Maßregelvollzug muss sich auf Unterbringungsrecht einstellen.

Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit kann den Staat dazu zwingen, einem seit über 30 Jahren im geschlossenen Maßregelvollzug Untergebrachten Lockerungen – vorübergehende Beurlaubung in einem geschlossenen Heim – zu gewähren und die Lockerungen bei erfolgreicher Erprobung auszuweiten; dies alles mit dem Ziel einer möglichst baldigen Erledigung der Unterbringung oder ihrer Aussetzung zur Bewährung. Darauf hat der 4. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm bei seiner Beschlussfassung vom 07.02.2017 in einer Unterbringungssache hingewiesen. Mit dem Beschluss hat der  4. Strafsenat eine erstinstanzliche Entscheidung der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Paderborn vom 08.07.2016 bestätigt.

Das Landgericht Bielefeld verurteilte den im Jahre 1952 geborenen Betroffenen im Jahre 1985 wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in drei Fällen zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten. Gleichzeitig ordnete es die Unterbringung des Betroffenen in einem psychiatrischen Krankenhaus an. In dem Urteil (dem schwerpunktmäßig Taten des sog. „Schenkelverkehrs“ ohne Anwendung von Gewalt zu Grunde lagen) gelangte die Strafkammer zu der Feststellung, dass der Betroffene infolge einer Intelligenzminderung nicht in der Lage sei, seinem Triebverlangen die erforderlichen rationalen Hemmungen entgegenzusetzen, und dass mit hoher Wahrscheinlichkeit weiterhin mit sexuellen Übergriffen des Betroffenen auf Kinder zu rechnen sei.

Seit dem Jahr 1985 befindet sich der Betroffene im geschlossenen Maßregelvollzug. Die Fortdauer der Unterbringung wurde gerichtlich jährlich überprüft und angeordnet, zuletzt durch die zuständige Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Paderborn im Juli 2016. Der Betroffene stelle, so die Strafvollstreckungskammer bei ihrer letzten Beschlussfassung, nach wie vor eine Gefahr für Kinder dar. Ohne feste Strukturen gehe von ihm ein unkalkulierbares Risiko neuer, einschlägiger pädophiler Taten aus. Es müsse zunächst abgewartet werden, inwieweit eine – bislang nicht vorhandene – Bereitschaft des Betroffenen, in ein Wohnheim zu ziehen, dazu führe, dass für ihn eine Rehabilitationsperspektive erarbeitet werden könne.

Die vom Betroffenen gegen die Entscheidung der Strafvollstreckungskammer eingelegte Beschwerde ist erfolglos geblieben. Nach Anhörung der Verfahrensbeteiligten und eines externen Sachverständigen hat der 4. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm die Beschwerde als unbegründet verworfen.

Derzeit sei, so der Senat, die Fortdauer der Unterbringung des Betroffenen anzuordnen.

In seiner Entscheidung geht der Senat geht ausführlich auf die Frage ein, ob die Unterbringung aufgrund der zum 01.08.2016 in Kraft getretenen Neuregelung der einschlägigen Vorschrift des § 67d Abs. 6 Strafgesetzbuch (StGB) durch das Gesetz zur Novellierung des Rechts der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus für erledigt zu erklären ist.

Diese Frage sei, so der Senat, zu verneinen. Nach der neuen Rechtslage sei eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, die bereits mindestens zehn Jahre andauere, (zwingend) dann für erledigt zu erklären, wenn nicht die Gefahr bestehe, dass der Untergebrachte erhebliche Straftaten begehen werde, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden. Diese Gefahr sei hier positiv festzustellen: Neben der Intelligenzminderung bestehe bei dem Betroffenen eine Störung der Sexualpräferenz im Sinne einer Pädophilie. Ohne die ihn unterstützenden und begrenzenden Strukturen einer Unterbringung sei mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass der Betroffene erneut Kontakt zu Kindern aufnehme und es zu sexuellen Übergriffen komme, wie sie der Betroffene vor der Unterbringung begangen habe. Die Taten des sog. „Schenkelverkehrs“ seien als Taten zu bewerten, durch welche die Opfer jedenfalls seelisch schwer geschädigt werden.

Allerdings nähere sich die Unterbringung des Betroffenen der Unverhältnismäßigkeit nach der allgemeinen Verhältnismäßigkeitsregelung in § 67d Abs. 6 S. 1 StGB.

Die zum 01.08.2016 in Kraft getretene Neuregelung habe die Rechtslage insoweit nicht grundlegend geändert. So sei die allgemeine Verhältnismäßigkeitsregelung durch die Schaffung der Regelunverhältnismäßigkeit nach sechs Jahren (gem. § 67d Abs. 6 S. 2 StGB) bzw. den strengeren Fortdauervoraussetzungen ab zehn Jahren Maßregelvollstreckung (gem. § 67d Abs. 6 S. 3, Abs. 3 S. 1 StGB) nicht obsolet geworden. Vielmehr zeige die gesetzliche Systematik, dass die weiteren Verhältnismäßigkeitsregelungen nur konkretisierte Unterfälle einer Erledigung der Unterbringung wegen allgemeiner Unverhältnismäßigkeit darstellten. Damit gelte der schon vor der gesetzlichen Novellierung bestehende Grundsatz fort, dass die Voraussetzungen für die Verhältnismäßigkeit des Freiheitsentzugs umso strenger seien, je länger die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus andauere. Das Freiheitsgrundrecht gewinne – wegen des sich durch eine fortdauernde Unterbringungsdauer verschärfenden Eingriffs – immer stärkeres Gewicht.

Gemessen an diesen Grundsätzen nähere sich die nunmehr rund 32-jährige Unterbringung des Betroffenen der Unverhältnismäßigkeit. Zwar gehe von ihm die Gefahr nicht unerheblicher Sexualdelikte eines mittleren Schweregrades zulasten besonders verletzlicher Opfer aus. Allerdings sei er nunmehr bereits mehr als doppelt so lange freiheitsentziehend untergebracht als ein voll schuldfähiger Täter für die begangenen Taten im Höchstfalle habe bestraft werden können. Der Betroffene habe rund die Hälfte seines bisherigen, bereits fortgeschrittenen Lebens in Freiheitsentzug verbracht.

Auf eine Entlassung aus dem Maßregelvollzug sei der Betroffene derzeit allerdings nicht vorbereitet. Der Umstand, dass der Betroffene im Falle einer unvorbereiteten Entlassung mit hoher Wahrscheinlichkeit mit den Anlasstaten vergleichbare Sexualdelikte begehen könnte, hindere den Senat daran, die weitere Unterbringung wegen Unverhältnismäßigkeit bereits jetzt für erledigt zu erklären.

Die sich abzeichnende Unverhältnismäßigkeit einer weiteren Unterbringung veranlasste den Senat allerdings zu folgenden Hinweisen:

Dem Betroffenen seien nunmehr unverzüglich Lockerungen (vorübergehende Beurlaubung in einem geschlossenen Heim) zu gewähren, die bei erfolgreicher Erprobung auszuweiten seien. Dem Staat obliege es, die Gefahr weiterer Straftaten durch einen Untergebrachten mithilfe eines Überleitungsprozesses zu verringern. Auch beim Betroffenen hielten es die behandelnde Klinik sowie der Sachverständige grundsätzlich für vertretbar, ihn in ein geschlossenes Heim zu beurlauben, weil dort sein Rückfallrisiko durch flankierende Maßnahmen ausreichend reduziert werden könne. Insoweit sei nicht von entscheidender Bedeutung, dass der Betroffene dieser Unterbringung bislang nicht uneingeschränkt zugestimmt habe. Er sei aufgrund seiner eingeschränkten intellektuellen Fähigkeiten nicht in der Lage, die Situation in einem geschlossenen Heim ausreichend einzuschätzen. Ihm müsse aber die Möglichkeit gegeben werden, durch ein kurzfristiges Probewohnen seine bisherigen negativen Vorstellungen und Befürchtungen durch konkrete Erfahrungen in dem potentiellen neuen Lebensumfeld zu korrigieren.

Rechtskräftiger Beschluss des 4. Strafsenats des Oberlandesgerichts Hamm vom 07.02.2017 (4 Ws 272/16)

Hinweis:

Seit der zum 01.08.2016 in Kraft getretenen Novellierung des Rechts der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus lauten § 67d Abs. 6 und Abs. 3 Satz 1 Strafgesetzbuch wie folgt:

(6) 1 Stellt das Gericht nach Beginn der Vollstreckung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus fest, dass die Voraussetzungen der Maßregel nicht mehr vorliegen oder die weitere Vollstreckung der Maßregel unverhältnismäßig wäre, so erklärt es sie für erledigt. 2 Dauert die Unterbringung sechs Jahre, ist ihre Fortdauer in der Regel nicht mehr verhältnismäßig, wenn nicht die Gefahr besteht, dass der Untergebrachte infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden oder in die Gefahr einer schweren körperlichen oder seelischen Schädigung gebracht werden. 3 Sind zehn Jahre der Unterbringung vollzogen, gilt Absatz 3 Satz 1 entsprechend. 4 Mit der Entlassung aus dem Vollzug der Unterbringung tritt Führungsaufsicht ein. 5 Das Gericht ordnet den Nichteintritt der Führungsaufsicht an, wenn zu erwarten ist, dass der Betroffene auch ohne sie keine Straftaten mehr begehen wird.

(3) 1 Sind zehn Jahre der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung vollzogen worden, so erklärt das Gericht die Maßregel für erledigt, wenn nicht die Gefahr besteht, dass der Untergebrachte erhebliche Straftaten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden.

5 Antworten

  1. ZUTREFFEND IST: „Dem Betroffenen seien nunmehr unverzüglich Lockerungen (vorübergehende Beurlaubung in einem geschlossenen Heim) zu gewähren, die bei erfolgreicher Erprobung auszuweiten seien. Dem Staat obliege es, die Gefahr weiterer Straftaten durch einen Untergebrachten mithilfe eines Überleitungsprozesses zu verringern …. Ihm müsse aber die Möglichkeit gegeben werden, durch ein kurzfristiges Probewohnen seine bisherigen negativen Vorstellungen und Befürchtungen durch konkrete Erfahrungen in dem potentiellen neuen Lebensumfeld zu korrigieren.“ FRAGLICH BLEIBT ABER hinsichtlich der Frage der Verhältnismäßigkeit im Sinne der Neuregelung in § 67d VI StGB, ob entgegenstehende Gerichtsentscheidung der Strafvollstreckungskammern (= Ablehnung der Entlassung des Betroffenen bei z. B. jahrzehntelangem Forensik-Aufenthalt!) – nach OLG-Entscheidungen sodann in II. Instanz – letztendlich auch Verfassungskonformität erlangen. Ich habe gewisse Bedenken sogar wegen eines möglichen Verstosses gegen die EMRK! Fachanwalt für Strafrecht Helfried Roubicek, http://www.strafverteidiger-ostsee.de

  2. EMRK und Verhältnismäßigkeit:
    Es gibt leider Typen wie beispielsweise die Serienmörder Frank Schmökel, Thomas Rung, Thomas Holst u. a., bei denen auch keine dreißig Jahre Maßregevollzug helfen und wo die st. Rsp. der EMRK und die Verhältnißmäßigkeit keine Anwendungen finden können. Die kann man definitiv nicht auf die Menschheit loslassen. Auch nicht kastriert und mit ’ner Fußfessel!
    Es wird immer eine Einzelfallentscheidung sein, bei der sich die, die zu entscheiden haben (StVK), nicht an die st. Rsp. halten, sondern sich an den Gutachten orientieren müssen.

  3. Da muss ich widersprechen. Die genannten Personen mal außen vorgelassen: Hier im vorliegenden Fall, den es zu berücksichtigen gilt, ist die Verhältnismäigkeit total mit Füßen getreten worden. Für die Tat gab’s 1 1/2 Jahre Knast und dann über dreißig Jahre Maßregelvollzug. Das ist doch wohl eine grasse Verletzung aller Rechte, die es in dieser Welt noch gibt. Wer überprüft denn nun die „Gut“-achter, die solch eine Schande zulassen? In den über 30 Jahren, in denen dieser Typ im Maßregelvollzug haust, hätte schon bedeutend eher alles in die Wege geleitet werden müssen, ihn zu „therapieren“. Da hätte die StVK schon bedeutend eher auf die Barrikaden gehen müssen. Hält sich das OLG Hamm nun für weise, ihn in ein geschlossenenes Heim „freizulassen“?

    • Sagt doch der Mann, dass es immer eine Einzelfallentscheidung ist, bei der es gegenständlich doch nicht darum geht, wie lange der Kranke untherapiert in der Maßregel verbrachte, sondern darum, dass er immer noch eine Gefahr für die Allgemeinheit ist. Die Versäumnisse der Maßregel sind doch kein Grund, den Typ nun auf die Menscheit loszulassen. Es kommt doch auch keiner auf die Idee einen Infektiösen aus der Quarantäne zu entlassen, nur weil das Personal vergessen hat, der verschriebenen Medikation nachzukommen.

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