Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in einer Gedenkrede für Margot Friedländer bei der Gedenkveranstaltung der Margot-Friedländer-Stiftung am 9. Juli 2025 in Berlin:
Es war für uns alle nicht leicht, diese Bilder zu sehen. Margot Friedländer seligen Angedenkens – ihre Stimme, leise und eindringlich, ihr Blick, wach und warm, ihr Lächeln, liebevoll und wissend. Wenn wir sie so sehen, dann fühlen wir alle einen tiefen Schmerz. Nach vielen gemeinsamen Jahren mit Euch, den Freunden und Wegbegleitern, ist sie von uns gegangen. Sie wird nicht mehr zwischen uns sitzen: nicht morgen, nicht nächste Woche, nicht beim nächsten Konzert, beim nächsten Gedenktag. Ein Gefühl der Leere begleitet uns seit ihrem Tod, seit dem 9. Mai. Sie fehlt uns. Wir vermissen sie.
Neben dem Schmerz ist da zugleich große Dankbarkeit und auch Demut. Ich bin dankbar für so vieles, was Margot Friedländer unserem Land geschenkt hat. Nach allem, was die Deutschen Margot Friedländer und ihrer Familie angetan haben, hätte sie jedes Recht gehabt, Deutschland zu meiden und ihm zu misstrauen. Aber sie kehrte nach Berlin zurück und reichte uns die Hand der Versöhnung und der Freundschaft.
Und ich darf anfügen: Sie schenkte mir und meiner Frau auch ihre persönliche Freundschaft. Ein großzügigeres Geschenk haben wir wohl nie erhalten. Es ist ein Schatz, der unser Leben für immer bereichern wird. Und ich weiß, dass viele hier im Saal genauso empfinden.
Ich danke der Margot-Friedländer-Stiftung, dass sie uns heute mit dieser Gedenkfeier Gelegenheit gibt, in Ruhe von der Verstorbenen Abschied zu nehmen. Wir gedenken heute einer Ehrenbürgerin Berlins, einer jüdischen Berlinerin, die einst in dieser Stadt geboren wurde und dann aus dieser Stadt, ja aus diesem Land vertrieben wurde. Und deren Eltern und jüngerer Bruder in Auschwitz ermordet wurden.
Es kommt einem Wunder gleich, dass Margot Friedländer im hohen Alter von 88 Jahren noch den Schritt wagte, aus den USA in ihre Geburtsstadt Berlin, die trotz allem Heimat geblieben war, zurückzukommen. Später sagte sie einmal, der Moment, in dem sie sich entschlossen habe, wieder nach Deutschland zu gehen, sei der glücklichste Moment in ihrem Leben gewesen. Was für ein Satz, nach allem, was geschehen war!
Wenn Margot Friedländer Deutschland noch als Heimat empfinden konnte, dann war das eng verknüpft mit den Erinnerungen an die Orte ihrer Jugend, die vertrauten Straßen und Plätze, die Wege zu den Verwandten und Freunden, an Geschäfte, über deren Auslagen und Angebote sie auch mit neunzig Jahren Abstand noch erzählen konnte, und vor allem ganz stark mit Erinnerungen an ihre liebevolle Oma Adele. Jetzt ist Margot Friedländer auf dem Jüdischen Friedhof Weißensee neben ihren Großeltern begraben – ein Kreis hat sich geschlossen.
Im Leben der jungen Margot Bendheim – das war ihr Geburtsname – war die Trennung ihrer Eltern der erste große Schmerz; das hat sie vielen von Euch erzählt. Der Tag aber, an dem ihr Leben zerfiel, dieser Tag war der 20. Januar 1943. Das haben wir eben in dem kurzen Film eindrücklich noch einmal von ihr selbst gehört. Alles, was ihr lieb war, wurde ihr genommen, entrissen! Margot konnte sich nicht von ihrer Mutter und ihrem Bruder verabschieden. Was der 21-Jährigen von ihrer Mutter blieb, waren – wie eben gesehen – eine Handtasche, ein Adressbuch, eine Bernsteinkette und die Nachricht: „Versuche, dein Leben zu machen.“
Wie unendlich verlassen muss sich die junge Margot damals gefühlt haben. Wie groß wird die Angst der jungen Frau gewesen sein. Doch da waren diese Worte ihrer Mutter. Ihr Auftrag. Ein Auftrag, der Margot Friedländer durch ihr ganzes langes Leben begleitet hat: „Versuche, dein Leben zu machen.“
Die Mutter hatte ihr keine Wahl gelassen. Aber vielleicht hat sie Margot mit ihrem Auftrag die Stärke gegeben, den Mut gegeben, um die nächsten Jahre zu überstehen, zu überleben, ganz auf sich allein gestellt, in ständiger Lebensgefahr. Noch Jahrzehnte später, wenn sie über ihre Mutter sprach, spürten wir ihre Liebe zu ihr und – ja, etwas, das uns schwerfällt zu verstehen – ein tiefes Verständnis dafür, dass ihre Mutter ihren kleinen Bruder beschützen wollte. „Es muss ihr sehr schwergefallen sein, mich allein zurückzulassen“, sagte Margot Friedländer Jahrzehnte danach. Und ich frage mich: War das innere Größe, wenn sie später sagte, sie verdanke es ihrer Mutter, dass sie lebe?
Ja, Margot Friedländer hat überlebt. Sie überlebte die Monate im Versteck. Sie überlebte das Konzentrationslager Theresienstadt. Dort hatte sie Adolf Friedländer wiedergetroffen, den sie noch vom Jüdischen Kulturbund kannte. Sie waren einander zur Stütze geworden. Und an seiner Seite erlebte sie den Einzug der Roten Armee in das Lager. Befreit! Am 8. Mai 1945, dem historischen Tag der Befreiung von der Nazi-Barbarei, der ihnen auch ihre persönliche Freiheit zurückbrachte. Ein Rabbiner traute das Paar noch im Lager.
Doch Europa, das für sie mit so viel Leid verbunden war, diesem Europa wandten sie den Rücken zu und emigrierten in die USA. Im großen jüdischen Kulturzentrum „92nd Street Y“ in Manhattan, in dem ihr Mann stellvertretender Direktor wurde, war auch Margot Friedländer häufig zu Gast. Mehr als 50 Jahre waren sie verheiratet. Es war ihr drittes Leben, wie Margot Friedländer es nannte, ein erfülltes Leben.
Erst nach dem Tod ihres Mannes begann sie zu schreiben, in einem Schreibkurs des jüdischen Kulturzentrums. Die Erinnerungen kamen zurück. Alles, was ihre Seele belastete, brachte sie zu Papier. Und mit den Erinnerungen wurde auch das einst Undenkbare für Margot Friedländer nach und nach denkbar: zurückzukehren in ihre Heimatstadt Berlin. In jenes Berlin, in dem sie gedemütigt, verfolgt, bedroht worden war. Aber Berlin, das war auch die Stadt, in der ihr Menschen geholfen hatten. Das wurde dann die Stadt, in der so viele Jahrzehnte später die Menschen ihr zuhörten, vor allem die jungen Menschen. Die Stadt, in der sie ihre Mission erfüllen konnte.
Diese Geschichte, ihre Geschichte hat Margot Friedländer uns anvertraut. Ich hatte die Freude und Ehre, ihr sehr häufig zu begegnen. Jedes Zusammentreffen mit ihr war etwas ganz Besonderes. Es war ein Glück, mit ihr zu sprechen. Sie verfügte über eine Strahlkraft, die jeden Raum erfüllte. Mit ihrer Zugewandtheit, ihrer großen Liebe zu den Menschen, ihrer Güte zog sie alle in ihren Bann – ob jung oder alt. Dabei war das, was sie zu erzählen hatte, so ungeheuerlich, so unfassbar. Doch sie erzählte nicht von ihrem Schicksal, um uns zu erschrecken, zu verängstigen oder aus Bitterkeit. Im Gegenteil. Sie wollte uns bewahren, davor bewahren, dass solch ein Menschheitsverbrechen wieder geschieht. „Was war, war. Das können wir nicht ändern. Aber es sollte nie, nie, nie wieder passieren.“ So fasste sie es in ihre Worte.
Sie vertraute ihre Geschichte vor allem Euch an, Euch, den jungen und ganz jungen Menschen. Und ich weiß: Sie wäre heute sehr glücklich gewesen, dass Ihr alle gekommen seid.
Ihr, die junge Generation, Ihr lagt ihr am allermeisten am Herzen. Nicht für sich, für Euch war sie unermüdlich unterwegs. Sie besuchte Hunderte von Schulen, sie erreichte Tausende von jungen Menschen. Eure Dankesbriefe bedeuteten ihr am meisten, mehr als die zahlreichen Auszeichnungen, die sie erhielt. Alle Kuscheltiere, die Schüler ihr schenkten, fanden einen Platz in ihrer Wohnung.
Margot Friedländer wollte für jene sprechen, die nicht mehr sprechen können, die nicht überlebt haben. „Ihr habt eine Zukunft, die andere nicht hatten“, sagte sie zu Schülerinnen und Schülern – auch in Erinnerung an ihren geliebten Bruder Ralph. Als er in Auschwitz ermordet wurde, war er erst 17, ein Teenager.
Und Margot Friedländer wollte uns, ihre Zuhörerinnen und Zuhörer, zu Zeugen machen. „Ich bin zurückgekommen, um mit Euch zu sprechen. Euch die Hand zu reichen und Euch zu bitten, dass Ihr die Zeitzeugen sein werdet, die wir nicht mehr lange sein können“, so sagte sie es immer wieder. Das war ihre Hoffnung, ihr Auftrag.
Am heutigen Tag, an dem wir Abschied nehmen von Margot Friedländer, stellt sich diese Frage mit größter Dringlichkeit: Wie erinnern wir uns, wenn es keine Zeitzeugen mehr gibt? Natürlich wird nichts die Shoah-Überlebenden ersetzen können. Sie sind moralische Zeugen, die uns das Unfassbare berichten. Aber ich bin sicher, dass der Gedanke von Margot Friedländer, ihre Lebensgeschichte weiterzugeben und uns damit zu so etwas wie Zweitzeugen zu machen, dass dies ein Modell für die Zukunft ist, für eine neue Form der Erinnerung und der Erinnerungskultur. Aus diesem Gedanken heraus hat sie auch die Margot-Friedländer-Stiftung gegründet – und als erstes wurde der Verein Zweitzeugen mit dem Margot-Friedländer-Preis ausgezeichnet. Wir alle tragen die Erinnerung weiter. Wir entreißen sie dem Vergessen. Wir überprüfen unser eigenes Denken und Handeln, wir stehen ein für die Menschenwürde, die damals Millionen von Menschen abgesprochen wurde.
Margot Friedländer hatte die Gabe, in einfachen, knappen Worten das Ungeheuerliche zu schildern. Und sie machte dabei ganz deutlich, was geschehen kann, wenn zu wenige Bürgerinnen und Bürger gegen Unrecht aufbegehren. Sie wusste, was Menschen einander antun können; was geschieht, wenn Menschen andere Menschen entmenschlichen. Dieses Wissen gab sie weiter – mit eindringlichen Worten: „Es gibt kein christliches Blut, kein jüdisches Blut, kein muslimisches Blut – es gibt nur menschliches Blut, und wir müssen die Menschen respektieren.“
Sehr nachdrücklich machte sie klar, wie ernst es ihr damit war. Mit unendlicher Beharrlichkeit, einer scheinbar unerschöpflichen Energie und einer – trotz allem – nie versiegenden Zuversicht setzte sich Margot Friedländer für Menschlichkeit und Toleranz ein: „Seid Menschen!“ – das war ihr Leitmotiv. Für ihr überwältigendes Engagement wurde sie vielfach ausgezeichnet. Zuletzt durfte ich ihr das Große Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland verleihen.
Es gehört zur traurigen Wirklichkeit, sagen zu müssen: Die jüngsten Veränderungen in unserer Gesellschaft beunruhigten Margot Friedländer in ihren letzten Lebensjahren zutiefst: das Erstarken des Extremismus auch in den Parlamenten, die Polarisierung der Gesellschaft und der Antisemitismus, der seit dem Hamas-Überfall auf Israel am 7. Oktober 2023 in Deutschland noch sichtbarer und stärker geworden ist. Ob der Anschlag auf die Synagoge in der Berliner Brunnenstraße, ob Angriffe auf Menschen mit Kippa oder das besorgniserregende Anwachsen antisemitischer Straftaten – all das nahm sie sehr aufmerksam wahr. Besorgt sagte sie: „So hat es ja damals auch angefangen.“ Eine Warnung, die bestehen bleibt. Eine bleibende Mahnung, eine Verpflichtung.
Margot Friedländer war sehr bewusst, dass ihre Zeit endlich war. Am 9. Mai 2025 ist sie gestorben. Mit 103 Jahren. Fast auf den Tag genau achtzig Jahre nach ihrer Befreiung aus Theresienstadt.
Es blieb bei Margot Friedländer stets eine Sehnsucht, einmal von Herzen glücklich zu sein. Die Erinnerungen an ihre Familie, an ihre Mutter, an ihren kleinen Bruder, dieser unendlich große Schmerz, die Schuldgefühle, weil sie überlebt hatte – darüber hat sie gesprochen, und all das hat sie ihr Leben lang begleitet. Es hat sie nicht zur Ruhe kommen lassen. Dass solche Verbrechen nie wieder geschehen – das hat sie angetrieben. Das hat sie uns allen, vor allem Euch, den jungen Menschen, mitgegeben.
Margot Friedländer hat den Stab weitergereicht. Jetzt ist es an uns. Es ist an uns, die Erinnerung zu bewahren und weiterzugeben. Es ist an uns, in ihrem Sinne weiterzuarbeiten – und zu kämpfen für Toleranz, für Demokratie, für Menschlichkeit.
Margot ist von uns gegangen. Wir werden nie wieder ihren warmen Blick spüren. Wir werden nie wieder mit ihr lachen oder mit ihr weinen. Wir werden nie ihre Worte vergessen: „Seid Menschen!“
Und: Ja, das versprechen wir ihr. Wir tun es für unsere Kinder und Enkel. Und wir tun es für Dich, Margot. In unseren Herzen lebst Du weiter. Für immer.
Fotoquelle: TP Presseagentur Berlin