Juristische Verfolgung erschwert Auseinandersetzung mit Geschichte.

TP-Interview mit dem PDS-Bundestagsabgeordneten Prof. Dr. Uwe-Jens Heuer.

TP: Herr Prof. Heuer, auf einer Podiumsdiskussion im März dieses Jahres haben Sie gesagt, die Angeklagten im Politbüroprozeß gehören nicht auf die Anklagebank. Ich möchte das etwas genauer wissen: Aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen?

Heuer: Ja, ich meine, erst einmal aus rechtlichen Gründen. Ich bin der Meinung, daß dieser Prozeß – das ist erst mal das grundsätzlich Juristische – gegen das Rückwirkungsverbot des Artikels 103 des Grundgesetzes verstößt. Das heißt, die Angeklagten werden nicht an dem Recht gemessen, das zur Tatzeit galt, und das halte ich für einen Verstoß gegen das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland.

TP: Das Rückwirkungsverbot der Verfassung kann ja nun – wie es durch die Rechtsprechung geschieht – durch die Radbruchsche Formel umgangen werden. Die Radbruchsche Formel hört sich auch schön an…, vielleicht erklären Sie als Jurist zunächst einmal diese Formel…

Heuer: Die Radbruchsche Formel stammt ja aus der Zeit kurz nach dem Ende des zweiten Weltkrieges. Radbruch formulierte hier, daß das gesetzte, „positive“ Recht dann und nur dann weichen müsse, wenn es der Gerechtigkeit in unerträglichem Maße widerspricht. Die Problematik liegt allerdings darin, daß über Gerechtigkeit als „naturrechtlichen“ Maßstab notwendig die unterschiedlichsten Vorstellungen bestehen und das ist eine unsichere und deshalb für mich nicht akzeptierbare Grundlage einer Bestrafung. Bestimmtheit der Strafvorschrift – und hier ist der DDR auch einiges vorzuwerfen – ist wie das Rückwirkungsverbot Ausdruck eines Menschenrechts.

TP: Aber die Menschenrechtspakte der UNO waren doch hinreichend bestimmt?

Heuer: Das ist richtig. Aber das müssen wir dann aber etwas genauer noch diskutieren, glaube ich. Es ist ja so, daß auch nach der DDR-Verfassung die allgemeinen Regeln des Völkerrechts galten. Sie wissen, daß die DDR den Menschenrechtspakten von 1966 beigetreten ist. Aber sie ging – wie übrigens alle sozialistischen Staaten und andere Länder auch – davon aus, daß diese vertragliche Verpflichtung der DDR nur dann für DDR-Bürger gilt, wenn sie vom Staat überführt worden ist. Eine der Regeln dort ist, daß der Staat eine bestimmte Freizügigkeit zu gewähren hat, also Reisen ins Ausland, und dabei sind bestimmte Einschränkungen zulässig, aber ich sage noch mal: Die DDR hat diese Regeln nicht in ihr eigenes Recht überführt, und ich räume Ihnen durchaus ein, daß sie damit gegen ihre vertraglichen Verpflichtungen verstoßen hat, aber auf jeden Fall sind diese Regeln dann kein verbindliches Recht für DDR-Bürger geworden.

TP: Das Urteil des BGH, das die Freiheitsstrafen gegen Keßler, Streletz und Albrecht und die Anwendung der Radbruchschen Formel bestätigt hat, steht zur Prüfung beim Bundesverfassungsgericht an. Welche Erfolgschancen messen Sie den Verfassungsbeschwerden der Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrates bei?

Heuer: Ich möchte zunächst ein Argument noch einmal anführen, das ich für wichtig halte: Sehen Sie, im Grunde genommen bedeutet die Konstruktion dieses Urteils und auch der Anklage in Prozessen, die gegenwärtig laufen, daß DDR-Recht die Angeklagten verpflichtet hätte, die Mauer abzubauen. Und ich muß Ihnen sagen, ich halte das für eine absurde Unterstellung. Ich will gar nicht darüber diskutieren, ob sie hätte abgebaut werden müssen oder sollen…, aber daß DDR-Recht die Führung dieses Landes – und die Führung dieses Landes lag ja in den Händen des Politbüros – verpflichtet haben sollte, die Mauer abzubauen, halte ich für eine Absurdität. Sie haben ja gesehen, daß die DDR, wie sich erwiesen hat – und das ist natürlich eine schlimme Tatsache -, ohne die Mauer nicht lebensfähig war. Das hat sich ja am Schluß deutlich gezeigt. Und nun würde das aber juristisch bedeuten, die DDR-Führung war gleichsam zum Staatsselbstmord verpflichtet – juristisch aufgrund des eigenen Rechts. Und das halte ich für eine absurde Vorstellung. Ich glaube nicht, daß eine Rechtsordnung vorstellbar ist, die die Regierung oder die Führung eines Landes verpflichtet, dieses Land zu beseitigen. Ich nehme an, daß auch in das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland eine solche Verpflichtung der Führung dieses Staates nicht hineingedacht werden kann. Und insofern meine ich, daß es sich da um einen Versuch handelt, in eine Rechtsordnung etwas hinein zu interpretieren, was nicht geht. Ich hoffe, daß das Bundesverfassungsgericht diesen Positionen nicht folgt.

TP: Wäre es wirklich Selbstmord gewesen, wenn Mauer und Grenze beseitigt worden wären? Wenn man heute Stimmen hört, würden ja viele wieder in die DDR zurück und viele aus dem Westen gleich hinterher..

Heuer: Ja, Sie haben recht, inzwischen gibt es eine etwas andere Sicht der Dinge. Ich will noch einmal sagen: Ich habe den Bau der Mauer 1961 für legitim gehalten unter den damaligen Umständen. Die Masse der Leute sind aus ökonomischen Gründen gegangen, natürlich auch aus politischen – das kann man gar nicht bestreiten -, aber die Masse der Leute doch wohl aufgrund der besseren Lebensverhältnisse, die sie in Westdeutschland erwarteten. Und damals ist diese Mauer gebaut worden. Was ich vorwerfe, ist, daß es die DDR und ihre Führung nicht verstanden hat, die Mauer entbehrlich zu machen. Das ist ein Vorwurf, und es hat sich nach positiven Versuchen in den sechziger Jahren gezeigt, daß es nicht gelungen ist, die DDR wettbewerbsfähig gegenüber der Bundesrepublik Deutschland zu machen. Und deshalb bedeutete dann die Öffnung der Mauer im Grunde das Ende der DDR.

TP: Im Politbüroprozeß geht es nun um die Toten und Verletzten an Grenze und Mauer. Sind diese Toten und Verletzten an Grenze und Mauer notwendig gewesen, hätte nicht in Kauf genommen werden können, daß eben einige Tausend flüchten, dann wären immer noch 16 Millionen übrig geblieben. Wer ist nun auch für diese Toten und Verletzten verantwortlich zu machen?

Heuer: Das sind zwei verschiedene Fragen; die erste Frage ist, waren die Toten vermeidbar. Nun kann und muß man darüber diskutieren, in welchem Umfang was notwendig gewesen war, ob die Schußanlagen notwendig gewesen waren…, das kann man alles diskutieren. Aber im Prinzip sollte die Mauer dazu dienen, vom Verlassen der DDR abzuschrecken. Und die Menschen wußten natürlich auch von dem Risiko. Und wenn Menschen dieses Risiko trotzdem eingingen, zeigt das ja, daß ihr Wunsch, die DDR zu verlassen, außerordentlich groß war. Und es gab in wechselnder Höhe die ganze Zeit einen bestimmten Sog, eine bestimmte Anziehungskraft der Bundesrepublik Deutschland; ich sagte ja bereits, daß das in meinen Augen an dem ökonomischen Niveau-Unterschied lag, auch an anderen Gründen, aber ich halte die ökonomischen Gründe für die Hauptursache. Es hat natürlich auch die ganze Zeit von Westdeutschland aus eine mehr oder minder starke Abwerbung gegeben. Wie Sie wissen, hat Springer in Westberlin unmittelbar vor dem Bau der Mauer auch ein Hochhaus gebaut, das er mit Ostberlinern bestücken wollte, d.h. dieser Sog ist auch bewußt gemacht worden. Sie wissen, daß Schlepper da waren und Sie wissen, in welchem Umfang das unterstützt wurde; und es sind Tunnel gebaut worden, und es gab natürlich ein Bestreben dauernd von seiten der Bundesrepublik Deutschland, in diesem oder jenem Umfang anzureizen, die DDR aus verschiedenen Gründen zu verlassen. Und man wußte natürlich auch, daß das die schwache Stelle der DDR war. Das ist ja auch selbstverständlich. Und Sie wissen auch, daß die Medien der Bundesrepublik Deutschland in die DDR hineinwirkten aus verschiedenen Gründen, aber doch in erheblichem Umfang. Es hat also eine erhebliche Massenabwanderung gegeben und offensichtlich hat sich gezeigt, daß dieser Sog die ganze Zeit bestanden hat. Zeitweise sah es erheblich besser aus, würde ich meinen, aber er hat doch in mehr oder weniger starkem Umfang bestanden.

TP: Wer ist aber nun für die Toten und Verletzten, die es gegeben hat an Mauer und Grenze, zur Verantwortung zu ziehen – auch strafrechtlich, sieht man einmal vom Rückwirkungsverbot ab.

Heuer: Vom Rückwirkungsverbot kann man als Jurist nicht absehen. Grundsätzlich muß man sagen, daß der Staat – das kann einen bedrücken, und das ist auch etwas Bedrückendes, aber es ist so – das Gewaltmonopol hat. Jeder Staat auf der Welt nimmt für sich letztlich dieses Recht in Anspruch, Waffengewalt auch gegen ausländische Bürger und auch gegen eigene Bürger anzuwenden. Das tut auch die Bundesrepublik Deutschland. Der Staat hat eine Armee, hat eine Polizei, hat Schußwaffenbestimmungen. Das haben alle Staaten, die sehen zwar unterschiedlich aus, aber doch im großen und ganzen recht ähnlich. Man kann es beklagen, daß ein Staat so etwas macht, im Grunde ist es aber so, daß jeder Staat davon ausgeht, daß er dieses Recht hat. Auch an den Grenzen der Bundesrepublik Deutschland wurden Leute erschossen. Wenn deutsche Streitkräfte heute ins Ausland gehen zu militärischen Einsätzen, werden sie auch Leute erschießen, wenn es denn sein muß in den Augen der militärischen Führung. Und auch Herr Rühe kriegt dann die Verantwortung für die Schüsse, die die Truppen bei Auslandseinsätzen abgeben. Man kann das beklagen, daß der Staat diese Rolle spielt. Aber die Staaten haben das in der Geschichte gespielt, und sie tun es heute und insofern meine ich, daß da die DDR im Grunde so gehandelt hat, wie andere Staaten auch, allerdings, das muß ich einräumen, in einer besonderen Situation, weil sie das Verlassen des eigenen Staates unter Strafe gestellt hat, was, wie ich weiß und wie Sie wissen, für die Mehrzahl der Staaten unzweifelhaft in dieser Form nicht gilt. Es bedrückt mich noch heute, daß die DDR nur auf diese den Tod von Menschen in Kauf nehmende Weise erhalten wurde und wohl auch nur auf diese Weise erhalten werden konnte.

TP: Sind denn nun die Politbüromitglieder für die Toten und Verletzten an Grenze und Mauer verantwortlich zu machen?

Heuer: Also erst einmal möchte ich vielleicht noch eins sagen dazu: Ich meine, daß juristische Verfolgung die Auseinandersetzung mit Geschichte grundsätzlich nicht erleichtert, sondern erschwert. Es ist ja einleuchtend, daß jemand, dem ein Ermittlungsverfahren droht oder dem ein Bußgeld droht, der mit hoher Strafe bedroht ist, daß der über seine wirklichen Motive und über die Frage, warum er bestimmte Dinge gemacht hat, nicht so offen und so ehrlich reden wird, wie jemand, dem so etwas nicht droht. Das heißt, eine wirkliche Diskussion über Versäumnisse, über Fehler, über Irrtümer, auch über moralische Verstöße kann nicht stattfinden oder wird kaum stattfinden, wenn der Staatsanwalt mit der Sache befaßt ist.

TP: Würden beispielsweise Tribunale, wie sie Wolfgang Ullmann ins Gespräch gebracht hat, den Gerechtigkeitsvorstellungen der Opfer genügen? Oder würde dadurch nicht eher einer Lynchjustiz Vorschub geleistet?

Heuer: Das glaube ich eigentlich nicht. Eine Lynchjustiz hat es ja auch nicht gegeben, obwohl manche das erwartet hatten.

TP: Sie hat es deswegen möglicherweise nicht gegeben, weil viele doch auf die Justiz vertrauen, daß sie sozusagen angemessen mit der Vergangenheitsbewältigung fertig wird.

Heuer: Gut, das kann man, wie auch immer, verschieden sehen; ich glaube das jedenfalls nicht.
Die Bewertung der Geschichte ist in meinen Augen weit leichter und auch die Frage der Verantwortung einzelner ist weit leichter zu stellen, wenn nicht der Staatsanwalt seine Hand mit im Spiel hat. Diese Frage der Bewertung wird man unterschiedlich sehen. Sehen Sie, die Frage, ob der Bau der Mauer legitim war, hängt mit der Frage zusammen, ob man diesen sozialistischen Versuch in Ostdeutschland für legitim hielt. Wenn dieser sozialistische Versuch legitim war in Antwort auf den zweiten Weltkrieg, in Antwort auf den Faschismus, dann konnte und mußte man in meinen Augen zu der Schlußfolgerung kommen, daß es legitim war, die Fortsetzung dieses Versuches auch mit diesem, wie ich zugebe, sehr schweren und sehr schwer zu verantwortbaren Schritt des Baus der Mauer zu sichern. Wer das nicht so sieht, wer die DDR für einen Irrweg der deutschen Geschichte hält, wer der Meinung ist, daß sie ein Ausbruch aus deutscher Geschichte ist, der wird das sicherlich anders sehen.

TP: Sie werden kaum jemanden finden, der Ihnen darin beipflichtet, daß man die Freiheit mit Unfreiheit erreichen kann…

Heuer: Ach, wissen Sie, was heißt Freiheit durch Unfreiheit… Die Bundesrepublik Deutschland hält es ja für legitim, ihre Interessen, sagen wir mal in Jugoslawien oder in Somalia, mit Waffengewalt zu schützen. Also, das ist eine Frage der Sichtweise. Wenn man einen Staat als Ganzes für legitim hält, dann hält man auch bestimmte Dinge für berechtigt, kann sie für berechtigt halten jedenfalls, die von anderen abgelehnt werden. Ich räume Ihnen ohne weiteres ein, es war ein schwerer Schritt, es war, weil es ja Schüsse gegen das eigene Volk, gegen die eigenen Bürger bedeutete – das ist mir schon klar – ein Eingeständnis einer Niederlage, bei offenen Grenzen den Sozialismus zu gestalten, und es war ein schwerer Einschnitt. Aber ich denke, daß die Entwicklung der DDR danach vor allem in den sechziger Jahren das doch in bestimmter Weise legitimiert hat. Allerdings muß ich Ihnen einräumen, daß in der Folgezeit die DDR sich als nicht reformfähig erwiesen hat und damit das Urteil der Geschichte über sie gesprochen wurde.

TP: Nun nochmals zurück zu meiner Frage, die zweimal untergegangen ist und somit nicht beantwortet wurde. Mal abgesehen von Moral und strafrechtlicher Verantwortung: Hat das Politbüro das Grenzregime – so wie es war und ausgestaltet war – zu vertreten, also in welcher Weise auch immer dafür verantwortlich?

Heuer: Ja, wenn sie es für legitim halten, dann stellt sich die Frage der Verantwortlichkeit nicht. Für denjenigen, der es moralisch verurteilt, ist dafür natürlich nicht der Grenzsoldat, sondern sind diejenigen verantwortlich, die das entschieden haben.

TP: Sind das die Politbüromitglieder -mal abgesehen davon, was der Warschauer Pakt noch dazu beigetragen hatte?

Heuer: Das ist das schwierige Problem, wie weit war die DDR allein in der Lage, so etwas überhaupt zu entscheiden. Es wird ja gegenwärtig diskutiert, ob Ulbricht das an Chruschtschow herangetragen hat; jedenfalls ist eines sicher, daß weder der Bau noch der Abbau der Mauer – ich sehe von der besonderen Situation 1989 ab – eine einsame Entscheidung der DDR sein konnte. Der Bau der Mauer war eine gemeinsame Entscheidung der Warschauer Vertragsstaaten, das wäre ohne die Sowjetunion überhaupt nicht möglich gewesen. Genau wie die Beseitigung der Mauer. Auch die Änderung des Grenzregimes, wie man jetzt erfährt, war im Grunde nicht möglich ohne die Zustimmung der Sowjetunion. Das heißt, eine einsame Entscheidung der DDR, des Politbüros, war in diesem Feld nicht möglich.

TP: Was wäre Ihrer Meinung nach passiert, wenn von seiten der DDR 1961 gesagt worden wäre, wir wollen diese Mauer nicht?

Heuer: Daß das Politbüro das unzweifelhaft so nicht gesehen hat, das habe ich ja schon gesagt; und wenn die Sowjetunion es gewollt hätte, für notwendig gehalten hätte, dann hätte sie durchgesetzt, daß auch eine DDR-Führung das mitgemacht hätte. Da bin ich ganz sicher. Also wenn sie meinte, daß davon eine Gefahr für die Existenz der DDR ausgegangen wäre, wenn die Sowjetunion also meinte, es sei so etwas für die Sicherung ihres Einflußbereiches in Europa notwendig – darum ging es ja -, und zur Sicherung vor einem neuen deutschen Angriff – solche Vorstellungen gab es ja, und es hat ja einen deutschen Angriff 1941 gegeben -, dann hätte eine DDR-Führung in meinen Augen keine Möglichkeit gehabt, sich dem zu widersetzen.

TP: Wenn man gewissen Seiten Glauben schenken darf, dann war es doch eher so, daß die Initiative zum Bau der Mauer von der DDR ausging insoweit, daß sie die UdSSR um Zustimmung dafür bat, aber keinesfalls die Mauer von der UdSSR aufoktroyiert wurde.

Heuer: Ich sagte Ihnen ja schon, da gibt es jetzt unterschiedliche Informationen, unterschiedliche Sichtweisen. Und das wäre im einzelnen noch zu untersuchen. Aber die Sowjetunion war sicherlich der Meinung, daß der Fortbestand der DDR auf jeden Fall gesichert werden müßte. Und da geht es um die Bewertung, ob der Fortbestand der DDR bei offener Grenze weiterhin gesichert war. Und ich glaube, daß damals die Auffassung doch wohl die war, daß es ohne Aufrechterhaltung der Mauer eine Weiterexistenz der DDR nicht möglich gewesen wäre.

TP: Von welcher Seite wurde diese Auffassung vertreten?

Heuer: Ich glaube sowohl von der DDR als auch von der Sowjetunion.

TP: In welcher Form ist wer für die Toten und Verletzten an Grenze und Mauer nun zur Verantwortung zu ziehen? Sie stehen ja auf dem Standpunkt, daß aufgrund des Rückwirkungsverbotes eine strafrechtliche Aufarbeitung unzulässig ist. Die Opfer bzw. die Angehörigen der Opfer fordern Genugtuung. Sie treten in den Prozessen als Nebenkläger auf. Wenn es jetzt eine Genugtuung in ihrem Sinne nicht gibt, wäre da möglicherweise für sozialen Zündstoff gesorgt?

Heuer: Ach, wissen Sie, ich glaube das nicht. Die Masse der Ostdeutschen hat ganz andere Probleme als diese. Ich glaube nicht, daß das der große soziale Zündstoff ist. Das halte ich für eine Fehlannahme. Sicherlich hat das eine Rolle gespielt im Jahre 1990, das kann überhaupt nicht bestritten werden. Aber ich glaube, daß die sechs Jahre Vereinigung und ihr Verlauf und all das, was heute in Ostdeutschland passiert – die Arbeitslosigkeit, der Zusammenbruch der Industrie und der Landwirtschaft, die Entwertung des Lebens vieler -, für die Ostdeutschen schwerer wiegt als all das, worüber wir hier gesprochen haben. Das rechtfertigt das überhaupt nicht, nur meine ich, daß das alles schwerer wiegt im Bewußtsein der Menschen, was heute passiert. Ich glaube, der soziale Frieden wird heute in Ostdeutschland durch ganz andere Dinge gestört als durch fehlende Verurteilungen von DDR-Politikern.

TP: Würde der soziale Frieden gestört, wenn sie verurteilt würden?

Heuer: Ja, das ist schwierig. Ich meine, daß die Sicht auf die DDR heute eine andere ist als 1990. 1990 haben auch viele Menschen geglaubt in Ostdeutschland, daß sie durch eine Totalabsage an die DDR ihren Eintritt in die Bundesrepublik leichter erlangen. Und sie haben sich vermutlich auch ein falsches Bild von vielem in der Bundesrepublik gemacht und von ihrer Lage in dieser Bundesrepublik. Nun ist eine ganze Reihe von Dingen dazugekommen, die heute dazu führen, daß sie ein kritischeres Bild auf die Bundesrepublik haben. Ich meine nicht, daß sie die DDR heute in rosigen Farben sehen. Aber sie sind in der Lage, beide Systeme zu vergleichen und sehen einige Dinge besser in der DDR, einige Dinge besser heute. Ich glaube, daß sie ein ziemlich realistisches Bild beider Systeme inzwischen haben, wobei ich nicht denke, daß ein erheblicher Teil sich irgendwie die DDR zurückwünscht; aber sie meinen doch, daß die absolute Verdammung der DDR nicht mehr angebracht ist, wie das vor einigen Jahren noch der Fall war. Im Grunde glaube ich, daß sie die ständigen Versuche, die DDR als Unrechtsstaat darzustellen, als stalinistisch, als totalitär oder wie auch immer, doch als Angriff auf sich selbst ansehen, auf ihr Leben; und sie werden ja auch von vielen Westdeutschen dazu verwandt, weil man bestimmte Benachteiligungen der DDR-Bürger eben leichter begründen kann, wenn man sagt: Ihr habt in einem Unrechtsstaat gelebt. Und weil es leichter ist, die Strafverfolgung bei den Renten, die Strafrenten oder anderes oder Benachteiligungen, alles, was hier gelaufen ist in den letzten Jahren, leichter zu begründen ist, wenn man eben sagt: Ihr hattet eine marode Wirtschaft, Ihr hattet einen Unrechtsstaat, und nun seid mal ruhig und freut euch, daß Ihr endlich leben dürft in der Bundesrepublik Deutschland. Und insofern glaube ich, daß die Ostdeutschen das Gefühl haben, daß diese Art des Umgangs, diese Art der Totalverdammung, die ja auch verbunden ist mit diesen Prozessen, ihre persönlichen Chancen beeinträchtigt in dieser Bundesrepublik Deutschland. Und deshalb meine ich, daß die meisten nicht solche Verurteilungen fordern, sondern – jedenfalls viele – darin doch so etwas sehen wie Siegerjustiz oder, sagen wir mal, auch eine Legitimierung dessen, was in den letzten Jahren in Ostdeutschland passiert ist.

TP: Was sagen Sie zu dem Schreiben von 131 Duma-Abgeordneten an den Deutschen Bundestag? Sind Sie auch der Meinung, daß ein ganzes Volk diskriminiert und politisch verfolgt wird oder daß nur diejenigen vor Gericht stehen, bei denen so etwas wie strafrechtlich vorwerfbare Schuld nachgewiesen werden soll?

Heuer: Otto Kirchheimer hat in seinem Buch „Politische Justiz – Verwendung juristischer Verfahrensmöglichkeiten zu politischen Zwecken“ einen solchen Vorgang sehr überzeugend beschrieben: „Ist der Gegner aus dem politischen Konkurrenzkampf bereits ausgeschaltet, so bemühen sich die Ankläger, seine Niederlage… als unumgänglich und gerecht hinzustellen.. Das Gerichtsverfahren nimmt das angestrebte Bild aus dem Bereich des privaten Geschehens und parteiischer Konstruktion heraus und hebt es auf ein offizielles, autoritatives, gewissermaßen neutrales Postament hinaus“. Man hätte das ja nicht machen müssen. Man hat ja die Verjährung, wie Sie wissen, das Ruhen der Verjährung durchgesetzt und beschlossen…

TP: … aber nur für bestimmte Taten…

Heuer: …ja, für alles, was in der DDR aus politischen Gründen nicht verfolgt ist seit 1949. Das heißt, man hat theoretisch die Möglichkeit gehabt, jeden einzelnen Hausfriedensbruch seit 1949 zu verfolgen. Das hat man nicht alles gemacht. Das wäre ja auch ins Uferlose ausgewuchert.
Sie müssen aber auch sehen, daß kein einziger Nazirichter wegen Rechtsbeugung verurteilt worden ist und daß man das aber bei DDR-Richtern macht und daß man nun auch die Maßstäbe der Rechtsprechung bei Rechtsbeugung geändert hat, anders als damals gegenüber den Nazi-Richtern. Das hat der Bundesgerichtshof jetzt selbst entschieden, das sei ja alles sehr bedauerlich, daß man bei den Nazi-Richtern nicht verurteilt hat und daß man das jetzt nachträglich für falsch hält. Das spüren ja auch die Leute, man hätte auch anders damit umgehen können, man hätte das nicht machen können; wenn man z.B. die Verjährungsregelung nicht getroffen hätte, wäre sehr vieles verjährt gewesen.
Es war schon der politische Wille, das zu tun, und Sie wissen ja, Frau Süssmuth war jetzt in Südafrika und hat sehr positive Worte darüber gefunden, wie da Mandela und der ANC nun mit den Leuten des Apartheidregimes umgehen. Das wird als positiver Akt der Versöhnung gesehen. Hier macht man es anders. Nirgendwo gibt es Vergleichbares, es gibt es nur in Ostdeutschland. Nur gegenüber der DDR. Und dahinter scheinen mir doch auch politische Absichten zu stehen, das so zu machen. Und ich meine, daß die Justiz zum Teil auch ein gewisses Unbehagen hat. Sie merken auch, der Bundesgerichtshof schränkt in einer Reihe von Fragen schon ein, bei den Rechtsbeugungen hat er eine einschränkende Rechtsprechung vorgenommen. In einer Reihe von Fragen geht man vorsichtiger damit um, während beispielsweise der Generalstaatsanwalt in Berlin, Herr Schaefgen, fest entschlossen ist, das weiter durchzuführen. Ich war selbst dabei, als er sagte, das sei seine Pflicht und er erfüllte sie gerne. Das heißt, es steckt ein politischer Wille dahinter, und deshalb bin ich schon der Meinung, daß nur die Politik im Grunde genommen diesen Prozeß bremsen kann. Die Staatsanwaltschaft erklärt ja selbst, daß sie durch das Legalitätsprinzip verpflichtet ist, jedenfalls hat sie durchaus das Recht dazu und wobei, ich sagte schon, die Gerichte, wie mir scheint, zu wesentlichen Teilen zurückhaltender sind. Das ist unterschiedlich, aber das gibt es durchaus Meinungen, die darauf hinauslaufen – Herr Odersky (früherer Vorsitzender des Bundesgerichtshofes) hat das gesagt und verschiedene andere -, daß dieser Prozeß wohl auf die Dauer nicht zum sozialen Frieden in Deutschland beiträgt.

TP: Sie haben im vergangenen Jahr mit Gysi einen Gesetzesentwurf im Bundestag eingebracht, wonach hoheitliches Handeln nicht mehr bestraft werden soll. Ausnahmen machen Sie z.B. bei Gefangenenmißhandlungen. Gibt es noch weitere Ausnahmen?

Heuer: Ja, wir fordern keine Amnestie, obwohl z.B. von Herr Bahr (SPD) oder von Herrn Eylmann (CDU) eine Amnestie vorgeschlagen worden ist. Wir fordern, daß hoheitliches Handeln nicht mehr bestraft werden soll. Ausnahmen machen wir für die Fälle, bei denen es sich in der Realität nicht mehr um hoheitliches Handeln handelte, sondern der Handelnde zwar Hoheitsträger war in der DDR, aber die eigentliche Tat nicht hoheitliches Handeln war. Das gilt z.B. für Gefangenenmißhandlungen, das gilt auch, wenn jemand als Grenzsoldat einen Flüchtenden erschossen hat, obwohl der sich bereits ergeben und die Hände hochgehoben hat. Dies fällt nicht unter die Straffreiheit, das ist zumindest glatter Totschlag.
Also Straffreiheit nur für Taten, die hoheitliches Handeln waren.

Interview: Dietmar Jochum, TP Berlin

Fotoquelle: TP Presseagentur Berlin

Professor Dr. Uwe-Jens Heuer lehrte lange Jahre an der Humboldt-Universität in Berlin Rechtswissenschaft, dort war er zuletzt Direktor des Institutes für Staatsrecht. Seit 1967 war er u.a. am Zentralinstitut für sozialistische Wirtschaftsführung in Berlin. Seit 1990 ist er für die PDS im Bundestag.

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