Politiker lernen nicht aus Fehlern.

TP-Interview mit Prof. Dr. Werner Hänisch, KSZE-Vertreter der DDR.

Frage:

Herr Prof. Hänisch, als KSZE-Vertreter hatten Sie auch mit dem berühmten Korb III zu tun, der die Menschenrechte betrifft. Wenn man jetzt die letzten zehn Jahre der DDR verfolgt, oder auch schon länger, sah es ja mit humanitären Belangen in der DDR, wenn man das an den Reaktionen in der Bevölkerung mißt, angefangen von den Fluchten aus der DDR und andere Angelegenheiten, womit die Bürger nicht zufrieden waren, nicht gerade rosig aus. Warum hat sich das so schlecht, was da seit Helsinki erörtert und beschlossen worden war, so schlecht in die Verhältnisse in der DDR umgesetzt?

Hänisch:

Ich muß in einer Problematik Ihre Fragestellung ein wenig hinterfragen.
Menschenrechte und Korb III sind in der KSZE-Praxis nicht identisch. Die
Menschenrechte werden im Korb 1 behandelt. Sie sind dort zwar nicht im einzelnen aufgeführt, aber die Achtung der Menschenrechte mit Bezug auf die
Menschenrechtsdeklaration und die Konventionen ist im Korb 1 eines der 10
Prinzipien der KSZE. Angefangen mit der Achtung der Souveränität,
Nichteinmischung in innere Angelegenheiten, Achtung der Grenzen und und und, zehn Prinzipien, und eines davon sind die Achtung der Menschenrechte.

Frage:

Gehört dazu auch die Ausreisefreiheit?

Hänisch:

Ja, zu den Bürgerrechten. Korb III behandelt – ausgehend von der Schlußakte in Helsinki – vier Abschnitte. Und ein Abschnitt davon sind die sogenannten humanitären Fragen. Dieser Abschnitt ist mit „Menschlichen Kontakten“ überschrieben. Ein zweiter Abschnitt ist die Information, ein dritter Abschnitt die Kultur und ein vierter die Bildung. Also Korb III und Menschenrechte, die menschlichen Kontakte als ein Element dessen, was unter der großen Kategorie und dem großen Prinzip „Menschenrechte“ subsumiert ist, werden in diesem ersten Teil des Korbes III im einzelnen weiter aufgeschlüsselt.

Frage:

Worum geht es da im einzelnen?

Hänisch:

Da geht es um familiäre Bindungen, Familienzusammenführungen,
Familienkontakte, Jugendkontakte und und und …
Das Brisante an diesem ersten Teil des Korbes III, also die menschlichen Kontakte,
für die DDR insbesondere, war, daß viele der Fragen auf
Familienzusammenführung, Ausreisen zu diesen und anderen Angelegenheiten in
einem hohen Maße das Verhältnis zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR betrafen. In einem viel stärkeren Maße als beispielsweise die Beziehungen anderer östlicher oder sozialistischer und kapitalistischer Länder. Hier komprimierte sich im Grunde genommen die ganze Problematik für die DDR.

Frage:

Woraus ergeben sich die Gewährleistungsansprüche dessen, was in Helsinki beschlossen worden ist? Aus Korb 1 oder Korb III?

Hänisch:

Aus beiden. Mit Korb 1, also mit dem Prinzip Menschenrechte, wurden die Menschenrechte und dabei das Prinzip, daß jeder sein Land verlassen und wieder zurückkehren kann in dieses Land, aufgenommen. Es gibt bestimmte Beschränkungen, und die haben gerade von östlicher Seite eine bestimmte Rolle gespielt in der KSZE, z.B. der Schutz der nationalen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung und ähnliches. Also, und das war ja für die Situation in der DDR das Bedeutende und zugleich aus der Sicht des Staates das Schwierige, es existierte mit der KSZE über die Menschenrechtskonventionen hinaus im Grunde genommen mit der Übernahme der Menschenrechte als eines der zehn Prinzipien eine neue weitere Berufungsgrundlage. Und diese generelle Berufungsgrundlage wurde in einigen Fragen im Korb III speziell in dem ersten Bereich „Menschliche Kontakte“ gewissermaßen durch konkrete Regelungen untersetzt.

Frage:

Also war Korb 1 gewissermaßen mehr ein allgemeiner Teil?

Hänisch:

Der Korb 1 war der Prinzipienteil. Zum Korb 1 gehörten übrigens auch die militärische
Sicherheit. Vertrauensbildende Maßnahmen und Abrüstung, waren Bestandteil des
Korbes 1. Das ist für mich überhaupt ein gewisses Problem, daß manche
Interpretationen die KSZE insgesamt, schon zur Zeit, als die KSZE einer der
Rahmen der Ost-West-Auseinandersetzungen war, aber auch heute eigentlich etwas
– ich sage das mal populistisch – auf Menschenrechte reduzieren.

Frage:

Ursprünglich war es ja so, daß mit der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa der status quo gesichert werden sollte und die Menschenrechte dem Osten sukzessive aufgedrückt worden sind.

Hänisch:

Kann man nicht so generell sagen. Ich wollte zunächst noch mal auf dieses Moment hinaus, daß die KSZE viel breiter war als das, was Menschenrechte und Korb III sind. Es war ein breites Spektrum von Ost-West-Vereinbarungen zur Zusammenarbeit. Und darin bestand ja eigentlich die Bedeutung der KSZE unter den Bedingungen „Kalter Krieg“ zugespitzten Situation. Denken Sie an die Situation Madrid 1980: Sowjetischer Einmarsch in Afghanistan, sogenannte Raketenproblematik …

Frage:

… Pershings …

Hänisch:

… SS 20, 1981 Kriegszustand in Polen. Unter diesen Bedingungen tagte die KSZE. Und 1982 stand sie im Grunde genommen auf der Kippe. Es wurde, wenn ich mich recht erinnere, eine Unterbrechung von März oder April 1982 bis November 1982 beschlossen und es gab viele Diskussionen, was wird: Ist das das Ende der KSZE, ist das das Ende des Madrider Treffens oder finden die Partner Möglichkeiten, einen Kompromiß, um die KSZE weiterzuführen?
Meine Überlegung war, die Interessen beider Seiten sind so, daß sie unter den äußerst komplizierten Bedingungen diesen Gesprächsfaden nicht völlig abreißen lassen werden.
Das war eine ernsthafte Debatte, die wir damals geführt hatten, und ich war immer der Meinung, die KSZE ist der einzige interessante Ost-West-Faden wo man sich hart auseinandersetzt, aber wo man noch reden kann unter diesen Bedingungen.

Frage:

Man hat sich also im Laufe der Jahre auch schon kennengelernt am gemeinsamen
Tisch und wollte hier nichts abreißen lassen?

Hänisch:

Ja, aber es ging nicht nur um diese Frage, sondern es ging um die substanziellen Interessen unter der ungeheuer komplizierten Situation, wo im Grunde genommen die Frage stand: Kommt es zu einer militärischen Auseinandersetzung zwischen Ost und West? Diesen Faden aufrechtzuerhalten, um sich auszutauschen, war wichtig.

Frage:

Also war die KSZE quasi eine Nische?

Hänisch:

Ja, das kann man so sagen. Das ist aber nicht nur zu erklären mit der Frage der
Menschenrechte, sondern das ist zu erklären mit dem breiten Spektrum der
Elemente Sicherheit, Zusammenarbeit, Kooperation.

Frage:

Also mit den substanziellen Interessen der Menschen untereinander überhaupt – hier insbesondere zwischen Ost und West?

Hänisch:

Ja. Im breitesten Sinne politische Entspannung, Erhalt des status quo, Grenzsicherung, vertrauensbildende Maßnahmen. Vertrauensbildende Maßnahmen waren ja nicht nur Austausch von Beobachtern, Manöver, sondern allein die Tatsache, daß die 35 Staaten in der KSZE unter diesen Bedingungen zusammensaßen, war eine gewisse Vertrauensbildung in den Ost-West-Beziehungen insgesamt.

Frage:

Irgendwie wollte man auch, daß es weitergeht, der Ernstfall hätte ja schließlich Krieg bedeuten können?

Hänisch:

Ja, und deshalb mußte diese Gesprächsbasis aufrechterhalten werden. Trotz aller Schwierigkeiten und Probleme ist man deshalb in Madrid auch zu einem Ergebnis gekommen mit einem Abschlußdokument.

Frage:

Wäre es vielleicht zu einseitig gedacht, es nur global zu sehen, was bei den KSZEVerhandlungen erreicht werden sollte, weil ja die Bürger in den Ostblockstaaten ihre persönliche Freiheit vermißten und hier das Schwergewicht darauf gelegt haben wollten?

Hänisch:

Ich würde es mal von der Ecke her anpacken: Wenn Sie die menschlichen Kontakte, ich bleibe bei dem Terminus der Schlußakte und der Dokumente, im Verhältnis zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik, ab 1983/84/85, verfolgen, so nahmen die Familienzusammenführungen und Reisen zu familiären Angelegenheiten – ich habe jetzt keine Einzelzahlen im Kopf – in dieser Zeit immens zu.

Frage:

Nahmen aber auch rapide wieder ab.

Hänisch:

Nein, nein, nein, nahmen immens zu. Also es war ein Problem, was DDR und BRD betraf: die Regelungen, die zu dieser Zunahme geführt haften, wurden in der DDR getroffen, zum Teil gestützt auf Madrider Ergebnisse, wenn auch nicht in der Berufung der Führung der DDR, die zu entscheiden hatte, auf Madrid. Aber indirekt haben die Vereinbarungen von Madrid über Reiseerleichterungen, Familienzusammenführungen u.ä. doch in dieser Richtung gewirkt. Es war ein Problem für die Führung der DDR durch internationale Prozesse zu Entscheidungen geführt zu werden. Da hatte man beträchtliche Vorbehalte, man wollte die Entscheidungen über die Verbesserungen dieser menschlichen Kontakte aus eigener Souveränität treffen. Daß die KSZE-Vereinbarungen in diese Richtung gewirkt haben, ist eine andere Seite des Problems.

Mein Ausgangspunkt war, beträchtliche und immense Zunahme dieser Kontakte. Das hat übrigens während des Treffens in Bern auch von westlicher Seite, speziell auch von der Bundesrepublik, beträchtliche Anerkennung gefunden. Also die Auseinandersetzung zwischen der bundesrepublikanischen und der DDR-Delegation in Bern, die betrafen nicht mehr in erster Linie diese Fragen Familienzusammenführung als generelles Problem, sondern die betrafen ganz
spezifische Dinge. Beispielsweise bei menschlichen Kontakten unmittelbar zu berücksichtigen die Anlässe, weshalb Anträge auf Familienbesuche gestellt wurden.

Frage:

Und wie oft sie gestellt werden konnten.

Hänisch:

Auch wiederholte Antragstellung war so ein Problem. Also spezifische Fragen, aber nicht mehr im Grunde genommen die generelle Problematik. Ich will damit sagen, für die Führung der DDR war deutlich, daß aus dem Verhältnis DDR und Bundesrepublik sich hier Entwicklungen zwangsläufig ergeben mußten. Ich meine, man kann auch nicht die Brücken außer acht lassen, die aufgebaut wurden durch die Kontakte mit Strauß, die Kredite der Bundesrepublik an die DDR, die natürlich auch in dieser Hinsicht gewirkt haben. Ganz klar.

Frage:

Sie haben aber letztendlich nicht verhindert, daß noch Leute an der Grenze erschossen worden sind. Wie hätte das verhindert werden können, wäre da auch eine Möglichkeit gewesen, das zu verhindern. Haben Sie auf Ihrer Arbeitsebene dazu eine Möglichkeit gesehen? Oder wäre das zu naiv gefragt?

Hänisch:

Ich möchte das so sagen, das Problem war kein Problem der KSZE-Delegationen der DDR. Die KSZE-Delegationen der DDR wurden konfrontiert mit dieser Frage, wenn es einen Toten an der Grenze gab. Die andere Seite stellte Fragen, wollte Erklärungen haben von den Delegationen der DDR, so daß wir antworten mußten. Aber ich muß Ihnen auch sagen, wir haben erklärt, jeder Tote ist ein Toter zuviel.

Frage:

Aber andererseits wurde sich eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten verbeten.

Hänisch:

Ja, natürlich, und zwar gestützt auf eines der zehn Prinzipien der Schlussakte, das Prinzip VI: Nicht-Einmischung in die inneren Angelegenheiten.

Frage:

Fühlten Sie sich als Alibi benutzt?

Hänisch:

Nein, kann ich nicht sagen.

Frage:

Sie mußten sich auch immer wieder rechtfertigen gegen Ihren Mitteilnehmern bei der Konferenz von westlicher Seite, wenn es an der DDR-Grenze wieder einen Toten zu beklagen gab. Sie wurden ja dann von den westlichen Teilnehmern direkt angesprochen.

Hänisch:

Ja, sicher, wir sind auch in Paris angesprochen worden im Mai/Juni 1989, da hatte es gerade den letzten Mauertoten gegeben. Wir haben natürlich nicht in dem Sinne argumentiert „Wir protestieren scharf…“
Wir haben versucht zu erklären, daß das Grenzregime eine souveräne Angelegenheit jedes Staates ist. Wer sich in die Nähe dieses Grenzregimes begibt, nicht auf korrektem oder normalem Wege, sondern – was weiß ich, mit Leitern oder was -‚ muß damit rechnen, daß er sich in Gefahr begibt.

Frage:

Offensichtlich hat‘s die westdeutsche Justiz oder die bundesdeutsche Justiz, sage ich mal korrekterweise, wenn auch nur westdeutsche Richter beteiligt waren oder sind, anders gesehen.

Hänisch:

Das ist auch selbstverständlich. Die DDR hat diese Grenze gebaut, die
Bundesrepublik ist ja nicht ein Verteidiger dieser Grenze gewesen, im Gegenteil, die
DDR hat diese Grenze gebaut. Man kann heute darüber streiten, was die
eigentlichen Motive dafür gewesen sind. Ein Motiv ist auf alle Fälle gewesen, die
Sicherheit des Staates DDR zu gewährleisten.

Frage:

Man hatte Angst, daß die DDR „ausblutet“.

Hänisch:

Sicher, das war einer der Faktoren, der dabei eine Rolle gespielt hat. Ich will damit einfach zum Aüsdruck bringen, wir haben der DDR nicht als Alibi, sondern als Interessenvertreter des Staates Deutsche Demokratische Republik gedient.

Frage:

Bestand jemals die Gefahr oder hauen Sie Befürchtungen dahingehend, daß die Konferenz vielleicht mal wegen eines Mauertoten abgebrochen werden konnte, wie das hinsichtlich des koreanischen Jumbo-Jets, der von der UdSSR 1983 abgeschossen wurde, zu drohen schien?

Hänisch:

Nein, nicht einmal. Und das haben im Grunde genommen beide Seiten verstanden.

Frage:

Es gab also keine scharfen Proteste von westlicher Seite?

Hänisch:

Es gab Proteste, die wurden jedoch verbal ausgetragen.

Frage:

Die Konferenzen hätten aber wegen der Mauertoten nie in Gefahr gestanden, abgebrochen zu werden?

Hänisch:

Wegen solcher Probleme nicht.

Frage:

Man ist also zur Tagesordnung übergegangen?

Hänisch:

Weil man genau wußte, wenn man an dieser Frage die Problematik in der KSZE zuspitzt, dann spitzt man sie im Grunde genommen in der Frage der Grenze zwischen den beiden Militärpaktsystemen zu.

Frage:

Haben Sie mal mit Politbüromitgliedern oder maßgeblichen Leuten aus dem ZK zusammengesessen und die Frage erörtert, was z.B. von den KSZE-Verhandlungen erwartet wurde, auch von westlicher Seite, und was davon in der DDR umgesetzt wurde?

Hänisch:

Jedes Mal, wenn eine solche Konferenz bevorstand, wurde im Außenministerium eine Direktive erarbeitet, über den Minister ins Politbüro eingebracht und dort beschlossen. Eine Debatte mit den Fachleuten gab es dabei nie.
Nun aber zeigte es sich im Verlaufe der Konferenz, daß wir mit Festlegungen dieser Direktive nicht mehr operieren konnten, weil da drinnen stand, das und das ist auf keinen Fall zu akzeptieren. Oder das und das muß in jene Richtung gemacht werden, die Verhandlungssituation aber in ganz andere Richtungen tendierte.

Frage:

Sie brauchten also Spielraum.

Hänisch:

Ja.

Frage:

Doch dieser Spielraum war einfach nicht vorhanden.

Hänisch:

Ja, er war oft nicht mehr vorhanden. Dann ging der Weg so, die Delegation in Wien oder in Madrid regte an, nicht beim Politbüro, sondern beim Außenministerium, die Situation ist so und so, wir brauchen in dieser oder jener Frage eine Veränderung unserer Direktive, damit wir wieder Spielraum haben.

Frage:

Also fühlten Sie sich irgendwo im Stich gelassen, wenn Sie Flexibilität brauchten, die eigentlich vonnöten war?

Hänisch:

Selbstverständlich. In entscheidenden Momenten bekam die Delegation dann in den seltensten Fällen eine schriftliche Direktive, die notwendig gewesen wäre, sondern sie bekam von einem Dienstvorgesetzten, also einem Beamten aus dem Außenministerium, einen Telefonanruf, der in kurzen verschlüsselten Worten
mitteilte, was denn eigentlich für eine Linie zu vertreten sei. Es gab höchst selten, fast nie, eine neue schriftliche Instruktion.

Frage:

War die Arbeit überhaupt noch erträglich?

Hänisch:

Ja. Ich wollte gerade sagen, die Frage des Spielraums in den Direktiven, die bezog sich auf konkrete Fragen. Auf der anderen Seite war der Spielraum der DDR-Delegationen in Argumentationen, im Auftreten im Plenum, beim Einbringen von Vorschlägen, bilateralen Debatten mit westlichen Delegationen und ähnlichem ganz beträchtlich. Das widersprach aber dieser anderen Seite nicht unbedingt. Das widersprach deshalb nicht, weil man der Delegation im Grunde genommen die Möglichkeiten gab, die Dinge weitestgehend auszuloten aus der Verhandlungssituation heraus. Und erst dann, wenn‘s gar nicht mehr anders ging, mußten wir in einer konkreten Frage, ich nehme hier den Mindestumtausch, der in Wien behandelt wurde, nach einer neuen Direktive fragen.
Ich will nur noch sagen, ich habe keine Internas aus der amerikanischen Delegation, aber ihre Plenumsreden sind nicht in der Delegation entstanden. Die kamen woanders her.

Frage:

Wie weit ging deren Spielraum?

Hänisch:

Ich will noch mal auf unseren Spielraum kommen. Es ging, wenn ich mich recht erinnere, im November 1986 haben wir in Wien angefangen, und 1987 gab es mal eine Phase, wo wir im Korb III erst stagnierten und dann aber ein Stückchen vorwärts kamen, und da haben wir überlegt, wäre es nicht sinnvoll einen Versuch zu unternehmen mit der westdeutschen, mit der bundesrepublikanischen Delegation, über ein paar Positionen zu den humanitären Fragen, zu den menschlichen Kontakten eine gewisse Verständigung herbeizuführen, um dann über diesen Weg Möglichkeiten einer relativ schnellen Einigung im Korb III zu erreichen. Was will ich sagen? Es war die Initiative der Delegation, das zu machen. Wenn wir in Berlin gefragt hätten, hätten wir unter Garantie eine Antwort gekriegt, die schwer verdaubar gewesen wäre. Also haben wir den Versuch unternommen. Der Versuch mit der bundesrepublikanischen Delegation ist gelungen. Aber er konnte sich nicht durchsetzen.

Frage:

Weil er von Ost-Berlin nicht genehmigt worden wäre?

Hänisch:

Nein, nein. Weil Partner aus unserem Lager und vor allen Dingen der größte Partner aus unserem Lager, aber auch Partner der Bundesrepublik aus ihrem Lager
nicht einverstanden damit waren. Die haben nichts gegen die sachlichen Dinge gehabt, die wir mit den Bundesrepublikanern vorbesprochen haben, sondern jene deutsch-deutsche Absprache, die über ein gewisses Maß hinausging, die paßte nicht ins Konzept.

Frage:

Da kam also zum Ausdruck: Wir lieben Deutschland so sehr, daß wir froh sind, daß es zwei davon gibt.

Hänisch:

Ja. Aber ich will sagen, dieser Spielraum existierte. Und wenn es gelungen wäre, wäre die Delegation sicher auch für diese und jenen Dinge in Berlin gelobt worden. Aber wir durften es nicht publik machen vorher, daß wir diesen Weg gegangen sind.

Frage:

Können Sie ein Beispiel dafür nennen?

Hänisch:

Es ist lange her, es ging um konkrete Formeln, wenn ich mich recht erinnere, bei Familienzusammenführungen und Besuchsreisen.
Natürlich bin ich dann, nachdem wir mit den Westdeutschen versucht hatten, Formeln auszuarbeiten, zu der sowjetischen Delegation gegangen, habe sie informiert Wir haben die Sowjets sogar vorher informiert, wir haben die Absicht mit der bundesrepublikanischen Delegation das und das zu versuchen. Als wir das gemacht hatten, sind wir wieder zur sowjetischen Delegation und haben gesagt, das und das sind Überlegungen und Vorstellungen. Vielleicht war‘s ein Fehler.

Frage:

Also der Große Bruder hatte, wenn ich das mal so sagen darf, über seine Satelliten die Oberaufsicht.

Hänisch:

Im Prinzip ja, die Oberaufsicht.

Frage:

Konnte man denn, nachdem Gorbatschow an die Macht gekommen ist, lockerer arbeiten, unabhängiger?

Hänisch:

Ich würde zunächst einmal sagen, daß, nachdem Gorbatschow an die Macht gekommen ist und Schewardnadse Außenminister wurde, die Sowjetunion Dinge in den KSZE-Prozeß eingebracht hat, ohne sich mit ihren Partnern abzustimmen. Und das war ja nun jahrzehntelang geübte Praxis, nicht nur in der KSZE, aber auch in der KSZE, daß man vor Beginn eines Treffens, wahrend des Treffens – wir haften wöchentliche – Beratungen unter den sozialistischen Ländern abhielt, wo informiert wurde, welche Absicht besteht, Vorschläge einzubringen, wie reagiert man auf westliche Vorschlage oder ahnliches Und als Schewardnadse Außenminister war, als Beispiel gesagt, zu Beginn des Wiener Treffens 1986 wurde unser Minister ca. eine Stunde vor der offiziellen Rede von Schewardnadse plötzlich darüber informiert, daß die Sowjetunion die Absicht habe, eine Konferenz über humanitäre Angelegenheiten in der KSZE vorzuschlagen. In früheren Situationen wäre ein halbes Jahr vor Beginn des Wiener Treffens eine solch grundsätzliche Idee unter den sozialistischen Ländern diskutiert worden. Ich wollte sagen, daß die Sowjetunion weniger Rücksicht auf die Interessen anderer sozialistischer Länder nahm und Ideen in die Konferenz einbrachte, die sie für richtig hielt, ohne daß abgetastet worden war, was meinen denn die anderen Mitgliedsstaaten des Warschauer Vertrages zu einer solch grundsätzlichen Idee. Es ging hier nicht um den Zugang zu Archiven, da haben wir auch Auseinandersetzungen gehabt, sondern um so eine grundsätzliche Idee.

Frage:

Wenn das, was auf der KSZE beschlossen worden ist, konsequent umgesetzt worden wäre in der DDR, würde sie heute noch existieren?

Hänisch:

(Lachen) Die Frage kann man so nicht stellen. Es existierte unter KSZE-Gesichtspunkten in der Politik, im staatlichen System der DDR ein großer Widerspruch, und der Widerspruch bestand auf der einen Seite darin, daß mit der KSZE das internationale Gewicht der DDR beträchtlich gewachsen war. Und von diesem Gesichtspunkt aus die DDR auch bemüht war, die KSZE-Dokumente in millionenfacher Auflage zu veröffentlichen im Lande.

Frage:

Im Neuen Deutschland.

Hänisch:

Im Neuen Deutschland, in anderen Broschüren usw., so daß jeder, der wollte, Zugang zu diesen Dokumenten hatte. Es hat Vergleiche gegeben, und wir haben diese Vergleiche auch gebracht, daß demgegenüber bundesrepublikanische Veröffentlichungen es auf 5000 – 6000 Exemplare für die gesamte Bundesrepublik brachten.

Frage:

Und wenn, dann nur in Auszügen.

Hänisch:

Sie haben sie auch vollständig veröffentlicht, aber doch in einem sehr, sehr beschränkten Maße. Also nur für Leute, die gewissermaßen beruflich damit zu tun hatten.

Frage:

Was nicht heißt, wenn sie in der DDR höher aufgelegt wurden, auch mehr gelesen wurden.

Hänisch:

Das glaube ich schon, daß diese Dokumente in der DDR gelesen worden sind. Durch die breite Publizierung der KSZE-Vereinbarungen war im Grunde genommen eine Berufungsgrundlage für große Teile der Bevölkerung geschaffen. Und die DDR hat nicht diesen Widerspruch lösen können im inneren, KSZE-adäquate Bedingungen zu schaffen und in dem Sinne Demokratie, Achtung der Menschenrechte, insbesondere der individuellen Menschenrechte, zu gewährleisten. Die Nichtumsetzung nicht der konkreten Bestimmungen, sondern der KSZE-Philosophie in diesen Fragen, war zweifellos ein Faktor. Die Defizite der Demokratie in der DDR waren ein wesentliches Element in der Zuspitzung des Widerspruchs zwischen Führung und beträchtlichen Kräften der Bevölkerung in der DDR. Und insofern beantwortet sich Ihre Frage, daß das KSZE-Problem die existierende Widersprüchlichkeit der DDR zugespitzt und verschärft hat, aber nicht die eigentliche Ursache des Untergangs war.

Frage:

Also wie sie es und was sie gemacht hätten, sie hätten es verkehrt gemacht, sie wäre ohnehin kaputtgegangen?

Hänisch:

Weil andere Faktoren neben mangelnder Demokratie und Verwirklichung der Menschenrechte in dem Gesamtkomplex der Ursachen, die die DDR in die Krise und schließlich ihr den Untergang gebracht hat, eine Rolle spielten.
Man sollte doch mal nicht den internationalen Faktor „Entwicklung in der Sowjetunion“ außer acht lassen dabei. Die DDR war doch, ob wir das wollen oder nicht, aber eben objektiv vor allen Dingen in ihrer internationalen, aber auch in ihrer inneren Stellung in einem hohen Maße – ich sage jetzt nicht vordergründig „Satellit“ -‚ sondern ich sage, hinsichtlich der objektiven Existenz-Bedingungen von der Sowjetunion abhängig.

Frage:

Also wäre Gorbatschow nicht gekommen, würde die DDR heute noch existieren.

Hänisch:

Nein, das kann man so nicht sagen. Dann sind wir bei der Frage, die Sowjetunion ist untergegangen wegen der Politik Gorbatschows. Das würde ich so nicht sagen.

Frage:

Welche Fehler wurden gemacht?

Hänisch:

Es gab eigenartige Verhaltensweisen führender Politiker in der DDR. Wenn etwas in der DDR nicht funktionierte, war nicht die Führung, waren nicht die inneren Prozesse, sondern waren äußere Prozesse schuld. Entweder der westdeutsche Gegner oder der Große Bruder, also die Sowjetunion oder der oder der oder der Das war im Grunde genommen gang und gäbe, Probleme und Schwierigkeiten so zu erklären versuchen, Erklärungsversuche für Schwierigkeiten und Probleme zu finden.
Ich finde, Politiker lernen nicht aus Fehlern und schon gar nicht aus Fehlern anderer Politiker.
Das wäre mit einer kritischen und vor allen Dingen einer selbstkritischen Position verbunden gewesen.

Frage:

Und dabei könnte man untergehen.

Hänisch:

Und in der Politik gibt es so was nicht.

Interview: Dietmar Jochum, TP Berlin, 21. August 2003

Foto/Bildquelle: Bundesarchiv_Bild_146-1990-009-13_Helsinki_KSZE-Konferenz.jpg

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