Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) hat einen verantwortungsvollen Umgang mit dem Thema Nation angemahnt. Dass das Thema in der nationalsozialistischen Zeit „grauenvoll missbraucht wurde“, sei jedermann bekannt, sagte Schäuble in einem Gespräch mit der Wochenzeitung „Das Parlament“. Dabei wisse man aus der deutschen Geschichte schon vor 1933, dass es verheerende Folgen habe, nationale Gefühle zu übertreiben. „Sie einfach wegzuschieben, wäre aber auch ganz falsch – dann überlassen wir sie den Gegnern der freiheitlichen Demokratie“, betonte der Parlamentspräsident. Es sei für jede freiheitliche Organisation des Zusammenlebens wichtig, „dass es etwas gibt, das den Menschen eine gewisse Zugehörigkeit vermittelt“.
Dieses „Wir“ wolle er „gar nicht so genau definieren, das hätte immer etwas Abschließendes an sich“, fügte Schäuble hinzu: „Wir sind aber eine offene Gesellschaft“. Es gehörten nicht nur diejenigen dazu, deren Urgroßeltern schon hier geboren sind.
Er verwies zugleich darauf, dass auch Werte Identität und Zugehörigkeit stifteten. Die Werte des Grundgesetzes, insbesondere die Unantastbarkeit der Menschenwürde, seien „doch etwas Tolles“, unterstrich der CDU-Parlamentarier. Nation sei indes „mehr als das, was der Begriff Verfassungspatriotismus meint“. Man erreiche die Menschen nicht allein mit der Ratio, sondern auch die Emotionen gehörten dazu. „Ein vernünftiger Umgang damit, was Nation ist, kann die stärksten Kräfte im Menschen ansprechen, zum Beispiel Solidarität. Das ist doch gut“, sagte der Bundestagspräsident.
Die TP Presseagentur Berlin
dokumentiert das am kommenden Montag (4. Januar 2021) in der Wochenzeitung „Das Parlament“
erscheinende Interview vorab im vollen
Wortlaut:
Herr
Präsident, den Deutschen wird gern attestiert, sich beim Thema Nation schwer zu
tun, als Folge der nationalsozialistischen Verbrechen. Zu Recht?
Dass das Thema Nation in der nationalsozialistischen Zeit grauenvoll
missbraucht wurde, ist jedermann bekannt. Insofern ist nachvollziehbar, dass
die Deutschen sich damit schwerer tun, auch wenn man manchmal das Gefühl hat,
dass nicht mehr alle so gern daran erinnert werden wollen, in welchen Abgrund
Deutsche sich selbst und die Menschheit geführt haben. Aber das bleibt immer
ein Teil unserer Geschichte und der Umgang damit Teil unserer nationalen
Identität. Davon unbenommen ist für jede freiheitliche Organisation des
Zusammenlebens – zumal unter den Bedingungen der Moderne – wichtig, dass es
etwas gibt, das den Menschen eine gewisse Zugehörigkeit vermittelt.
Zum Beispiel
Nation?
Was immer die Nation im Einzelnen ist: In der Regel, und das weit über Europa
hinaus, bildet sich in ihr staatliche Organisation – insbesondere dann, wenn
diese auf einer freiheitlichen Grundlage erfolgt. Zur freiheitlichen
Staatsorganisation gehört zwingend, dass die Bürger Mehrheitsentscheidungen
akzeptieren. Das macht das Zugehörigkeitsbewusstsein der Menschen so wichtig
für die Demokratie. Deshalb müssen wir mit dem Begriff Nation und allem, was
sich damit verbindet, verantwortungsvoll umgehen. Nationale Gefühle zu
übertreiben, das wissen wir aus unserer Geschichte auch schon vor 1933, hat
verheerende Folgen, sie einfach wegzuschieben, wäre aber auch ganz falsch –
dann überlassen wir sie den Gegnern der freiheitlichen Demokratie.
Während der
deutschen Teilung wurde im Westen zwar staatlicherseits die Einheit der Nation
betont, das Gros der Bevölkerung – zumal die Jüngeren – aber orientierte sich
stark nach Westen.
Das stimmt. Wenn man nicht persönliche Beziehungen hatte oder im
Zonenrandgebiet lebte, waren Paris, Italien oder die USA viel interessanter.
Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Ich habe damals zu denen gehört, die an
der Einheit der Nation festhielten – da galt man schon fast als kalter Krieger.
Und es gab in Deutschland – anders als im geteilten Korea – immer viele
gesellschaftliche Kontakte: durch die vielen persönlichen Beziehungen, durch
die evangelische Kirche, und auch dadurch, dass die Menschen in der DDR
Westfernsehen geschaut haben. Ein Drittel der Bevölkerung war in den letzten
Jahren vor dem Mauerfall jährlich für eine Woche im Westen; wir hatten dazu den
Besucherverkehr zwischen der Bundesrepublik und der DDR stark ausgeweitet. Bei
der Friedlichen Revolution dauerte es dann nur ein paar Wochen, bis aus dem Ruf
„Wir sind das Volk“ der Ruf „Wir sind ein Volk“ wurde.
Dieser Ruf
war nicht nur der Anziehungskraft der D-Mark und der Verlockungen des
Westfernsehens geschuldet?
Die Debatte, ob damals nur der Konsum lockte, ödet mich manchmal etwas an: Es
war nicht nur der Konsum! Die Reisefreiheit war mindestens so entscheidend,
überhaupt der Wunsch, frei zu leben. Dass der Beitritt der DDR zum Grundgesetz
so schnell ging, hat ausschließlich die Mehrheit der Menschen in der DDR
bestimmt. Die wollten so leben, wie sie es mit der Bundesrepublik verbanden.
Sie hatten ja eine eigene Vorstellung davon, wie es in Westdeutschland sei, und
die Mehrheit fühlte sich davon ausgesprochen angezogen. Und sie waren dann eben
Deutsche in Deutschland. Denn es war doch mehr an Einheit geblieben. Das zeigt:
Nation ist viel mehr als das, was der Begriff Verfassungspatriotismus meint….
…also
Identifikation mit Werten, Verfahren, Institutionen der Verfassung…
… alles wahr, aber man erreicht die Menschen eben nicht allein mit der Ratio
– die Emotionen gehören dazu. Ein vernünftiger Umgang damit, was Nation ist,
kann die stärksten Kräfte im Menschen ansprechen, zum Beispiel Solidarität. Das
ist doch gut. Für mich stammt die schönste Definition von Richard Schröder, dem
SPD-Fraktionsvorsitzenden in der frei gewählten DDR-Volkskammer. Der sagte:
„Deutschland ist nichts Besonderes, aber etwas Bestimmtes“ – und jeder braucht
etwas Bestimmtes.
Haben
Friedliche Revolution und Einheit auch zu einer Renaissance des deutschen
Nationalgefühls insgesamt geführt, das sich etwa beim „Sommermärchen“ während
der Fußball-WM in Deutschland 2006 zeigte?
Das gab es schon vorher. Eine Zeit lang war es verpönt, Flagge zu zeigen. Aber
ich kann mich erinnern, wie Boris Becker in den 1980er Jahren, deutlich vor der
Wiedervereinigung, nach einem dramatischen Davis-Cup-Spiel gegen John McEnroe
mit der schwarz-rot-goldenen Fahne herumlief. Insofern hatte das einen Vorlauf;
es war schon länger nicht mehr völlig verpönt. Beim sogenannten Sommermärchen
hat das dann einen Höhepunkt gefunden. Warum auch sollen nicht alle an ihre
Autos eine schwarz-rot-goldene Fahne hängen, wenn es ihnen Spaß macht? Das war
kein überzogener Nationalismus, eher eine Mode. Aber noch viel schöner an dem
Sommermärchen war ja die Tatsache, dass man in diesem Deutschland fröhlich sein
kann. Selbst als die deutsche Mannschaft ausgeschieden war, hat dies der
Stimmung keinen Abbruch getan. Das ist eigentlich fast ein Symbol für einen
vernünftigen Umgang mit der Nation: Die Menschen haben sich einfach weiter
gefreut und mit Gästen aus der ganzen Welt gefeiert. Und wenn die Mannschaft
das Spiel um den dritten Platz verloren hätte, wäre sie am Brandenburger Tor
genauso gefeiert worden. Das war eine Phase, in der wir einen entspannten, aber
vernünftigen Umgang mit der Nation hatten: gemäßigt und unverkrampft. Das war
nicht schlecht, und das würde ich mir auch für die Zukunft wünschen.
Gibt das
„Wir-Gefühl“ den Menschen Halt?
Ein Stück weit ja. Nicht im Überschwang, da steckt immer eine Gefahr drin. Aber
ein Zugehörigkeitsgefühl kann helfen, vor allem eine gemeinsame Aufgabe. Denken
Sie an die Anfangsphase der Flüchtlingskrise, an die Bilder vom Münchner
Hauptbahnhof, dieses „Wir helfen denen, so gut wir können; das kriegen wir
gemeinsam hin“. Wir dürfen dieses emotionale Bindemittel nicht den Gegnern der
Demokratie überlassen.
Sie haben in
diesem Zusammenhang von einer identitätsstiftenden Funktion der Nation
gesprochen…
Ja. Sobald Sie anfangen, dieses „Wir“ genauer zu definieren, kommen Sie ins
Unterholz: Warum feuern wir beim Länderspiel gegen Frankreich die eigene
Mannschaft an? Nicht wegen der Verfassung; die Grundwerte hat Frankreich auch,
und trotzdem ist man für die eigene Mannschaft – einfach nur, weil es „unsere“
ist.
Ist dieses
„Wir“ die historisch gewachsene Gemeinschaft mit gleicher Sprache, Kultur,
Geschichte?
Dieses „Wir“ will ich gar nicht so genau definieren, das hätte immer etwas
Abschließendes an sich. Wir sind aber eine offene Gesellschaft. Es gehören
nicht nur diejenigen dazu, deren Urgroßeltern schon hier geboren sind. Die
Migration, die Mobilität hat sich unheimlich beschleunigt. Am Ende des Zweiten
Weltkriegs sind mindestens 15 Millionen Menschen von Ost nach West verschoben
worden. Das hat damals auch „gerumpelt“; so angesehen waren die deutschen
Flüchtlinge in den ersten Jahren in ihrer neuen Heimat nicht. Aber wir haben es
verkraftet. Und jetzt müssen wir die viel stärkeren globalen
Wanderungsbewegungen auch verkraften. Das ist eine der großen Herausforderungen
der freiheitlichen Gesellschaft. Wenn wir allerdings zurückfallen in den
Anspruch „Me first“, wird die Welt nicht besser, sondern schwieriger.
Wir leben in
einer offenen, pluralen Gesellschaft, in der jeder Vierte einen
Migrationshintergrund hat. Neben der „Kulturnation“ gibt es auch das Modell der
„Staatsnation“, deren Bürger auf der Grundlage bestimmter Werte, Rechte und
Pflichten zusammenfinden. Ist das ein Gegensatz?
Nein, das ergänzt sich. Denken Sie an die Aufnahme der Hugenotten in Preußen im
17. Jahrhundert: Das waren nicht Bürger zweiter Klasse. Über das Abstammungs-
und das Territorialprinzip beim Staatsbürgerschaftsrecht kann man trefflich
streiten; diese Debatte habe ich auch eine Zeit lang aushalten müssen, aber
heute sind wir darüber hinweg. Man kann seine Staatsbürgerschaft wechseln, und
die Staatsbürgerschaft muss man in ihrer Bedeutung nicht überziehen. Aber ohne
eine gewisse Zuordnung, welcher Staat für wen mit welchen Rechten und Pflichten
zuständig ist, geht es nicht. Teilhabe braucht Teilnahme, also Zugehörigkeit.
Um dabei auf
das Stichwort Verfassungspatriotismus zurückzukommen: Stiftet nicht auch das
Zusammenfinden zu bestimmten Werten Identität?
Das ist kein Entweder-oder, das überlagert sich gegenseitig. Werte stiften
natürlich Identität und Zugehörigkeit. Die Werte des Grundgesetzes,
insbesondere die Unantastbarkeit der Menschenwürde, sind doch etwas Tolles. Und
für Franzosen sind natürlich die Werte der Revolution, also Liberté, Égalité,
Fraternité, von ganz entscheidender Bedeutung. Ich habe nichts gegen
Verfassungspatriotismus, im Gegenteil: Ein vernünftiger Deutscher, dem sein
Land nicht völlig egal ist, ein Patriot, der darf die Menschenwürde nicht mit
Füßen treten. Sonst ist er kein guter Deutscher.
Sie sind ein
ausgewiesener Europäer. Ihre Generation und die vorherige hat im Aufbau eines
gemeinsamen Europa eine identitätsstiftende Aufgabe gefunden. Geht dieses
Identitätsstiftende, geht die europäische Begeisterung verloren?
Ich hoffe nicht, aber die Frage ist nicht entschieden. Natürlich ist die
europäische Identität noch eine zarte Pflanze. Sie war wie der
Verfassungspatriotismus am Anfang eher eine Kopfgeburt, weil man nicht noch
einmal Krieg wollte; dann besann man sich: Europa war doch immer schon mehr.
Statt „Wir-Gefühl“ kann man auch pathetischer von „Schicksalsgemeinschaft“
sprechen. Die Nation ist eine Schicksalsgemeinschaft, und Europa ist das im 21.
Jahrhundert auch. Aber eben noch bei vielen eher im Kopf. Deshalb brauchen wir
mehr Identitätsstiftung.
Was könnte
dazu beitragen?
Früher hat man Identität gewonnen über Mythen und große Erzählungen, über
gemeinsame Erfolge oder Niederlagen. Für Europa wird das schwierig; wir wollen
ja keine europäischen Kriege führen. Was also stiftet Identität? Da
Personalentscheidungen bei vielen Menschen oft sehr viel mehr Interesse wecken
als Wahlen von irgendwelchen Listen, habe ich vorgeschlagen, dass wir den
Präsidenten der Europäischen Kommission direkt durch das Volk wählen sollten.
Das würde beim ersten Mal sicher auch „rumpeln“, nicht zuletzt wegen der
Sprachenfrage – aber wäre erst einmal ein Präsident gewählt, wäre das ein
identitätsstiftendes Element, über das man streiten kann. So etwas braucht
Europa noch mehr.
Europa ist
aber kein Nationalstaat oder könnte ihn ersetzen?
Ich bin gegen den Begriff „Vereinigte Staaten von Europa“, weil er bei den
Menschen Assoziationen von den Vereinigten Staaten von Amerika weckt, also von
einem größeren Nationalstaat. Ich glaube, dass der Nationalstaat als
Organisationsprinzip – im Sinne des vor 150 Jahren von Bismarck gegründeten
deutschen Nationalstaates – in der Endphase seiner geschichtlichen Bedeutung
ist. Er bleibt wichtig, aber wir werden Souveränität als die Allzuständigkeit
für die Regelung politischer Sachverhalte im 21. Jahrhundert vermutlich nicht
weiter allein auf nationaler Ebene leisten können. Nicht in der globalisierten
Welt. Die Zuständigkeiten werden sich auf verschiedene Ebenen verteilen. Aber
Zugehörigkeit und emotionale Bindung wird man auch in der Zukunft brauchen. Ich
würde einiges, was wir heute noch national regeln, an Europa abgeben, aber
dabei darf dann nicht die Nationalzugehörigkeit verloren gehen. Der richtige
Umgang damit – das ist die Aufgabe. Gerade in Zeiten der Globalisierung dürfen
wir nicht unsere Wurzeln kappen. Sonst werden wir anfälliger für Populisten.
Wenn wir globale Herausforderungen annehmen wollen, müssen die Menschen auch
das Gefühl haben: Ja, da gehören sie dazu, da sind sie dabei.
Fotoquelle: TP Presseagentur Berlin