Konzil.

Alternative Fakten zum Konzil

Nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil ging die Zahl der Gottesdienstbesucher in Deutschland zurück. Nicht selten wird behauptet, dass hierbei ein kausaler Zusammenhang besteht. Aber stimmt das wirklich?

Kirche | Bonn – 06.02.2017

Schaut man sich die Entwicklung der Gottesdienstbesucherzahlen in den vergangenen Jahrzehnten an, dann bleibt eigentlich kaum ein Zweifel: Mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965) ging es für die katholische Kirche in Deutschland bergab. Lag der Anteil derjenigen Katholiken, die 1965 regelmäßig die Messe besuchten noch bei 45 Prozent, waren es 1970 schon nur noch 37 Prozent. 1990 ging noch jeder fünfte, heute geht nur noch etwa jeder zehnte Gläubige sonntags in den Gottesdienst.

Die Piusbrüder und das Konzil

Aber gibt es wirklich einen kausalen Zusammenhang? Diejenigen, die sich mit dem Konzil und den damit einhergehenden Reformen in der katholischen Kirche schwer tun, behaupten das jedenfalls. Ihre These ist die: Die pastorale, liturgische und ökumenische Erneuerung ab der Mitte der 1960er Jahre hat die Identität der katholischen Kirche auf Kosten einer – meist nicht näher definierten – Anbiederung an den Zeitgeist aufgeweicht. Da eine liberale Kirche aber kein Kontrastprogramm zum Rest der Gesellschaft biete, verliere sie an Bedeutung und Überzeugungskraft. Der Glaubensverlust ist vorprogrammiert. Zu den bekanntesten Vertretern dieser These gehört etwa die konservative Priesterbruderschaft St. Pius X., die sich bereits kurz nach dem Konzil von dessen Beschlüssen distanzierte und seit 1975 nicht mehr Teil der römisch-katholischen Kirche ist.

Doch auch im Hier und Jetzt gibt es Katholiken – vom ranghohen Bischof bis zum einfach Gläubigen –, die sich eine Rückkehr zur vorkonziliaren Kirche wünschen. So kritisierten etwa die Kardinäle Raymond Leo Burke und Robert Sarah bei der Vorstellung von Burkes Buch „Fleischgewordene Liebe Gottes“ eine „mangelnde Ehrfurcht“ vor der Eucharistie, für die sie unter anderem die Liturgiereform verantwortlich machen. Ähnliche Äußerungen gibt es mit Blick auf die Sexualmoral, die Ehelehre oder den konfessionellen und interreligiösen Dialog, der schnell in einem Satz mit dem Wort „Selbstaufgabe“ fällt.

Die Kardinäle Raymond Leo Burke und Robert Sarah gelten als Verfechter eines konservativen Katholizismus und üben häufig Kritik an einer „Anbiederung an den Zeitgeist“.

 picture alliance/AP Photo

Um die eigene Position noch einmal zu untermauern, werden erfolgreiche Bewegungen und Institutionen angeführt, in denen der „Konzilsgeist“ vermeintlich keinen Einzug erhalten hat. Ein Beispiel ist das konservative Stift Heiligenkreuz im Wiener Wald, das aktuell mit rund 100 Mönchen ein historisch nie dagewesenes Wachstum erlebt. Auch die relativ gut besuchten Tridentinischen Messen, die „ad orientem“ und auf Latein gefeiert werden, werden als Indiz dafür angeführt, wonach sich die Menschen heute angeblich wirklich sehnen: Beständigkeit und klare Regeln.

In Zeiten von sozialen Netzwerken, Filterblasen und damit häufig unwidersprochenen Behauptungen scheint die Zahl der „Konzilskritiker“ sogar noch zu wachsen. Aber so einfach ist es dann doch nicht. Schon zum 50. Jubiläum des Konzilsbeginns im Jahr 2012 sagte der Bochumer Kirchenhistoriker Wilhem Damberg mit Blick auf die Gottesdienstbesuche, dass die Zahlen seit dem Konzil zwar beständig zurückgegangen seien. „Richtig ist aber auch, dass die prozentualen Kirchenbesuchszahlen, die es seit den 1920er Jahren gibt, 1935 einen Höhepunkt erreichten.“ In den Nachkriegsjahren hätte es lediglich ein kurzes Zwischenhoch gegeben. Die offizielle Statistik der Deutschen Bischofskonferenz belegt das. Denn bereits zwischen 1950 und 1965 sank der Anteil der Gottesdienstbesucher an der Gesamtzahl der Katholiken von 50 auf 45 Prozent.

Historiker: Religiöser Frühling ohne Konstanz

Der Münsteraner Historiker Thomas Großbölting kommt zu einer ähnlichen Einschätzung. Der religiöse Frühling der 1950er Jahre habe wenig Konstanz gehabt, sagt Großbölting katholisch.de. In seinem Buch „Der verlorene Himmel“ hat er das Glaubensleben in Deutschland nach 1945 untersucht. Er schreibt über die Nachkriegszeit und die 1950er Jahre: „Die Wahrnehmung einer umfassenden ‚Rechristianisierung‘ erweist sich in der Rückschau als eine Chimäre.“ Einerseits sei es schon zu dieser Zeit immer schwieriger geworden, einen gewissen Zusammenhalt der kirchlichen Milieus aufrecht zu erhalten – unter anderem wegen einer „Ausweitung des individuellen Horizonts und Weltbilds“. Andererseits hätten Kirchenführer ab 1945 mit dem Rückgriff auf traditionelle Formen der Pastoral und der Frömmigkeitspraxis für eine weitere Distanzierung zu den Gläubigen gesorgt. „Hinter der Fassade einer vordergründigen Religiosität wurden bereits Elemente ihrer Auflösung sichtbar“, lautet sein nüchternes Fazit.

Großbölting verweist in diesem Zusammenhang etwa auf die Art und Weise, wie bereits kurz nach dem Zweiten Weltkrieg mit kirchlichen Moralvorstellungen umgegangen worden sei: Die Familie war zwar noch Kirche im Kleinen wie auch Keimzelle der Gesellschaft, so dass etwa außerehelicher Sex oder nicht-heterosexuelle Kontakte verpönt gewesen seien. Im Alltagsleben hätten sich die Bindungen an diese moralischen Ansprüche aber bereits immer stärker abgelöst. „Weder die kirchlichen Moralvorstellungen noch die damit verbundenen Rollenbilder für Mädchen und Jungen, Frauen und Männer bewahrten ihre Prägekraft“, schreibt Großbölting. Eher das Gegenteil sei der Fall gewesen.

Wilhelm Damberg (* 3. Mai 1954 in Münster) ist ein deutscher Kirchenhistoriker und Professor für Kirchengeschichte des Mittelalters und der Neuzeit an der Ruhr-Universität Bochum.
Wilhelm Damberg (* 3. Mai 1954 in Münster) ist ein deutscher Kirchenhistoriker und Professor für Kirchengeschichte des Mittelalters und der Neuzeit an der Ruhr-Universität Bochum.

 KNA

Eine ähnliche nostalgische Verklärung lässt sich auch mit Blick auf die vorkonziliare Liturgie feststellen. „1960 brachte eine Umfrage unter 9.000 Jugendlichen zutage, dass der Messbesuch kaum emotional besetzt war“, sagt der Bochumer Kirchenhistoriker Damberg. Es sei daher eine nicht mit den Tatsachen übereinstimmende Erinnerung, „wenn man meint, dass die Menschen damals während der Messen stundenlang andächtig lateinischen Gebeten und Gesängen gelauscht hätten“.

Die Realität der Sonntagsgottesdienste sah vielerorts anders aus: Die Gläubigen kamen zu spät zur Messe oder hielten sich währenddessen – zum Beispiel zum Rauchen – vor der Kirche auf. Andere kamen erst zur Wandlung oder gingen direkt danach, weil sie damit nach eigener Auffassung ihre Sonntagspflicht erfüllt hatten. Parallel zur vom Priester „gelesenen“ Messe wurden häufig der Rosenkranz oder fromme Andachten gebetet. Von einer tätigen Teilnahme der Gläubigen (lat.: Participatio actuosa) am Gottesdienst, die das Zweite Vatikanische Konzil in seiner Liturgiekonstitution „Sacrosanctum Concilium“ fordert, war man weit entfernt. Und das, obwohl Papst Pius X. diesen Missstand bereits 1903 beklagt hatte.

Was besagt die Säkularisierungstheorie?

Doch auch wenn sich die vorkonziliare Zeit in vielen Belangen entmystifizieren lässt, ist damit noch nicht begründet, warum sich der Trend ausbleibender Gottesdienstbesucher nach dem Konzil noch einmal verschärfte. Der Religionssoziolge Gerhard Schmidtchen kam bereits Anfang der 1970er Jahre, als er im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz mit Hilfe einer Studie auf Ursachenforschung ging, zu dem Schluss: Die Strukturen von Kirche und Gesellschaft werden als diskrepant empfunden. Nicht die Kirche, sondern die Gesellschaft gebe Leitwerte und Muster des Selbstkonzeptes vor. Die Kirche und die christliche Überlieferung würden daher von vielen nicht mehr als instrumentell für diese Werte empfunden.

Heute bildet die sogenannte Säkularisierungstheorie einen der Hauptansätze, um die „Entkirchlichung“ der Gesellschaft zu erklären. Die These lautet: Zwischen Moderne und Religion existiert ein Spannungsverhältnis, das langfristig zu einem sozialen Bedeutungsverlust von Religion führt. Einer, der diese These vertritt, ist der Münsteraner Religionssoziologe Detlef Pollack. „Die Säkularisierung führt dazu, dass die einzelnen gesellschaftlichen Bereiche nicht mehr ohne weiteres religiös durchdrungen werden können „, sagt er im Gespräch mit katholisch.de. Die Plausibilität eines übergreifenden, religiösen Weltbildes nehme immer mehr ab. In der Politik gelten demnach andere Regeln als in der Wirtschaft, in der Kunst oder eben auch in der Kirche. Selbst moralische Fragen beantworte die Kirche nicht mehr alleine. „Funktionale Differenzierung“ nennt der Soziologe das.

Porträt von Professor Detlef Pollack
Detlef Pollack ist Religionssoziologe und forscht am Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.

 Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Darüber hinaus wachse das Angebot an Freizeitaktivitäten in modernen Gesellschaften ebenso wie die Möglichkeit, sich im Beruf zu verwirklichen, sagt Pollack. „Die Kirche gerät daher mit ihren Angeboten unter Konkurrenzdruck.“ Zum Beispiel im Bereich der Bildung oder der Seelsorge. Unterstützt wird all das noch durch den Trend zur Individualisierung. „Menschen legen mehr und mehr Wert darauf, über ihr eigenes Leben zu bestimmen“, erklärt der Soziologe. Wenn die Kirche dann als autoritär und dogmatisch, als verhärtet und veraltet, ja sogar als übergriffig wahrgenommen werde, sei das ein weiterer Grund für eine Distanzierung. In Anbetracht dieser Erkenntnisse hält es der Soziologe für sehr unwahrscheinlich, dass eine „Liberalisierung“ der Kirche zum Rückgang der Gottesdienstbesuche geführt haben könnte.

Pollack: Nur Minderheiten werden gebunden

Dass konservative Gegenbewegungen, wie man sie etwa im Stift Heiligenkreuz findet, dennoch erfolgreich sein können, steht auf einem anderen Blatt. „Soziale Prozesse sind häufig durch eine gewisse Ambivalenz gekennzeichnet“, sagt Pollack. Das heißt: Es gibt Menschen, die sich – vielleicht besonders in einer individualisierten und globalisierten Welt – nach klaren Regeln und Autorität sehnen. „Das kann eine Minderheit enger an die Kirche binden. Eine große Mehrheit würde von einem konservativeren Kurs allerdings abgeschreckt“, ist sich der Soziologe sicher. Darüber hinaus führten die konservativen Angebote auch selten zu einem Wachstum der Kirche als Ganzes. Auch deren Anhänger kämen meist aus einem kirchlich sozialisierten Umfeld. „Es kommt lediglich zu Verdichtungen und Verschiebungen. Während die einen Angebote wachsen, bluten die anderen aus“, urteilt Pollack.

Was genau das nun für die Zukunft der katholischen Kirche in Deutschland bedeutet, beurteilen die Experten vollkommen unterschiedlich. Braucht es katholische Großveranstaltungen mit Eventcharakter oder die kleinen Glaubenszeugnisse im Alltag? Braucht es eine Präsenz in den modernen Medien oder doch Orte der Stille und Einkehr? Wahrscheinlich von allem ein bisschen. Was jedoch klar ist: Die Zeiten der Volkskirche sind vorbei. Und daran ist nicht das Zweite Vatikanische Konzil Schuld.

Von Björn Odendahl

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