Mit Gebärdensprachdolmetscherin zur Museumsführung.

Sozialgericht Berlin, Urteil vom 17. Oktober 2025 (S 195 SO 2156/23): Gehörlose Menschen haben nicht nur bei besonderen Anlässen einen Anspruch auf Hilfen durch Gebärdensprachdolmetscherinnen und -dolmetscher, sondern auch bei allgemeinen Erledigungen des Alltags, zum Beispiel kulturellen Veranstaltungen, erforderlichen Vorsprachen bei Banken oder Gesprächen mit Ärztinnen und Ärzten anlässlich der Erkrankung der Mutter.

Die 1971 geborene berufstätige Klägerin aus Charlottenburg-Wilmersdorf ist gehörlos. Im April 2023 beantragte sie beim Sozialamt ihres Bezirkes Leistungen zur Teilhabe von Menschen mit Behinderungen, konkret für Gebärdensprachdolmetscherdienste. Unter anderem trug sie vor, hierauf nicht nur bei Arztbesuchen und Behördengängen angewiesen zu sein, sondern zum Beispiel auch bei Beratungsgesprächen auf der Bank oder bei der Teilnahme an Führungen oder Vorlesungen.

Das beklagte Sozialamt lehnte den Antrag im Juli 2023 mit der Begründung ab, dass Leistungen zur Förderung der Verständigung nur aus besonderem Anlass erbracht würden.

Den hiergegen eingelegten Widerspruch wies der Beklagte als unbegründet zurück.

Im November 2023 erhob die Klägerin Klage vor dem Sozialgericht Berlin. Sie listete eine Reihe von Veranstaltungen auf, bei denen sie zwischenzeitlich die Dienste einer Dolmetscherin in Anspruch habe nehmen müssen, so zum Beispiel bei Führungen im Humboldt-Forum und im ehemaligen Flughafen Tegel, bei einer Beratung ihres Mietervereins, aber auch bei Telefonaten und Gesprächen mit dem Krankenhaus anlässlich der Erkrankung ihrer Mutter. Für die bei derartigen Anlässen entstandenen und zukünftig entstehenden Dolmetscherkosten müsse der Beklagte aufkommen.

Mit Urteil vom 17. Oktober 2025 hat die 195. Kammer des Sozialgerichts Berlin (in der Besetzung mit einem Berufsrichter und zwei ehrenamtlichen Richterinnen) der Klage nach mündlicher Verhandlung stattgegeben. Die Klägerin habe nicht nur aus besonderem Anlass Anspruch auf Gebärdensprachdolmetscherleistungen, sondern auch im Alltag, und zwar im angemessenen Umfang von 8 Stunden im Monat. Die Dolmetscherdienste seien notwendig, um der Klägerin einen selbstbestimmten Alltag und die Gestaltung sozialer Beziehungen und Teilhabe am gemeinschaftlichen und kulturellen Leben zu ermöglichen. Die Klägerin habe insoweit in der mündlichen Verhandlung eindrücklich die ihr widerfahrene Alltagsdiskriminierung geschildert. Immer wieder komme sie in Situationen, in denen sie ohne Hilfe einer Dolmetscherin oder eines Dolmetschers an Grenzen stoße oder nicht ernst genommen werde.

Der Anspruch ergebe sich aus § 78 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch – SGB IX (Rehabilitation von Menschen mit Behinderungen). Danach würden Leistungen für Assistenz zur selbstbestimmten und eigenständigen Bewältigung des Alltags erbracht. Diese beinhalteten auch die Verständigung mit der Umwelt bei allgemeinen Erledigungen des Alltags.

Der Umstand, dass § 82 SGB IX ausdrücklich Hilfen durch Gebärdendolmetscher vorsehe, um Berechtigten mit Hör- und Sprachbehinderungen die Verständigung mit der Umwelt aus besonderem Anlass zu ermöglichen, schließe die Anwendung von § 78 – anders als der Beklagte meint – nicht aus. Dies ergebe sich schon aus der Gesetzesbegründung. Der Gesetzgeber selbst habe Gebärdensprachdolmetscherdienste nicht nur für besondere Anlässe vorgesehen, sondern ausgeführt, dass für die Bewältigung des Alltags auch Leistungen der Assistenz nach § 78 in Betracht kommen. Ebenso habe das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg gemeint, dass beide Vorschriften nebeneinander anwendbar seien.

Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Es kann mit der Berufung zum Landessozialgericht Berlin-Brandenburg mit Sitz in Potsdam angegriffen werden.

Die streitentscheidenden Normen lauten:

§ 78 Abs. 1 SGB IX: Zur selbstbestimmten und eigenständigen Bewältigung des Alltages einschließlich der Tagesstrukturierung werden Leistungen für Assistenz erbracht. Sie umfassen insbesondere Leistungen für die allgemeinen Erledigungen des Alltags wie die Haushaltsführung, die Gestaltung sozialer Beziehungen, die persönliche Lebensplanung, die Teilhabe am gemeinschaftlichen und kulturellen Leben, die Freizeitgestaltung einschließlich sportlicher Aktivitäten sowie die Sicherstellung der Wirksamkeit der ärztlichen und ärztlich verordneten Leistungen. Sie beinhalten die Verständigung mit der Umwelt in diesen Bereichen.

§ 82 SGB IX: Leistungen zur Förderung der Verständigung werden erbracht, um Leistungsberechtigten mit Hör- und Sprachbehinderungen die Verständigung mit der Umwelt aus besonderem Anlass zu ermöglichen oder zu erleichtern. Die Leistungen umfassen insbesondere Hilfen durch Gebärdensprachdolmetscher und andere geeignete Kommunikationshilfen…

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