Politbüromitglieder waren weder willenlos noch handlungsunfähig.

TP-Interview mit dem SPD-Bundestagsabgeordneten Stephan Hilsberg.

TP: Herr Hilsberg, Sie schreiben in den Nachbemerkungen zu meinen beiden ersten Dokumentationen zum Politbüroprozeß folgendes: Die Verantwortlichen für die Tötungspraxis an der Mauer mit rechtsstaatlichen Mitteln einer gerechten Strafe zuzuführen, wäre ein Akt, der zum Rechtsfrieden, zur inneren Einheit und dem Aufbau einer Gesellschaft mündiger und verantwortungsbereiter Bürger beitragen würde. In der Überschrift heißt es dagegen: Rückwirkungsverbot darf keine Anwendung finden. Ich sehe hier einen gewaltigen Widerspruch.

Hilsberg: Ich sehe überhaupt keinen Widerspruch. Man muß feststellen, daß die bundesdeutsche Justiz in vielen Fällen der justitiellen Behandlung von DDR-Unrecht und der dafür Verantwortlichen gewaltige Defizite hinterlassen hat. Sie ist mit ihren Urteilen dem Unrecht, das in der DDR Alltag war, nicht gerecht geworden. Dieser Weg war so nicht zwangsläufig.
Wir stellen fest, daß höchstrichterliche Urteile der juristischen und politischen Wirklichkeit in der DDR nicht gerecht geworden sind, obwohl sie es hätten können. Ein Beispiel ist jenes BGH-Urteil, das Menschenrechtsverletzungen nur dort unter Strafe stellt, wo sie offensichtlich und in schwerwiegenden Fällen erfolgt sind. Das führt heute dazu, daß lediglich noch Exzeßtaten verurteilt werden können, während beispielsweise solche „Kleinigkeiten“ wie Spitzeldienste – die dazu führten, daß Leute zwei Jahre in den Knast kamen wegen angeblich versuchter Republikflucht – heute noch freigesprochen werden. Dies halte ich für einen Skandal, den man nicht auf sich beruhen lassen darf. Und das führt jetzt zu einem Kern des Übels, der nicht erst seit heute besteht, sondern die bundesdeutsche Justiz von Anfang an begleitet. Sie hat niemals nachvollzogen, was die Europäische Völkergemeinschaft in der Europäischen Menschenrechtskonvention festgestellt hat, nämlich daß das Rückwirkungsverbot nicht uneingeschränkt zu gelten habe. In der Konvention heißt es: Das Rückwirkungsverbot müsse dort eingeschränkt werden, wo nationales Recht sich in offenkundigem Gegensatz zu den allgemein international anerkannten Rechtsgrundsätzen befindet.
Mit jener Formulierung vollzieht die Europäische Völkergemeinschaft gewissermaßen die Lehren aus dem NS-Unrecht nach. Und das Problem bei diesem NS-Unrecht wie auch bei dem SED-Unrecht besteht ja darin, daß hier das Unrecht im Gewande des Rechts daherkam. Das Politbüro selber hat an höchster Stelle die Unrechtsgesetze, die politische Strafjustiz zu verantworten. Und sie werden keine Gesetze gemacht haben, mit denen sie nachträglich zu bestrafen sind. Sie befinden sich damit aber offenkundig im Widerspruch zu den allgemein anerkannten Rechtsnormen. Und nun ist der Fall der, daß sich die Mitglieder des Politbüros heute auf das strikte Rückwirkungsverbot, wie es bei uns im Grundgesetz, Artikel 103 Absatz 2, formuliert ist, berufen können. Da dieses Rückwirkungsverbot strikt ist, betrifft es gleichermaßen Rechtssysteme wie Unrechtssysteme. In Rechtssystemen, in einem klaren Rechtsstaat hat ein solcher Rechtsgrundsatz große Notwendigkeit. Er muß in jeder Hinsicht verteidigt werden, er ist ein ganz wertvolles Rechtsgut. Bei Unrechtssystemen verkehrt sich dieser Rechtsgrundsatz in sein Gegenteil. Er führt eigentlich zur Pervertierung unseres eigenen Rechtsstaates. Und deshalb muß die Bundesrepublik – so meine ich, und da bin ich nicht alleine – diesen Weg der Rechtsprechung verlassen; sie muß den eigenen Sonderweg verlassen und den Prinzipien der Europäischen Völkergemeinschaft folgen.

TP: Aber ich würde sagen: Durch Gesetz.
Der Radbruchschen Theorie, die ja das Rückwirkungsverbot relativiert, kann ich eigentlich persönlich auch viel Sympathie abgewinnen. Insgeheim sage ich mir auch: So müßte es sein. Damit bekäme man alles in den Griff, wenn uns einer mit Geboten und Verboten tyrannisieren möchte und sich dann darauf beruft, es war ja alles Recht und Gesetz.
Aber verlassen wir mit Theorien nicht den rechtsstaatlichen Boden, der Rechtssicherheit garantiert und nur unter Strafe stellt, was vorher, beim Begehen einer Tat, auch mit Strafe bedroht war. Warum gibt man sich im Bundestag nicht mal einen Ruck und macht zum Gesetz, was jetzt noch bloße Theorieanwendung ist?

Hilsberg: Nun lassen wir mal das Wortspiel „Gesetz“ und „Rechtsstaatlichkeit“. Warum es sich hier handelt, ist meines Erachtens die Weiterentwicklung des Rechtsstaates. Der wird so, wie er zur Zeit besteht, der Bewältigung der beiden Unrechtssysteme nicht gerecht. In der Tat ist es richtig: Was die Bundesrepublik tun müßte, wäre einzig und allein die Aufhebung jener Vorbehaltsklausel zur Europäischen Menschenrechtskonvention; denn 1952, als die Bundesrepublik die Europäische Menschenrechtskonvention unterzeichnet hat, machte sie mit dieser Vorbehaltsklausel deutlich, daß für sie die Relativierung, wie sie in der Europäischen Menschenrechtskonvention zu finden ist, nicht in Frage kommt.
Für den Fall, daß diese Vorbehaltsklausel aufgehoben wird, stünde als nächster Akt sofort die Änderung unseres Grundgesetzes an. Und hier müßte eine Formel hinein, wie wir sie bereits in der Europäischen Menschenrechtskonvention finden. Völkerrecht ist immer höher als nationales Recht, das heißt, bei Aufhebung der Vorbehaltsklausel kommt es zu einem Konflikt zwischen Völkerrecht und nationalem Recht. Und um diesen zu beseitigen, muß das Grundgesetz geändert werden. Dies ergibt sich im übrigen auch aus dem vorbehaltlosen Beitritt der Bundesrepublik zum internationalen Pakt für bürgerliche und politische Rechte, welcher ebenfalls eine Relativierung des Rückwirkungsverbotes enthält. Das wären die rechtlichen Schritte. Die Vorbehaltsklausel aufheben, ist ein rechtlicher Akt, den bereits die Bundesregierung alleine durchführen kann. Wegen der großen Bedeutung dieser Sache ist es völlig legitim, daß auch der Bundestag die Bundesregierung dazu auffordern kann. Täte der Bundestag dieses, würde sich die Bundesregierung wohl schwerlich dem entziehen können. Aber um ein formales Gesetz handelt es sich an dieser Stelle nicht. Wenn es an die Änderung des Grundgesetzes geht, ist das in der Tat nur mit einem Gesetz durchzuführen, das sowohl im Bundestag als auch im Bundesrat die entsprechende Mehrheit finden muß.

TP: Aber müßte man, solange das nicht geschehen ist, konsequenterweise diese Machthaber, die jetzt wegen der Toten und Verletzten an Grenze und Mauer vor Gericht stehen, nicht laufenlassen, um mit dem Rechtsstaat und seinen Prinzipien, wie wir sie nun mal eben haben, nicht in Konflikt zu geraten?

Hilsberg: Dieser Meinung bin ich nicht. Die Argumentation der Staatsanwaltschaft bei den jetzigen Prozessen läuft darauf hinaus, daß den Angeklagten vorgeworfen wird, bewußt und willentlich offensichtlich schwere Menschenrechtsverletzungen begangen zu haben. Und die sind auch nach heutiger Spruchpraxis strafbar. Hier kommt es lediglich darauf an, nachzuweisen, daß – in welcher Form auch immer – ein Schießbefehl existiert hat, der auch zur Anwendung gekommen ist. Ich halte diese Argumentation für legitim und auch für möglich. Ich bin aber zweitens der Meinung, daß dies noch nicht alles ist, was zur Bewältigung unserer beiden Diktaturen getan werden muß; um hier die Sache sehr zu vereinfachen, wäre es eben notwendig, die Vorbehaltsklausel der Europäischen Menschenrechtskonvention aufzuheben.

TP: Verlassen wir jetzt mal diese Rechtstheorien. Kommen wir mal zu ganz praktischen politischen Themen.
Hans Modrow sagt, durch Prozesse, wie sie im Moment geführt werden, wird das deutsche Volk, das ja eigentlich die Einheit wollte, noch mehr gespalten. Wie sehen Sie das?

Hilsberg: Also erstens müssen wir mal sagen: Es handelt sich hier nicht um Theorien, sondern das sind wichtige politische Diskussionen, die auf die Änderung unseres Rechts hinwirken.
Der zweite Punkt ist: Ich bin ganz im Gegenteil der Meinung, daß die Prozesse gegen Krenz zur Spaltung der deutschen Öffentlichkeit führen. Das Gegenteil ist der Fall. Die große Mehrheit der Menschen hat in dem Bewußtsein gelebt, in der DDR ein Unrechtssystem ertragen zu müssen. Ein gravierender Ausdruck war die Praxis an der Mauer mit der permanenten Drohung – für diejenigen, die versucht haben, sie zu überwinden – erschossen zu werden. Dies war niemals Recht. Es gibt ein legitimes Menschenrecht, das beispielsweise heißt, daß jeder Mensch sich seinen eigenen Wohnort suchen darf wie er will, und kein Staat das Recht hat, ihm dieses zu beschneiden. Die Leute, die die DDR über die Mauer verlassen haben, haben vielleicht unvernünftig gehandelt, aber nicht unrechtmäßig. Im Gegenteil, der Staat hat unrechtmäßig gehandelt, indem er sie dort hat erschießen lassen. Und heute nun jene, die für dieses Unrecht verantwortlich sind, zur Verantwortung zu ziehen, dient dem Rechtsfrieden. Es würde bei der Mehrheit der Bevölkerung auch dazu beitragen, daß sie das Gefühl bekommen, daß die bundesdeutsche Justiz, die ja jetzt unsere gemeinsame ist, begriffen hat, unter welch‘ schlimmen Bedingungen wir haben leben müssen; und begriffen hat, wer die Schuldigen daran sind und diese dann auch zur Verantwortung zieht. Das trägt eher zum Gefühl von Gemeinsamkeit bei als diese Prozesse überhaupt nicht zu führen.

TP: Aber auf der anderen Seite hat ein Gericht auch zu beweisen, daß jemand schuldig ist für das, was ihm vorgeworfen wird. Daher frage ich Sie ganz direkt: Gibt es für Sie einen Beweis, daß es einen Schießbefehl gegeben hat?

Hilsberg: Selbstverständlich kann sich ein Gericht nicht von Rechtsgefühlen leiten lassen. Nun ist die Frage des Nachweises, der Beweisermittlung in erster Linie Angelegenheit unserer Ermittlungsbehörden und der Staatsanwaltschaft. Diese geht davon aus, daß es einen Schießbefehl gibt. Sie muß vor Gericht den Beweis antreten. Das sind Detailfragen. Ich vertraue an dieser Stelle der Staatsanwaltschaft und gehe davon aus, daß sie die entsprechenden Beweismittel zur Verfügung hat, sonst hätte sie diesen Prozeß gar nicht erst begonnen.

TP: Die Angeklagten im Politbüroprozeß behaupten, nicht sie, sondern die Warschauer Vertragstaaten plus der Sowjetunion waren die eigentlich Verantwortlichen für das Grenzregime.

Hilsberg: Ich kenne diese Behauptung. Dazu ist zweierlei zu sagen: Auf der einen Seite ist die Argumentation billig für jemanden, der im Politbüro war, auf eine höhere Instanz zu verweisen. Die Mitglieder im Politbüro waren weder willenlos noch handlungsunfähig. Sie hätten dem Schießbefehl ein Ende machen können. Insofern teile ich die Meinung der Staatsanwaltschaft, die sagt, schon Unterlassen, also eine Möglichkeit den Schießbefehl zu verhindern, ist strafbar. Ungeachtet davon denke ich, daß die Verantwortung für die Toten an der Mauer natürlich nicht nur in Berlin, sondern auch in Moskau zu suchen ist. Aber darüber haben wir heute nicht zu richten. Dies ist sozusagen keine nationale, sondern eine internationale Angelegenheit und das Thema steht heute nicht zur Debatte.

TP: Sofern Sie jetzt die Souveränität der DDR unterstellen, könnte ich mit Beispielen dafür kommen, was Staaten passiert ist, die nicht nach der Pfeife der Sowjets respektive der Warschauer Vertragsstaaten getanzt haben: DDR 1953, Ungarn 1956, Tschechoslowakei 1968…

Hilsberg: Das ist Ihre Meinung.

TP: Wie beurteilen Sie die von der Verteidigung im Politbüroprozeß in Anspruch genommene These von den beiden Lebenslügen in Deutschland: Solange die DDR existierte, wurde stets behauptet, sie sei ein Satellit. Heute, nachdem sie untergegangen ist, wird sie als ein souveräner Staat hingestellt. Insofern würde das Verfahren gegen die Politbüromitglieder in Berlin zu einem verlogenen Verfahren.

Hilsberg: Lebenslüge gibt maximal mildernde Umstände, aber keinen Freispruch. Ich habe Verständnis für die Auffassungen, die zur Existenz der DDR geführt haben und ich kann auch nachvollziehen, wie die Logik war, die zum Mauerregime geführt hat. Das kann die Toten an der Mauer nicht entschuldigen, die Verantwortung nicht außer Kraft setzen. Es geht hier in diesem Verfahren darum, die Verantwortung der einzelnen Angeklagten für die Toten an der Mauer im einzelnen präzise herauszuarbeiten und einer, wenn nötig, Bestrafung zuzuführen.

Interview: Dietmar Jochum, TP Berlin

Stephan Hilsberg, SPD, ist seit 1990 Mitglied des Bundestages und dort seit 1990 Mitglied der Enquetekommission „Aufarbeitung der SED-Diktatur in Deutschland“.

Foto/Bildquelle: TP Presseagentur Berlin

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