosen Ablauf bestimmter natürlicher und gesellschaftlicher Prozesse objektiv notwendig sind, unterlassen werden und diese Prozesse dadurch einen Verlauf nehmen, der zu einem Schaden oder Gefahrenzustand für die Gesellschaft oder einzelne führt.
Die kausale Wirksamkeit des Unterlassens resultiert im Strafrecht der DDR – in Abgrenzung zur bürgerlichen Strafrechtstheorie – also aus der wechselseitigen Bedingtheit, Abhängigkeit und Verpflechtung (? – steht so da; ist hier Verpflichtung oder Verflechtung gemeint?, Anm. D.J.) der Verhaltensweisen der Menschen im System der gesellschaftlichen Verhältnisse und Beziehungen, die sie – objektiv determiniert durch den Charakter und die Bewegungsgesetze der jeweiligen Gesellschaftsordnung – eingehen, um die objektiv bedingten Aufgaben und Verhaltensanforderungen zu erfüllen. Demzufolge war nach dem Strafrecht der DDR das Unterlassen einer gebotenen Handlung nur dann kausal, wenn der Verantwortliche eine ihm obliegende Erfolgsabwendungspflicht verletzt hat und die schädlichen Folgen nicht eingetreten wären, wenn er seiner Pflicht zum Handeln ordnungsgemäß nachgekommen wäre. Der Kausalzusammenhang zwischen dem Unterlassen und den eingetretenen Folgen muß eindeutig bewiesen sein.
In diesen Fällen war nach dem Strafrecht der DDR prinzipiell davon auszugehen, daß sich die strafrechtliche Verantwortlichkeit für ein eingetretenes strafrechtliches Ereignis auf einen objektiv nachweisbaren, exakt festzustellenden kausalen Zusammenhang zwischen Untätigkeit und dem Ereignis stützt. Dabei sind hinsichtlich der „natürlichen“ Seite des Geschehens alle verfügbaren Erkenntnisse zu nutzen, um festzustellen, ob eine lückenlose Kausalkette zwischen den Elementen des gesamten Geschehens unter den gegebenen Bedingungen vorhanden war.
Daran fehlt es im vorliegenden Fall. Die Kammer vermochte eine lückenlose Kausalkette zwischen dem Unterlassen der Angeklagten und den beschriebenen tödlichen Folgen nicht festzustellen. Selbst wenn es den Angeklagten gelungen wäre – in welcher Form auch immer – im Politbüro auf die Divergenz zwischen tatsächlicher und gesetzlicher Lage im Hinblick auf den Schußwaffeneinsatz an der Grenze hinzuweisen und sie weitere Anstrengungen unternommen hätten, die Einhaltung der eigenen Gesetze einzufordern, konnte die Ursächlichkeit dieses geforderten Verhaltens für den erstrebten Erfolgseintritt nach Überzeugung der Kammer nicht bejaht werden. Es sind durchaus – völlig unabhängig von dem pflichtwidrig unterlassenen Tun der Angeklagten – Geschehensabläufe dergestalt objektiv denkbar, daß der tödliche Schusswaffengebrauch gleichwohl nicht verhindert worden wäre. Das Unterlassen muß somit nicht notwendig die Tötungen gefördert haben.
Nach alledem waren die Angeklagten aus rechtlichen Gründen freizusprechen.
Den Freispruch des Angeklagten Prof. Häber stützt die Kammer zusätzlich auf folgende Gesichtspunkte:
Von der Staatsanwaltschaft wird ihm der Vorwurf gemacht, durch Unterlassen für den Tod des Flüchtlings Michael-Horst Schmidt verantwortlich zu sein, weil auch ihm als Mitglied des Politbüros die oben näher dargestellte Pflicht oblag, für Leib und Leben der DDR-Bürger einzustehen. Die Forderung der Staatsanwaltschaft an den Angeklagten, für eine Humanisierung des Grenzregimes aktiv einzutreten, ist aber wenig konkret. Zwar traf im Rahmen seiner politischen Stellung auch den Angeklagten Prof. Häber die Pflicht, auf die Einhaltung der eigenen Gesetze im Zusammenhang mit dem Schußwaffeneinsatz an der Grenze hinzuwirken. Im Hinblick auf diese konkrete Pflicht im engeren Sinne ist er – wie die Mitangeklagten auch – untätig geblieben.
Dennoch ist er, abgesehen davon, daß er – anders als die Mitangeklagten Dr. Böhme und Lorenz – nur kurze Zeit Mitglied des Politbüros war, insgesamt in den hier relevanten Bereichen der Humanisierung des Grenzregimes nicht gänzlich untätig geblieben. Aufgrund seiner Westkontakte beschritt er im Rahmen seiner Möglichkeiten bereits seit 1982 einen anderen Weg. Nach seiner unwiderleglichen Einlassung, die glaubhafte Stütze etwa durch die Bekundungen des Zeugen Prof. Dr. Nitz gefunden hat und durch nicht mehr bescheidungspflichtige Hilfsbeweisanträge untermauert werden sollte, hat der Angeklagte Prof. Häber nicht unerhebliche Anstrengungen unternommen, einerseits mehr Freizügigkeit im Reiseverkehr zwischen Ost und West zu erreichen und andererseits durch deutliche Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse innerhalb der DDR dazu beizutragen, daß sich zukünftig kein DDR-Bürger dazu veranlaßt sehen mußte, sein Land als Flüchtling zu verlassen.
Der Vorwurf der Untätigkeit trifft den Angeklagten Prof. Häber auch deshalb nicht im gleichen Maße wie die Mitangeklagten, weil er unter anderem im Rahmen des sogenannten Zürcher Modells aktiv geworden ist und versucht hat, schrittweise Veränderungen und Verbesserungen herbeizuführen, die langfristig durchaus realistisch zu einer Humanisierung des Grenzregimes hätten führen können.
Dieses Modell hatte angesichts des unausweichlichen Kreditbedarfs der DDR die Gründung einer gemeinsamen Bank in Zürich zum Ziel. Die Beteiligung bedeutender Bankinstitute der Bundesrepublik Deutschland sollte eine Verklammerung zwischen der DDR und der Bundesrepublik herbeiführen; die Gewährung von Krediten sollte verbindlich und dauerhaft an die Gewährung humanitärer Erleichterungen vor allem hinsichtlich der Freizügigkeit der Bürger der DDR geknüpft und so die damals höchstmögliche Garantie für den Beginn der Humanisierung des gesamten Grenzregimes und des Reiseverkehrs erreicht werden. Aus der Sicht des Angeklagten bot dieses Modell den Einstieg zu weiteren Schritten bis hin zur völligen Reisefreiheit der DDR-Bürger.
Das Projekt wurde auf beiden Seiten streng geheim behandelt und der Angeklagte Prof. Häber blieb – auch nach dem Regierungswechsel in der Bundesrepublik im Jahre 1982 – aufgrund seiner umfänglichen Kontakte der diskrete Ansprechpartner. Aus unterschiedlichen Gründen, die jedenfalls nicht der Angeklagte Prof. Häber zu vertreten hatte, scheiterte das Projekt. Daß er seine Bemühungen und Aktivitäten in dieser Richtung – in welcher Form und unter welchem Arbeitstitel auch immer – aktiv fortgesetzt hätte, wenn ihm seitens der politischen Führung in der DDR dazu die Möglichkeit eingeräumt worden wäre, ist nach Auffassung der Kammer mehr als wahrscheinlich.
V.
Die Kammer ist dem auf Verlesung gerichteten und unter der Bedingung gestellten Hilfsbeweisantrag der Staatsanwaltschaft (Anlage 3 zum Protokoll vom 27. Juni 2000), daß das Gericht den Angeklagten Prof. Häber von dem Vorwurf, den Tod des Michael-Horst Schmidt am 1. Dezember 1984 durch Unterlassen verursacht zu haben mit der Begründung freizusprechen beabsichtigt, die dort näher bezeichnete Urkunden seien nicht Gegenstand der Beweisaufnahme gewesen, nicht nachgegangen. Denn der Antrag ist eindeutig unter der Bedingung eines bestimmten Begründungselementes für einen bestimmten Urteilsausspruch gestellt worden, welche nicht eingetreten ist.
Dem Antrag der Staatsanwaltschaft (Anlage 4 zum Protokoll vom 27. Juni 2000) auf Vernehmung des Egon Krenz als Zeugen, gestellt unter der Bedingung, daß das Gericht den Angeklagten Prof. Häber mit der Begründung freizusprechen beabsichtigt, dieser sei kurz nach Beginn seiner Mitgliedschaft im Politbüro durch den für die Anleitung der Abteilung Sicherheitsfragen des ZK der SED zuständigen Sekretär, Egon Krenz, in ziemlicher Lautstärke gewissermaßen davor gewarnt worden, sich in dessen Zuständigkeiten einzumischen, ist die Kammer ebenfalls nicht nachgegangen. Die beantragte Beweiserhebung wurde seitens der Staatsanwaltschaft davon abhängig gemacht, daß sich das Gericht für das genannte Begründungselement als den Freispruch tragend oder mittragend entscheidet, wofür es keinen Anlaß hatte.
Den hilfsweise für den Fall, daß das Gericht den Angeklagten Prof. Häber von dem Vorwurf, den Tod des Michael-Horst Schmidt am 1. Dezember 1984 durch Unterlassen verursacht zu haben, mit der Begründung freizusprechen beabsichtigt, die Einlassung dieses Angeklagten, aktiv im Sinne der Projekte „Zürcher Modell“ bzw. „Länderspiel“ zwecks Humanisierung des Grenzregimes in Richtung DDR/West gehandelt zu haben, sei nicht widerlegt bzw. auch durch die Vernehmung der Zeugen Dr. Philipp Jenninger und Holger Bahl nicht zu widerlegen, gestellten Antrag der Staatsanwaltschaft (Anlage 5 zum Protokoll vom 27. Juni 2000) auf Vernehmung eben dieser Zeugen lehnt die Kammer als Beweisermittlungsantrag ab.
Die Wahrheitsermittlungspflicht erfordert es nicht, den aufgezeigten Beweismöglichkeiten nachzugehen, da sie bei Berücksichtigung des bisherigen Verfahrensergebnisses einschließlich des Vorbringens der Verfahrensbeteiligten und des Akteninhalts eine weitere sachdienliche Aufklärung insoweit nicht erwarten lassen. Dem Antrag läßt sich zudem nicht entnehmen, weshalb es an den erforderlichen Voraussetzungen für die genaue Bezeichnung bestimmter Tatsachen, die in das Wissen der Zeugen gestellt werden sollen, fehlt. Der Hinweis im Antrag, „die Zeugen werden das vom Angeklagten Prof. Häber in deren Wissen gestellte aktive, vorbezeichnet näher beschriebene aktive Handeln dieses Angeklagten nicht bekunden“, führt selbst dann, wenn die Zeugen es derart bekunden sollten, nicht zwingend zu der von der Staatsanwaltschaft gezogenen Schlußfolgerung. Daß die Zeugen Dr. Philipp Jenninger und Holger Bahl, die sich zu diesem Thema als Zeugen für den Angeklagten Prof. Häber zur Verfügung gestellt haben, eine derartige Aussage machen würden, hält die Kammer überdies für äußerst zweifelhaft. Darüber hinaus resultiert die Auffassung der Kammer zur Beteiligung des Angeklagten Prof. Häber an dem Projekt „Züricher Modell“ aus seinen weiterhin unwiderlegten Einlassungen, die durch die weiteren in der Hauptverhandlung erhobenen Beweise gestützt wurden. So hat der Zeuge Prof. Dr. Jürgen Nitz glaubhaft bekundet, er habe als Forschungsbereichsleiter für internationale Politik Kontakte zu westlichen Partnern zunächst im Wissenschaftsbereich, später auch in der Politik unterhalten.
In den Jahren 1971 bis 1973 sei der Angeklagte Prof. Häber sein Vorgesetzter gewesen. In den 80iger Jahren seien – teilweise auf seine, des Zeugen, Vermittlung hin – zum Projekt „Züricher Modell“ Geheimverhandlungen unter anderem zwischen dem Schweizer Bankier und Vertrautem des Bundeskanzleramtes Bahl und dem Angeklagten Prof. Häber geführt worden. Der Zeuge Nitz bestätigte darüber hinaus dessen Einlassung, wonach der Angeklagte Prof. Häber aus der DDR der Hauptgesprächspartner für den damaligen Staatsminister im Bundeskanzleramt, Dr. Philipp Jenninger, gewesen sei. Dementsprechend habe sich Dr. Jenninger am 4. März 1993 vor dem Schalck-Untersuchungsausschuß des Deutschen Bundestages geäußert. Der Zeuge Prof. Dr. Nitz bekundete ferner glaubhaft, daß er das „Züricher Modell“ beziehungsweise, wie es später hieß „Länderspiel“, für ein insgesamt waghalsiges Projekt hielt, jedoch keine Kenntnis von deswegen gegen den Angeklagten Prof. Häber gerichteten Aktionen innerhalb der DDR hatte.
Im übrigen hat die Kammer alle Angeklagten aus rechtlichen Gründen aufgrund der fehlenden Kausalität zwischen dem Unterlassen und den festgestellten Tötungshandlungen freigesprochen. Nur zusätzlich hat die Kammer dem Angeklagten Prof. Häber zugute gehalten, daß das Gericht nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme davon ausgeht, daß er im Rahmen seiner politischen Möglichkeiten im Hinblick auf die Humanisierung des Grenzregimes – anders als die Mitangeklagten Dr. Böhme und Lorenz – nicht gänzlich untätig blieb, sondern systematische Schritte unternahm, um einen Brückenschlag zwischen Ost und West zu erzielen. Lediglich ein Schritt in diesem Bemühen war auf die Planung und Vorantreibung des „Züricher Modells“ gerichtet.
Die Kammer ist dem von der Staatsanwaltschaft hilfsweise für den Fall gestellten Antrag, daß das Gericht den Angeklagten Prof. Häber mit der Begründung freizusprechen beabsichtigt, er sei bei der Beschlußfassung zu TOP 14 in der Sitzung des Politbüros am 11. Juni 1985 physisch nicht mehr anwesend gewesen, auf Vernehmung der Zeugin Glende (Anlage 6 zum Protokoll vom 27. Juni 2000) ebenfalls nicht nachgegangen, weil er kein Ereignis betrifft, das von dem Vorwurf der Anklagebehörde erfaßt worden wäre. Insoweit ist die Beweiserhebung für die Entscheidung ohne Bedeutung, § 244 Abs. 3 S. 2 Alt. 2 StPO. Die Kammer hat wiederholt beschlossen, verkündet und begründet, daß und weshalb der Vorwurf gegen den Angeklagten Prof. Häber nur auf die Tötung im falle 1) – Michael-Horst Schmidt – gerichtet ist, und zwar unbeschadet weiterreichender Zeit der Mitgliedschaft im Politbüro. Die Sitzung vom 11. Juni 1985 ist aber lediglich für die hier nicht relevanten Tötungen im übrigen bedeutsam.
Dasselbe gilt für den unter derselben Bedingung hilfsweise gestellten Antrag der Staatsanwaltschaft Anlage 7 zum Protokoll vom 27. Juni 2000) auf Vernehmung der Zeugen Krenz und Schürer zur Frage der physischen Präsenz des Angeklagten Prof. Häber in der Sitzung des Politbüros am 11. Juni 1985. Die Kammer lehnt ihn mit der gleichen Begründung ab.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 467 Abs. 1 StPO.
Aufgrund des Freispruchs zugunsten der Angeklagten hat die Nebenklägerin die ihr entstandenen notwendigen Auslagen selbst zu tragen, ohne daß es hierzu eines gesonderten Ausspruchs bedurfte (Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 44. Aufl. § 472 Rdnr. 2).
Gemäß § 2 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 3 StrEG sind die Angeklagten für die durch Beschluß des Kammergerichts in Berlin vom 12. März 1997 angeordneten freiheitsbeschränkenden Maßnahmen nach § 116 StPO – zeitlich ausgesetzt und schließlich sukzessive aufgehoben durch die Kammer – zu entschädigen, weil Ausschluß- beziehungsweise Versagungsgründe nach den §§ 5, 6 StrEG nicht vorliegen.
Luther Bach König
Ausgefertigt/Beglaubigt
Justizangestellte