Sehr geehrte, liebe Margot Friedländer,
sehr geehrter Herr Schmitz-Schwarzkopf,
sehr geehrte Freunde und Förderer der Schwarzkopf-Stiftung,
sehr geehrter Herr Klein,
liebe Schülerinnen und Schüler,
meine Damen und Herren,
86 Jahre sind vergangen seit den sogenannten Nürnberger Rassengesetzen,
83 Jahre seit der Reichspogromnacht, 79 Jahre seit der
Wannseekonferenz und 76 Jahre seit der Befreiung des Konzentrationslagers
Auschwitz.
Liebe Frau Friedländer, Sie haben die von Deutschland im Nationalsozialismus
begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit ‑ gegen das Menschsein an
sich – durchlitten. Im Untergrund, in Verstecken und dann im
Konzentrationslager Theresienstadt überlebten Sie die Verfolgung und den Krieg,
während fast Ihre gesamte Familie ermordet wurde. Nach dem Krieg emigrierten
Sie nach New York, kehrten jedoch mit fast 90 Jahren in Ihre Heimatstadt
Berlin zurück. Herr Schmitz hat darauf hingewiesen.
Es gibt nur wenige Geschichten vom Überleben, wie Sie in Ihren Erinnerungen
schreiben. Hinzu kommt, dass die Überlebenden so viel verloren, dass auch das
Weiterleben sehr schwer wurde. Der Verlust der Familie, der Freunde, der
Heimat ‑ das alles schlug Wunden, die sich kaum oder gar nicht heilen
ließen. Umso dankbarer müssen wir sein, wenn Menschen wie Margot Friedländer
die Kraft fanden, von ihrer Lebens- und Leidensgeschichte zu erzählen.
Sie legten und legen weiter Zeugnis ab. Sie spannen in Ihren Berichten einen
Bogen von der Vergangenheit zur Gegenwart. Sie setzen sich für Verständigung
und Toleranz ein. Sie berichten Schülerinnen und Schülern, was es bedeutete,
als junger Mensch in der Heimatstadt untertauchen und Verrat fürchten zu
müssen, hilflos der Willkür anderer ausgeliefert zu sein.
Sie tun das, weil Sie überzeugt sind, dass es zwar wichtig, aber nicht
ausreichend ist, auf die nackten Zahlen und Entwicklungslinien zu blicken, um
zu lernen, wie verletzlich ein von Verständigung und Toleranz getragenes
menschliches Miteinander ist. Sie tun das, weil Sie überzeugt sind, dass es von
überragender Bedeutung ist, junge Menschen dafür zu gewinnen, sich entschieden
gegen Ausgrenzung, Abwertung, Rassismus, Antisemitismus und jede Form
gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit zu wenden.
Es ist diese Haltung, die auch die an diesem Wettbewerb beteiligten
Schülerinnen und Schüler leitet. Sie, liebe Schülerinnen und Schüler, widmen
sich mit Ihren Projekten dem Leben und Schicksal von Menschen, die wie alle
Menschen Träume und Hoffnungen hatten und die dieser Träume und Hoffnungen,
mehr noch, die ihrer Würde beraubt und schließlich systematisch ermordet
wurden.
Dieses Engagement macht dem nach Margot Friedländer benannten Preis zu einer
ganz besonderen Auszeichnung. Ich freue mich sehr über das große Interesse, das
dieser Preis bei jungen Menschen überall in Deutschland erfährt.
Meine Damen und Herren, was macht eine freiheitliche, plurale und tolerante,
kurz: eine menschliche Gesellschaft aus? Im Kern ist es das Bekenntnis, das in
Artikel 1 unseres Grundgesetzes festgeschrieben ist: Es ist die unantastbare
Würde des Menschen, die zu achten und zu schützen Verpflichtung aller
staatlichen Gewalt ist.
Eine solche Gesellschaft ist sich zugleich bewusst, was sie niemals dulden will
und darf: Wir dulden keinen Rassismus. Wir dulden keinen Antisemitismus. Wir dulden
keine gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. Wir dulden weder Hass noch Gewalt
in unserer Gesellschaft.
Nicht dulden, das heißt: Wir bleiben weder untätig noch gleichgültig, sondern
wir setzen uns ‑ notfalls mit der ganzen Konsequenz unseres Rechtsstaats ‑
entschlossen für die Würde des einzelnen Menschen und für ein friedliches
Miteinander ein. Es ist beschämend, das überhaupt betonen zu müssen. Doch
allein im Jahr 2020 wurden fast 18 Prozent mehr rechtsextremistische
Straftaten mit antisemitischem Hintergrund verübt als im Jahr zuvor. 2.173
solcher Taten wurden registriert, im Schnitt also mehr als fünf pro Tag. Und
die Dunkelziffer dürfte deutlich höher sein.
Mit Sorge sehen wir, wie Antisemitismus zunehmend enthemmter und offener zu
Tage tritt. So wurden beispielsweise bei Demonstrationen gegen die Maßnahmen
von Bund und Ländern zur Bekämpfung der Coronaviruspandemie Vergleiche der
Coronaregeln mit der Verfolgung der Juden im Nationalsozialismus gezogen, indem
gelbe Sterne getragen wurde, heute mit der Aufschrift „ungeimpft“. Das ist eine
unerträgliche Verhöhnung des Leids der Opfer im Holocaust.
Oder es wurde erst vor wenigen Wochen in Köln wieder ein junger Mann mit Kippa
beleidigt, geschlagen und schwer verletzt. Wir haben natürlich auch nicht
vergessen, dass am 9. Oktober 2019 ein rechtsextremistischer Terrorist in
die Synagoge in Halle einzudringen versuchte, um dort ein Blutbad anzurichten.
Er scheiterte zwar mit seinem eigentlichen Plan, doch er brachte zwei Menschen
um, die ihm zufällig im Weg waren. Erst in der vergangenen Woche konnte ein
mutmaßlich islamistisch-antisemitisch motivierter Anschlag auf die Synagoge in
Hagen vereitelt werden. Der mutmaßliche Täter ist inzwischen in Haft.
Taten wie diese, ob vollendet oder vereitelt, treffen stets einzelne Menschen,
aber zugleich treffen sie auch unsere Gesellschaft als Ganzes. Ihr Zusammenhalt
lebt von der Achtung der Würde jedes einzelnen Menschen. Daher können solche
Taten auch nicht ohne Antwort des Staates bleiben. Und das bleiben sie auch
nicht. Wir haben unser Strafgesetz geändert. Damit wirken sich rassistische und
antisemitische Tatmotive strafverschärfend aus. Wir haben die Programme gegen
Extremismus und Menschenfeindlichkeit in den letzten Jahren massiv ausgebaut.
Wir haben einen Kabinettausschuss zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und
Rassismus eingesetzt. Viele der vom Ausschuss vorgeschlagenen Maßnahmen werden
bereits umgesetzt. Wir haben das Amt des Beauftragten für jüdisches Leben in
Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus eingerichtet. Ich freue mich,
dass Felix Klein heute auch hier mit dabei ist.
Wie prägend und sichtbar jüdisches Leben und jüdische Kultur in unserem Land
waren und sind, wird einmal mehr gerade in diesem Jahr deutlich, dem
Jubiläumsjahr anlässlich von 1.700 Jahren jüdischen Lebens in Deutschland.
Mit ihrem neuesten Buch tragen auch Sie, liebe Frau Friedländer, zu diesem
Jubiläum bei. Jüdisches Leben in unserem Land muss sich frei und sicher
entfalten können. Dieser Aufgabe ist der Staat verpflichtet. Dieser Aufgabe
muss sich auch eine wachsame Zivilgesellschaft verpflichtet sehen.
Das zu fördern und zu unterstützen, ist der Bundesregierung ein besonderes
Anliegen und geschieht auf vielfältige Weise. Dazu gehört auch die Förderung
der Schwarzkopf-Stiftung Junges Europa. Es ist von entscheidender Bedeutung für
den Zusammenhalt und damit die Zukunft unserer Gesellschaft, die Erinnerung an
den von Deutschland im Nationalsozialismus begangenen Zivilisationsbruch der
Shoa wachzuhalten und diese Erinnerung weiterzutragen. Denn nur mit dem
Verständnis der immerwährenden Verantwortung Deutschlands für dieses Verbrechen
kann eine gute Zukunft gestaltet werden.
Dazu ist es von so überragender Bedeutung, dass Sie, liebe Frau Friedländer,
unermüdlich das Gespräch mit Kindern und Jugendlichen suchen. Ich weiß von
Ihrem Auftritt in meinem Wahlkreis, über den man heute noch spricht, dass es
für die jungen Menschen, die Schülerinnen und Schüler, eine prägende Erfahrung
ist, mit Ihnen zusammenzutreffen und Ihnen zuzuhören. Ich danke Ihnen von
ganzem Herzen, dass Sie das immer und immer wieder tun.
Mein großer Dank gilt auch allen Beteiligten der Schwarzkopf-Stiftung Junges
Europa sowie ihren Unterstützern und Förderern, die den
Margot-Friedländer-Preis möglich machen. Es geht dabei um mehr, als Sieger zu
küren und Preisgelder zu verteilen. Es geht vor allem darum, das Engagement
junger Menschen nachhaltig zu stärken. Ich freue mich deshalb auch sehr
darüber, dass die Jury dieses Preises von einer jungen Jury unterstützt wird,
die unter anderem mit ehemaligen Wettbewerbsteilnehmerinnen und -teilnehmern
besetzt ist. Ich möchte dafür ganz herzlich danke sagen.
Der Ideenreichtum und die Kreativität, die in den Projekten stecken, sind jedes
Jahr aufs Neue beeindruckend. Das gilt für alle Projekte, die am Wettbewerb
beteiligt sind. Deshalb möchte ich auch allen beteiligten Schülerinnen und
Schülern für ihr großartiges Engagement und allen, die sie darin unterstützen ‑ das
sind ja auch viele ‑, danken. Sie alle bereichern die so wichtige
Erinnerungsarbeit.
Das gilt natürlich in ganz besonderer Weise für die drei aktuellen
Preisträger-Projekte. Wir haben schon ein bisschen davon gehört. Die erste
Auszeichnung geht an das Projekt „Spurensuche ‑ Tagebuch der Gefühle“ aus
Halle. Schülerinnen und Schüler aus verschiedenen Schulen schreiben und wirken
seit Jahren daran mit. Sie verfolgen Leidenswege jüdischer Menschen in Europa.
Ihre Recherchen, ihre Gedanken, Gefühle und Erlebnisse halten sie in
Tagebüchern fest, aus denen sie auch in Lesungen vortragen.
Die zweite Auszeichnung geht an das Projekt „Unvergessen-Podcast“. Dieses
Projekt wird am Warburger Johann-Conrad-Schlaun Berufskolleg in
Nordrhein-Westfalen umgesetzt. In den einzelnen Folgen ihres Podcast widmen
sich junge Menschen ‑ auch in Interviews ‑ Erfahrungen mit
Ausgrenzung, Diskriminierung, Migration. Die Macher des Podcast haben sich
hierbei für einen regionalen Blickwinkel entschieden, um so eine stärkere Nähe
herstellen zu können. Dazu enthalten die einzelnen Folgen thematische
Hintergründe, Interviews mit Expertinnen und Experten und Schilderungen
persönlicher Biografien.
Die dritte Auszeichnung schließlich geht an das Projekt „Spuren im
Stadtbild ‑ Verfolgung und Enteignung jüdischer Leipziger:innen“. Das
Projekt wird verwirklicht von der Humboldtschule – Gymnasium der Stadt Leipzig.
In der Leipziger Innenstadt befinden sich historische Gewerbe- und
Geschäftshäuser, die ihren jüdischen Eigentümern geraubt wurden. Die
Projektgruppe erforscht die Geschichte dieser Häuser und spürt ihrer Nutzung
nach der Enteignung bis heute nach.
Ihnen, liebe Preisträgerinnen und Preisträger, und allen an den weiteren
Projekten Beteiligten gratuliere ich von Herzen und wünsche Ihnen für die
weitere Umsetzung Ihrer Projekte alles erdenklich Gute. Nun freue ich mich
natürlich, die Auszeichnung gemeinsam mit Margot Friedländer vornehmen zu
können.
Herzlichen Dank.
Foto: Margot Friedländer
Fotoquelle: TP Presseagentur Berlin