Politischer Wille zur Vergangenheitsbewältigung.

TP-Interview mit dem Kulturattaché der Botschaft der Tschechischen Republik in Berlin Jan Sechter.

TP: In der Bundesrepublik Deutschland werden Prozesse geführt gegen Verantwortliche des Grenzregimes der ehemaligen DDR. Teilweise wurden relativ hohe Freiheitsstrafen verhängt, die Urteile obergerichtlich bestätigt, der ehemalige Verteidigungsminister Keßler und sein Vertreter Streletz haben ihre Freiheitsstrafen sogar antreten müssen. Egon Krenz und anderen wird es wohl ähnlich ergehen.
Wie denkt man in der tschechischen Republik über diese Art der Vergangenheitsbewältigung in der Bundesrepublik hinsichtlich der ehemaligen DDR?

Sechter: Die Geschichte bereitet uns manchmal sehr große Zufälle. In dieser Zeit, in der in Deutschland diese Prozesse laufen, finden auch in der Tschechischen Republik Verfahren gegen ehemalige Parteifunktionäre statt, die damals, 1968, die Verantwortlichkeit hatten. Von russischer Seite haben wir auch schon Beweise dafür bekommen, praktisch die Einladungsbriefe für die Interventen, die fünf Warschauer Paktstaaten, daß sie die sog. Konterrevolution in der Tchechoslowakei, die in die Zeit des Prager Frühlings unter Alexander Dubcek fiel, unterdrücken sollten.
In beiden Ländern, in der Bundesrepublik Deutschland und in der Tschechischen Republik laufen also ganz interessante Prozesse.
Allerdings muß ich sagen, daß die breite Öffentlichkeit die Tatsache der Prozesse sowie ihre Ursachen weit verdrängt hat, weil sie mehr mit der Zukunft beschäftigt ist. Das hat insoweit auch eine Parallele zu unserer Vergangenheitsbewältigung, was die unmittelbare Nachkriegsgeschichte der Tschechoslowakei und die Aussiedlung von Deutschen betrifft. Hier ist fast niemand, zumindest von der breiten Öffentlichkeit, dazu bereit, sich damit zu beschäftigen. Das ist die eine Dimension.
Das andere ist die Tatsache, wie sich die Prozesse in beiden Ländern beeinflussen. So gibt es auch bei uns eine Behörde, die nach dem Vorbild der Gauck-Behörde Akten veröffentlicht. Dies findet in der Publizistik auch große Resonanz.

TP: Nun gab es ja auch an Ihren Grenzen Tote und Verletzte. Wie geht man damit um?

Sechter: Zunächst muß ich sagen, daß wir im Laufe der letzten sieben Jahre die Schlüsselpunkte unserer tschecheslowakischen Geschichte verarbeitet haben. Das ist zum einen das Trauma von 1968; hier sind schon fast alle Prozesse gegen ehemalige Parteifunktionäre beendet. Zum anderen hatten wir die sanfte Revolution von 1989, bei der auch massiv Gewalt gegen Regimegegner und Studenten angewendet wurde. Hier gibt es auch Verfahren gegen die Verantwortlichen, die auch schon fast alle beendet sind. Über die Ergebnisse will ich jetzt nicht sprechen. Jedenfalls haben wir diese zwei Wendepunkte in unserer Geschichte.
Inzwischen haben wir – darüber will ich jetzt mehr sprechen – das sog. Amt für Ermittlung für kommunistische Verbrechen gegründet. Dieses hat zunächst die Aufgabe – ähnlich wie die Gauck-Behörde -, sich mit den Akten der ehemaligen Staatssicherheit zu beschäftigen. Es ermöglicht Betroffenen seit Juni diesen Jahres Einsicht in ihre Akten. Zum zweiten ist dieses Amt für Ermittlung auch in der Tat Ermittlungsbehörde, es ermittelt auch gegen diese…

TP: … Menschenrechtsverletzungen…

Sechter: … zum Beispiel; dieses Amt hat inzwischen – das war eine sehr mühsame Arbeit gewesen – festgestellt, daß es 158 erschossene, 104 durch Minen getötete sowie 15 in Stromanlagen umgekommene Menschen an der bayrisch-tschechischen Grenze, also an der im Böhmerwald, sowie an der österreichischen Grenze gegeben hat. Das war praktisch auch ein Eiserner Vorhang. Hier müssen wir sehr genau die Prozesse hinsichtlich der DDR beobachten, das ist nämlich dasselbe, da wurde auch auf Befehl geschossen; teilweise gab es da noch schlimmere Sachen, es war nicht direkt eine Mauer, sondern es gab 30, 40 Kilometer breite Streifen, die praktisch Niemandsland waren, in dem Sonder-Recht gültig war, daß also jemand Befehl hatte zu schießen, weil es dort die Verletzung einer Staatsgrenze zu verhindern galt. Im Gegensatz zum Verhältnis DDR und Bundesrepublik handelte es sich nicht um eine innere Grenze, sondern um eine Staatsgrenze. Da es sich hier um andere Dimensionen als in der Bundesrepublik handelt, habe ich Angst, daß die juristische Bewältigung aufgrund dieses Unterschiedes schwieriger werden wird als in der Bundesrepublik Deutschland, ganz abgesehen davon, wer wirklich die politische Verantwortlichkeit dafür trägt. Die Täter werden zwar schon langsam dokumentiert, es laufen auch schon Prozesse gegen sie; vor einiger Zeit begann z.B. vor dem Militärgericht in Tábor der Prozeß gegen zwei Soldaten, die einen Flüchtling erschossen haben. Seine Flucht war schon erfolgreich, er war bereits zwei Kilometer auf österreichischem Gebiet, wurde aber von den beiden Soldaten dort hin verfolgt, zurück in die Tschechoslowakei verschleppt und dort im Wald erschossen.

TP: Ist mit Verurteilungen zu rechnen?

Sechter: Das kann ich zu diesem Zeitpunkt nicht sagen. Es gibt einen politischen Willen zur Verarbeitung dieser Geschichte, aber wie tief das dringt, entzieht sich meiner Kenntnis. Jedenfalls hat das Amt für Ermittlung die Pflicht, hier umfassend die Verbrechen aufzuklären, also zu ermitteln und die Täter, wenn nötig, einer Bestrafung zuzuführen. Ich weiß nicht, wie lange das noch dauert.

TP: Sehen Sie überhaupt eine Chance, daß dieser politische Wille konsequent umgesetzt wird?

Sechter: Wie ich an den anderen Beispielen sehe, wird dieser politische Wille als Aufgabe des Staates eigentlich realistisch gesehen, weil neue Aufgaben vor uns stehen, zum Beispiel die Integration in die europäischen Strukturen.

TP: Würde z.B. die Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit als eine Voraussetzung angesehen für eine Integration in die EG?

Sechter: Wir wollen zwar keine Probleme mit in die EU schleppen, aber ob wir nun die tschechischen Militärs bestrafen, die Flüchtlinge – darunter auch Ostdeutsche und anderer Nationalität, die eine Flucht über die Tschechoslowakei einfacher ansahen – erschossen haben, das hat – glaube ich – leider die EU nicht zu beeinflussen.

TP: In der tschechischen Republik gibt es ein sog. Durchleuchtungsgesetz, das frühere ranghohe kommunistische Funktionsträger daran hindert, Staatsämter und andere wichtige öffentliche Funktionen wahrzunehmen sowie Bewerber für öffentliche Ämter verpflichtet, vom Innenministerium bestätigte „Persilscheine“ vorzulegen, daß sie in der Vergangenheit keine wichtigen Funktionen des kommunistischen Regimes bekleideten. Präsident Havel hat der Verlängerung dieses Gesetzes seine Zustimmung versagt mit der Begründung, daß mit der Verabschiedung der Novelle (Verlängerung des Gesetzes) de facto gesagt wird, daß die tschechische Republik bis zum Jahr 2000 nicht in der Lage sein würde, ein normaler, demokratischer Rechtsstaat zu sein.

Wie gedenkt der tschechische Staat ohne das Durchleuchtungsgesetz mit „Staatsfeinden“ umzugehen bzw. sie ohne das Durchleuchtungsgesetz zu durchleuchten?

Sechter: Zunächst muß ich sagen, daß wir das Gesetz vor allem vom moralischen Standpunkt alle unterstützen. Es ist nicht einfach nur ein Gesetz, das besagt, daß durch einen Brief die Täter gekennzeichnet werden sollen, daß sie sozusagen durch die Post einen Brief bekommen, in dem steht, daß sie Mitarbeiter der Stasi gewesen waren – sie eben Täter sind, sondern daß einfach konstatiert werden soll, daß sie nach den heutigen Erkenntnissen Mitglieder dieser verbrecherischen Organisation gewesen sind – nicht mehr und nicht weniger. Überhaupt ist da in einem solchen Brief nicht von Verbrecher die Rede, sondern lediglich, daß festgestellt wurde, daß sie Stasimitarbeiter waren oder – das wissen die Leute selber – in welchem Amt sie welche Funktion übernommen hatten. Damit ist noch nicht gesagt, daß sie schuld an etwas waren, sondern…

TP: … daß sie erst einmal untauglich sind in einem demokratischen Staat eine bestimmte staatliche Funktion zu übernehmen, sie sozusagen erst einmal mit Vorsicht zu genießen sind…

Sechter: … weil wir eine junge Demokratie sind, die sich schützen muß. Man kann das mit einem Führerschein vergleichen: der Staat hat die Bedingungen gesetzt, wer darf und wer nicht darf; es ist kein Berufsverbotsgesetz, es ist vielmehr eine Art von Schutz. Das ist auch notwendig, weil es für die Nachwendezeit Instruktionen für die Stasi gab, wie man demokratische Strukturen infiltrieren kann. Und stellen Sie sich vor, ein ehemaliger Stasimitarbeiter erhält nun eine hohe staatliche Funktion, der ist erpreßbar und wirklich nicht mehr fähig, eigene Entscheidungen zu treffen, ohne beeinflußbar zu sein. Das ist zwar alles nur eine Vermutung, aber ein Staat muß auch vorbeugend seine Strukturen schützen.

TP: Erstaunlich, daß Václav Havel der Verlängerung dieses Gesetzes mehr als kritisch gegenübersteht.

Sechter: Seine Kritik besagt weniger, daß er die ehemaligen Stasimitarbeiter rehabilitiert sehen will, sondern daß durch die Verlängerung des Gesetzes eingestanden wird, daß sich der Staat insofern ein Armutszeugnis ausstellt, als er sagt, er wird mit den auf sie zukommenden Gefahren nicht anders fertig als mit pauschalisierenden Gesetzen.

TP: Was wird in der tschechischen Republik für die Opfer der kommunistischen Herrschaft getan?

Sechter: Zuerst versucht man die Leute zu rehabilitieren. Das kommunistische Regime hat tatsächlich mit Berufsverboten gearbeitet oder den Menschen verboten zu studieren. Es gab Leute mit anderen Schicksalen, es waren Leute in Gefängnissen. Heute wird versucht, Opfer von Gewalttaten oder Angehörige zu entschädigen oder die Betroffenen direkt zu rehabilitieren, dadurch daß sie – z.B. mein Onkel oder andere, die wurden kurz vor der Promotion von der Uni ausgeschlossen – symbolisch ein Diplom bekommen bzw. bekamen. Also eine Wiederherstellung der individuellen Ehre, die durch das kommunistische Regime zerstört wurde.

Als erstes Zeichen von Wiedergutmachung und Vergangenheitsbewältigung gilt in Tschechien auch das Gesetz über die Konfiskation des Besitztums der Kommunistischen Partei sowie ihr nahestehende Organisationen von 1990. Die Behörde Amt für Dokumentation und Untersuchung der Verbrechen des Kommunismus ermittelt auch die grauen Geschäfte der kommunistischen Nomenklatura unmittelbar nach der Wende. Die Ergebnisse sind – ähnlich wie in Deutschland – sehr umstritten. Als mysteriöses Beispiel kann ich zum Beispiel verschleudertes Eigentum des Sozialistischen Jugendverbandes (SSM) nennen.

TP: In der Bundesrepublik Deutschland wird von ehemaligen Funktionsträgern der DDR von Siegerjustiz hinsichtlich der gegen sie geführten Prozesse gesprochen. Ist das in der Tschechischen Republik ähnlich?

Sechter: Ja natürlich; daß das Rache ist und so weiter… Ich kann Ihnen insbesondere von dem Prozeß gegen den letzten stellvertretenden Innenminister Alois Lorenz erzählen, der praktisch die Stasi bei der Studentenrevolution 1989 widerrechtlich mit neuen Aufgaben ausgestattet hat. Der hat versucht, den gegen ihn geführten Prozeß zu verschleppen, wie auch andere versucht haben durch verschiedene Krankheiten die gegen sie geführten Prozesse in die Länge zu ziehen. Dabei hat man 1991/92 die Voraussicht ausgenutzt, daß sich die Tschechoslowakei teilen wird, natürlich auch die Justiz. Seit dem 1.1.1993 steht der letzte kommunistische Innenminister unter slowakischer Jurisdiktion und wird dort praktisch nicht mehr verfolgt.

TP: Die Slowakei – ein Eldorado für ehemalige Kommunisten, sich einer Verantwortlichkeit für ihnen vorgeworfenes Unrecht zu entziehen?

Sechter: Die slowakische Republik setzt bei der Vergangenheitsbewältigung offensichtlich andere Prioritäten, die ich hier aber nicht näher kommentieren möchte.

Interview: Dietmar Jochum, TP Berlin

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