Ohne Mauer wäre das Regime zusammengekracht.

TP-Interview mit dem ehemaligen ARD-Korrespondenten in der DDR, Lothar Loewe.

TP: Herr Loewe, sitzen hier im Politbüro-Prozeß die Verantwortlichen dafür auf der Anklagebank, daß in der DDR, wie Sie es mal formuliert haben, die Menschen abgeknallt wurden wie die Hasen?

Loewe: Ja sicher, hier wird versucht juristisch festzustellen, ob die Angehörigen des höchsten Entscheidungsgremiums der DDR dafür juristisch verantwortlich sind, und ob sie dafür bestraft werden können. Daß sie moralisch und politisch dafür verantwortlich sind, darüber besteht, glaube ich, für niemanden ein Zweifel.

TP: Sind Sie, ohne jetzt dem Urteil vorgreifen zu wollen, auch der Meinung, daß sie strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen sind bzw. daß ein Schuldspruch über sie zu fällen ist?

Loewe: Im Falle Krenz wohl ganz sicher aus seiner Rolle des Mitgliedes und teilweise oder zeitweise auch Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates. Im Falle Schabowski, soweit ich das sehe, ist die Frage, in welchem Umfang er als Bezirksvorsitzender der SED Großberlin und eines Grenzbezirkes, involviert war. Das vermag ich nicht zu sagen. Als Chefredakteur des Neuen Deutschland kann man ihn sicher juristisch nicht verantwortlich halten, wohl aber natürlich politisch und moralisch, denn dieses Zentralorgan hat ja die Mauermorde und die Mauerschüsse gedeckt.

TP: Wie beurteilen Sie die Rolle Kleibers, nachdem Sie heute das Plädoyer seines Verteidigers Dr. Studier gehört haben?

Loewe: Das ist ein sehr eindrucksvolles Plädoyer gewesen von Herrn Studier und für mich war immer klar, die Verantwortlichkeit von Kleiber justiziabel festzustellen, ist sicherlich schwierig, weil Herr Kleiber natürlich ein Mann war, der vorwiegend mit Wirtschaftsfragen beschäftigt war. Ich fand die Ausführung von Herrn Studier schon sehr interessant.

TP: Glauben Sie denn, daß dieses Plädoyer Eindruck auf das Gericht machen wird und Herr Kleiber mit einem „blauen Auge“ davonkommen wird?

Loewe: Das vermag ich nicht zu sagen. Ich bin ja kein Jurist und kann das nicht beurteilen. Das muß man abwarten, aber daß ein Urteil für Herrn Kleiber nicht die gleiche Schärfe haben wird, wie das für Herrn Krenz, davon kann man wohl ausgehen.

TP: Muß sich ein Urteil zwischen Herrn Kleiber und Herrn Krenz deutlich unterscheiden?

Loewe: Ich glaube schon, daß das eine ganz andere Qualität hat. Kleibers Tätigkeit hatte auch eine ganz andere Qualität – auch politisch und moralisch, würde ich sagen, als die von Krenz. Wissen Sie, bei Krenz darf man auch nie vergessen, daß Krenz in seiner Eigenschaft als Vorsitzender der FDJ einen Teil der deutschen Jugend oder den Teil der deutschen Jugend, der in der DDR zu leben hatte, wirklich ständig aufgehetzt hat zu einem unversöhnlichen Haß gegen die deutsche Jugend, die im westlichen Teil des Landes gelebt hat. Das ist die große historische und politische und moralische Sünde von Herrn Krenz. Damit hat er sich eigentlich gerichtet.

TP: Sie haben ja auch die Aussage von Egon Bahr im Mai gehört. Wie beurteilen Sie überhaupt Egon Bahrs Aussage in diesem Prozeß und welche Auswirkungen könnte sie auf das Urteil haben?

Loewe: Für mich war das zunächst einmal eine historisch außerordentlich interessante Aussage. Eine historische Beurteilung seiner Grundfeststellung, daß ohne die Mauer die DDR nicht hätte existieren können, ist ebenso richtig, wie die Feststellung, die ich immer gepflogen habe, daß ohne die Anwesenheit der sowjetischen Truppen in der DDR die DDR überhaupt keine Existenzberechtigung gehabt hätte – sie hätte sich aufgelöst. Sie hätte keine Sekunde existiert ohne die Anwesenheit der sowjetischen Besatzungsmacht.

TP: Bietet das eine Rechtfertigung dafür, was an der Grenze passiert ist, daß die DDR ohne die Grenze nicht mehr lebensfähig gewesen wäre?

Loewe: Ja, sicher hat das eine Rolle gespielt. Dennoch hätte man
sich natürlich auch humanere Grenzsicherungsmaßnahmen vorstellen können, selbst im Rahmen diese Unrechtsregimes. Darüber gibt es für mich keinen Zweifel. Der Schießbefehl und die Minenfelder und die Selbstschußanlagen waren die grausamste Form der Grenzüberwachung. Es gab wohl kaum eine Grenze in der Welt, die in dieser Form nicht nur gesichert, sondern auch in dieser grausamen Form Menschen daran gehindert wurden, diese Grenze zu überschreiten.

TP: Hätte die DDR die Souveränität gehabt, dieses Grenzregime zu mildern?

Loewe: Das hatte sie offenbar. Die DDR hatte offenbar diese Befugnis! Denn wenn Sie daran denken: erstens wurde zu bestimmten Anlässen der Schießbefehl außer Kraft gesetzt – also zumindest in Berlin, wenn bestimmte ausländische Besucher im Lande waren. Zweitens: die Beseitigung der Minen, die Beseitigung der Minensperren und der Selbstschußanlagen sind doch wohl eindeutig erfolgt, ohne ausdrücklich die Zustimmung der Sowjetunion einzuholen. Zwar hat die Sowjetunion das nicht gerne gesehen, aber es ist keine Frage: Hier hat die DDR gehandelt und auch im gewissen Rahmen selbständig.

TP: Würden Sie heute den Satz wiederholen: In der DDR werden Leute abgeknallt wie die Hasen?

Loewe: Na, heute werden sie ja nicht mehr abgeknallt. Der Satz, ja natürlich, der Satz ist nach wie vor richtig. Die Menschen sind abgeschossen worden wie die Hasen.

TP: Hätten einzelne Politbüro-Mitglieder die Möglichkeit gehabt, etwas zu sagen und hätte das auch etwas bewirkt, wenn sie etwas gesagt hätten gegen das Grenzregime?

Loewe: Einzelne sicher nicht. Aber wenn Mielke, Hoffmann und Keßler bei Honecker diese Frage zur Diskussion gestellt hätten – was sicher absurd war, es anzunehmen -, aber wenn es das gegeben hätte, hätte das vielleicht doch eine gewisse Wirkung gehabt.

TP: Hätte z.B. Herr Kleiber aufstehen und sagen können: Was ist das hier für ein Mist. Schafft mal die Minen ab oder wirkt auf die Soldaten ein, daß sie nicht mehr schießen.

Loewe: Na, das hat ja Schabowski wohl schon mal gesagt – den hätten sie sofort im Politbüro für verrückt erklärt, hätten ihn wahrscheinlich in eine Nervenheilanstalt gebracht. Das wäre sehr unrealistisch gewesen. So hätte man das sicher nicht machen können, aber es hat darüber gar keine Diskussion gegeben. Das war eben Tabu, ein absolutes Tabu! Und insofern ist sicher: Honecker, auch Ulbricht, sind die entscheidenden Figuren gewesen, dieses System einzuführen. Ich meine, wir wissen, ohne den Bau der Mauer 1961 wäre diese Regime zusammengekracht. Das wurde nur zusammengehalten, wie gesagt, durch die Anwesenheit der sowjetischen Truppen und durch die rigorose Abschottung von 17 Millionen Menschen hinter dieser Mauer. Sonst wäre der Laden zusammengekracht.

TP: Also es ist richtig, was der Verteidiger von Herrn Kleiber gesagt hat, daß das Nicht-Eintreten ursächlich gewesen sein muß, daß es Tote und Verletzte an Mauer und Grenze gegeben hat – ein Eintreten von Einzelnen für die Abschaffung des Grenzregimes keinen Zweck gehabt hätte?

Loewe: Das war sicherlich ein aussichtsloses Unterfangen. Insofern haben auch Egon Bahr und Schabowski schon recht mit ihren Äußerungen.

Interview: Dietmar Jochum, TP Berlin, 1997

Foto/Bildquelle: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/8/8c/Lothar-loewe_2009_02.jpg

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