Rede von Bundesratspräsident Bodo Ramelow zum Gedenken an die Opfer von Sinti und Roma sowie der Gruppe der Jenischen.

„Meine sehr verehrten Damen und Herren,

ich begrüße ganz herzlich die Delegationen der Zentralräte der Deutschen Sinti und Roma und der Sinti-Allianz wie in jedem Jahr hier im Deutschen Bundesrat.

Namentlich möchte ich Oskar Weiss, als Vorsitzenden der Sinti-Allianz begrüßen.

Besonders freue ich mich, Romani Rose, den langjährigen Vorsitzenden des Zentralrats der Sinti und Roma, zu sehen, den ich zu meinen Freunden zählen darf.

An meinem ersten Amtstag als Ministerpräsident Thüringens habe ich mit ihm zusammen die jüdische Gemeinde in Erfurt besucht. Denn mir war und ist wichtig, den Holocaust an den Sinti und Roma und den Juden im Gesamtzusammenhang der mörderischen nationalsozialistischen Rassenideologie zu sehen.

Der sogenannte „Auschwitz Erlass“ vom 16. Dezember 1942 – gestern vor 79 Jahren – war, als letzte Stufe der Verfolgung von Sinti und Roma, die Anordnung zu Deportation und Mord von Mitbürgern, Mitmenschen, Nachbarn. Doch diese ließen die deutschen Sinti und Roma großenteils im Stich. Genauso wie die Juden im Stich gelassen wurden. Auch die Kirchen schritten damals nicht ein, obwohl es sich um Mitglieder der eigenen Katholischen Kirche handelte.

So versuchte der Vater von Romani Rose 1943 beim Münchner Kardinal Faulhaber vorzusprechen, um die Deportationen zu verhindern. Er wurde nicht einmal vorgelassen und Faulhaber notierte in seinem Tagebuch: „Bei Sekretär ein Zigeuner, katholisch – Die Zigeuner im Reichsgebiet sollen in ein Lager gesammelt und sterilisiert werden, die Kirche soll einschreiten. Will durchaus zu mir. – Nein, kann keine Hilfe in Aussicht stellen.“ Am Ende wurden mehr als die Hälfte der deutschen Sinti und Roma ermordet.

Europaweit waren es über eine halbe Million. Wer gedacht hätte, die Verfolgung wäre nach der Befreiung 1945 zu Ende gewesen, irrte. Stattdessen wurde in der Bundesrepublik die Stigmatisierung und rassistische Kriminalisierung der Sinti und Roma weitergeführt.

Sinti und Roma wurden Opferstatus und Wiedergutmachung verweigert mit der Begründung, sie seien aus rein kriminalpräventiven Gründen verfolgt worden. Ihre auf dem Unterarm tätowierten Häftlingsnummern aus Auschwitz wurden Teil der polizeilich geführten Akten zur – wie es hieß – „Bekämpfung des Zigeunerunwesens“.

Die Kontinuitäten waren auch personeller Art. So machte Heinrich Böhlhof, der für die Umsetzung von Himmlers Auschwitz-Erlass in konkrete Politik verantwortlich war, in der bundesdeutschen Polizei Karriere als Leiter der Kripo in Dortmund. Er starb 1961, ohne jemals für seine Verbrechen angeklagt, verurteilt und bestraft worden zu sein.

Auch in unserer jüngeren deutschen Geschichte – bei den NSU-Ermittlungen – kam es zu einem antiziganistischen Reflex. Die DNA-Spur, die sich überall auffinden ließ, wurde polizeilich als Hinweis auf „Fahrendes Volk“ gedeutet. Romani Rose hatte mir davon berichtet, als ich ihn in Heidelberg in der Sinti&Roma-Gedenkstätte besucht habe. Später stellte sich ja heraus, dass die Genspur von der Mitarbeiterin eines Verpackungsbetriebs für Wattestäbchen stammte, die für den Abstrich der DNA-Proben genutzt worden waren. Die offizielle Anerkennung der Sinti und Roma als Opfer des Nationalsozialismus ließ bis 1982 auf sich warten. Sie war das Ergebnis einer langjährigen Bürgerrechtsarbeit. Die bekannteste Aktion in diesem Zusammenhang war der Hungerstreik junger Sinti um Romani Rose im KZ Dachau zu Ostern 1980.

Aber auch in der DDR gab es die Kontinuitäten antiziganistischer Klischees und Praktiken, die dazu beitrugen, dass viele Sinti und Roma nicht als Verfolgte des NS-Regimes anerkannt wurden. So nutzten auch ost-deutsche Polizeibehörden die in der NS-Zeit geführten sogenannten „Zigeunerpersonalakten“ weiter.

Die viel zu späte Anerkennung der Sinti und Roma als Opfer hatte auch weitreichende Folgen für die Erinnerungskultur. So wurden die Gräber der Opfer von Sinti und Roma, anders als etwa die der Wehrmachtsoldaten, nicht unter Schutz gestellt. Dies wurde erst 2018 mit der Bund-Länder-Regelung zum Erhalt der Grabstätten NS-verfolgter Sinti und Roma erreicht. Übrigens das Ergebnis einer Bundesratsinitiative von Thüringen und Bayern, welches alle Länder hier in der Runde mitgetragen haben und danach von einem Beschluss der MPK mit der Bundeskanzlerin aufgegriffen wurde. Dennoch durchziehen die Stereotype und Zerrbilder des Antiziganismus weiter die Deutsche Gesellschaft. Es braucht offenbar nie viel, damit Sinti und Roma – so wie bei den NSU-Morden – unter Verdacht geraten. Und Rechtsterroristen schaffen wie in Hanau neue Opfer. Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass es sich beim Antiziganismus – ebenso wie beim Antisemitismus – um eine spezifische Form des Rassenhasses handelt. Entsprechend hat im letzten Jahr die Internationale Allianz zum Holocaust-Gedenken unter deutschem Vorsitz eine Arbeitsdefinition für Antiziganismus in Anlehnung an den Begriff des Antisemitismus verabschiedet. Wir sind aufgefordert, diesen auch in Deutschland anzuerkennen und seine Erscheinungsformen konsequent zu bekämpfen. 2019 wurde durch die Bundesregierung eine unabhängige Expertenkommission ins Leben gerufen, um den Antiziganismus in Deutschland zu untersuchen. Seit Juli liegt nun der Bericht mit umfassenden Empfehlungen vor. Der Befund der Kommission ist eindeutig. Wir haben ein ernstes gesamtgesellschaftliches Problem und brauchen einen Perspektivwechsel!

Breite empirische Erhebungen belegen den Antiziganismus etwa in kommunaler Verwaltung, Schulbüchern und Polizei. Als Konsequenz fordert die Kommission eine umfassende Strategie. Unter anderem empfiehlt sie Bund und Ländern, Beauftragte gegen Antiziganismus zu berufen und eine ständige Bund-Länder-Kommission zu schaffen, um die Arbeit gegen Antiziganismus auf höchster Ebene politisch zu verankern. Zudem verlangt sie, die zahlreichen Defizite bei der „Wiedergutmachung“ für NS-Verfolgte zu kompensieren. Diese Empfehlungen sollten wir umsetzen.

Darüber hinaus brauche es einen umfassenden Prozess der Aufarbeitung der sogenannten Zweiten Verfolgung nach 1945 durch eine Wahrheitskommission, die die Perspektiven von Sinti und Roma aufgreift, so die Empfehlung der Experten. Auch wir in den Ländern müssen hier einen Schritt tun. Das betrifft vor allem die Rolle der Landeskriminalämter. Bayern ist hier bereits mit gutem Beispiel vorangegangen und hat eine Studie über „Das Bayerische Landeskriminalamt und seine ´Zigeunerpolizeistelle´“ verfasst. Sie ist diese Woche in München vom LKA-Präsidenten der Öffentlichkeit vorgestellt worden.

Die unabhängige Expertenkommission stellt weiterhin fest, dass es auch in der Asylpolitik seit Jahrzehnten zu einer erheblichen Benachteiligung von Roma gekommen ist, die in Deutschland Schutz vor Verfolgung, Diskriminierung, Gewalt und Krieg suchten. Ich finde, dass die im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung vorgesehenen Änderungen im Aufenthaltsrecht auch die Anerkennung geflüchteter Roma als besonders schutzwürdige Gruppe beinhalten sollte. Deutschland muss hier seine Verpflichtung wahrnehmen und zur Ächtung des Antiziganismus in ganz Europa beitragen. Der geforderte Perspektivwechsel bezieht sich aber vor allem auch auf verbesserte Partizipationsstrukturen für Sinti und Roma, insbesondere durch die Entsendung von Minderheitenangehörigen in staatliche Gremien, wie die Rundfunkräte und Landesmedienanstalten. Wenn wir diesen Perspektivwechsel vornehmen, können wir ein neues, besseres Kapitel aufschlagen. Sinti, Roma, die Jenischen und andere sind ein wichtiger Teil der Vielfalt unseres Landes und gehören zu uns. Sie leben seit vielen Jahrhunderten als Deutsche unter Deutschen. Die Verbrechen an ihnen waren Verbrechen an Mitbürgern. An die Opfer denken wir mit Trauer. Ich bitte Sie, sich von Ihren Plätzen zu erheben.“

Foto: Romani Rose

Fotoquelle: TP Presseagentur Berlin

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