Schuldig, aber keine Straftaten begangen.

TP-Tnterview mit Prof. Dr. Uwe Wesel zum Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte in Straßburg.

Frage:

Herr Prof. Wesel, Straßburg hat die Urteile gegen Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrates, des Politbüros und einen Grenzsoldaten bestätigt. Politisch?

Wesel:

Ja.

Frage:

Ist hier überhaupt DDR-Recht zugrunde gelegt worden, wie das behauptet wurde?

Wesel:

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg hat ja durchaus seine Verdienste, aber in diesem Fall ist das natürlich eine politische Wertung. Sie müssen ja bedenken, das sind Richter aus vielen Ländern, aus allen Mitgliedsstaaten des Europarates, und dessen Urteile sind in solchen Fällen, in denen es um politische Justiz geht, auch immer politisch zu verstehen. Wir haben ja erstaunlicherweise vor einigen Jahren ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes gehabt, das sich sogar mal gegen die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes und des Bundesverfassungsgerichts gewendet hat. Das war im Falle der Berufsverbote in den 70er Jahren. Da haben sie mal gesagt, das sei ein Verstoß gegen die Menschenrechte. So etwas kommt selten vor. Sie können von den Richtern in Straßburg nicht verlangen, daß sie sich nun gegen die Bundesrepublik wenden. Ich hatte ja auch gewisse Hoffnungen, weil ich der festen Überzeugung bin, daß wir uns hier am Rande der Rechtsbeugung bewegen. Auch die Anwendung der Radbruchschen Formel ist ja sehr problematisch, jedenfalls in den Fällen der Grenzsoldaten. Ich hatte eine gewisse Hoffnung, daß der Gerichtshof anders entscheidet, aber in politischen Strafsachen können Sie von politischen Gerichten keine rechtsdogmatische Kehrtwendung verlangen, wenn das, was das Oberste Gericht eines Mitgliedsstaates des Europarates – darum geht es ja – gesagt hat, für ungültig erklärt wird. Das machen die selten. Sie haben es im Falle der Berufsverbote gemacht, es jetzt noch einmal zu machen, wäre ein bißchen viel. Jetzt müssen wir damit leben, daß die Rechtsprechung so ist und auch vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte bestätigt wurde. Das sind politische Wertungen, die dahinter stehen, die muß man auch irgendwo verstehen.
Ich halte das Ganze für juristisch unmöglich, aber das ist nur meine eigene Meinung. Die überwiegende Meinung der Juristen in der Bundesrepublik – das muß man auch sagen – ist anderer Auffassung, ist nicht meiner Meinung. Ich stehe mit meiner Meinung ziemlich allein da, und dann können Sie nicht von den Richtern in Straßburg verlangen, daß sie sich dagegen wenden; denn Recht ist ja nicht nur das, was im Gesetz steht, oder was sich logisch aus dem Gesetz ergibt, sondern Recht ist das, was in den Köpfen von Juristen vor sich geht. Das ist nicht immer nur das, was im Gesetz steht oder was sich logisch daraus ergibt.

Frage:

In dem Straßburger Urteil wurde betont, daß es für einen Rechtsstaat legitim sei, gegen Personen, die unter einem früheren Regime Straftaten begangen haben, auch Strafverfahren durchzuführen. Die Gerichte könnten nicht dafür kritisiert werden, daß sie die zur Tatzeit geltenden Normen im Lichte der Grundsätze eines Rechtsstaates anwenden und auslegen. Juristische Logik oder auch nur politisch erklärbar?

Wesel:

Dieser Satz ist natürlich nicht ganz ohne Komik, aber so ist es eben.

Frage:

Das Bundesverfassungsgericht hat mal gesagt, daß die Verhältnismäßigkeitsgrundsätze in der DDR nicht galten. Sollte aber Verhältnismäßigkeit nicht Grundsatz jeglichen menschlichen Verhaltens sein, ohne daß sie irgendwo schriftlich fixiert sein muß?

Wesel:

Wissen Sie, der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist ziemlich neu. Für die Bundesrepublik ist er erst in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entwickelt worden. Das hätte vor 100 Jahren noch kein Mensch verlangt. Das gilt nicht für alle Menschen. Die DDR war nun eben kein Rechtsstaat, war aber auch kein Unrechtsstaat, aber von ihr zu verlangen, nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz vorzugehen – was ja der Bundesgerichtshof usw. tun -, das entbehrt natürlich alles nicht einer gewissen Komik. Wir haben ja auch in Bezug auf das, was man Bewältigung der Vergangenheit nennt – das ist ja so ein Wort, das am Anfang der Bundesrepublik entstanden ist, als wir uns mehr oder weniger geweigert haben, NS-Verbrechen richtig zu verfolgen -, auch nicht den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit auf das 3. Reich übertragen. Wenn wir das noch nicht einmal beim 3. Reich gemacht haben, können wir es auch schlecht von der DDR verlangen; das sind jetzt alles Versuche, logisch gegen diese Rechtsprechung anzugehen. Mit Logik hat das nicht viel zu tun. Das sind politische Entscheidungen. Die kann man für richtig halten, wie andere, ich halte sie für falsch, weil wir meiner Meinung nach nicht das Recht dazu haben und weil dahinter viele antikommunistische Ressentiments stehen. Diese existieren meistens nur in den Hinterköpfen der Richter und nicht in ihrem Bewußtsein. Und deswegen kann man auch schlecht von Rechtsbeugung sprechen.

Frage:

Im Rechtswörterbuch „Creifelds“ ist definiert, daß die Strafe die Schuld des Täters ausgleichen und ihm die Möglichkeit zur Sühne geben soll. Sie soll die verletzte Rechtsordnung wahren und den Rechtsfrieden wiederherstellen. Sind diese Strafzwecke mit den Urteilen gegen die Politbüromitglieder u.a. überhaupt vereinbar?

Wesel:

Wissen Sie, wenn man von Schuld redet, dann lasse ich ja mit mir reden. Natürlich sind die schuldig, nur haben sie keine Straftaten begangen.

Frage:

Wie ist das zu verstehen?

Wesel:

Sie sind moralisch schuldig geworden, aber nicht juristisch. Durch die Verurteilungen ist ja in der Tat auch irgendwo für viele Menschen in der DDR so eine Art Gerechtigkeitsgefühl entstanden, zumindest bei denjenigen, die da verfolgt worden oder in der Bürgerrechtsbewegung groß geworden sind und zunächst große Schwierigkeiten hatten. Diese Urteile wegen DDR-Unrechts, wie wir das nennen, sollen ja wieder eine politisch-moralische Funktion erfüllen. Das, was Creifelds sagt, das stimmt ja nun. Das Problem ist nur, daß die sich tatsächlich im Tatbestandbild – Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld – unterscheiden. Moralisch schuldig sind sie, und das Urteil der Geschichte wird ihnen gegenüber nicht sehr gnädig sein. Aber das Urteil unserer Gerichte ist falsch. Wenn Sie mich nach der Schuld dieser Menschen fragen, würde ich immer sagen: Ja, sie sind schuldig, moralisch sind sie schuldig, aber nicht juristisch.

Frage:

Sind die Richter nicht in der Lage zwischen moralischer und strafrechtlicher Schuld zu unterscheiden?

Wesel:

Nein. Ich bin der festen Überzeugung, daß die meinen, sie hätten Recht und man müßte diese Menschen verurteilen. Das ist eben zum einen im Unterbewußtsein das Gefühl „Wir wollen diesen Menschen da drüben gerecht werden, die gelitten haben“, also den Opferinteressen gerecht werden, obwohl wir an sich ein Täterstrafrecht haben, ein Tatstrafrecht, und zum anderen steht dahinter die ganze politische Stimmung in der westlichen Bundesrepublik. Die Richter hätten sich mehr oder weniger unmöglich gemacht, wenn sie so mutig gewesen wären, freizusprechen. Das können Sie keinem Richter vorwerfen. Sie können ihm auch keine Rechtsbeugung vorwerfen, weil sie das ja nicht bewußt gemacht haben, sondern mehr oder weniger unbewußt.

Frage:

Haben sie sich eher wie Elefanten im Porzellanladen verhalten?

Wesel:

Sich zu benehmen wie Elefanten im Porzellanladen, würde ich eher als etwas bewußtes bezeichnen. Die Richter bewegen sich halt im Rahmen des allgemeinen politischen Konsenses in der Bundesrepublik. Ich bin ziemlich sicher, in fünfzig oder sechzig Jahren wird man das Ganze auch juristisch anders beurteilen. Ich nehme an, dann wird man sagen, das war falsch.

Frage:

Wird man es politisch als richtig bewerten?

Wesel:

Politisch wird man das auch nicht sagen. Wir sagen ja auch heute, die Bundesrepublik hat versagt bei der Verfolgung von NS-Unrecht. Wir haben zum Beispiel keinen einzigen Richter des 3. Reiches wegen dieser unendlichen Zahl von 50000 Todesurteilen verurteilt. Was ja geradezu ungeheuerlich ist, wenn man diese Zahl nur mit der Zeit vorher vergleicht. Von der DDR mal ganz zu schweigen. Dort hat es ja auch nur wenige Todesurteile gegeben. Also die Justiz der Bundesrepublik hat bei der Verfolgung von NS-Unrecht versagt. Ich nehme an, in fünfzig oder sechzig Jahren werden wir sagen, daß wir hinsichtlich der Urteile gegen DDR-Funktionsträger Fehler gemacht haben, daß sie juristisch falsch waren.

Frage:

Bei meinen Beobachtungen der Politbüro-Prozesse hatte ich immer das Gefühl, daß es den Angeklagten weniger um die Auseinandersetzung mit den unterstellten kausalen Belangen gegangen ist (z.B. die Beschlüsse im Nationalen Verteidigungsrat oder im Politbüro), als vielmehr um die Darstellung der Souveränität zum einen, Abhängigkeit von der UdSSR zum andern, das historische Gewachsensein des Grenzregimes und andere staats- und völkerrechtliche Belange. Haben sie damit den Gerichten nicht eher zugearbeitet? Hätten sie sich nicht mehr um die materiell-rechtliche Seite kümmern und das Hauptgewicht der Verteidigung darauf legen müssen; hätten die Gerichte dann eine bessere Beweiswürdigungsgrundlage möglicherweise gehabt? Mein Eindruck war, daß die Richter das gar nicht wahrgenommen haben im 1. Politbüro-Prozeß.

Wesel:

Die hatten einfach kein Verständnis für das, was da in der DDR passiert ist. Ich nenne Ihnen ein Gegenbeispiel: Im Honecker-Prozeß hat der Vorsitzende Richter, Herr Boss, in der Begründung des Urteils gegen Keßler, Streletz und Albrecht das, was Sie hier vermissen, getan. Er hat mit sehr viel Verständnis die politische und menschliche Situation der DDR und unser Verhältnis dazu dargestellt. Im Honecker-Prozeß kann man sogar die Verurteilung rechtfertigen, denn die Beschlüsse des Nationalen Verteidigungsrates, für die Keßler, Streletz und Albrecht verantwortlich sind …

Frage:

… also auch noch welche aus den 70er Jahren …

Wesel:

… eben, die lagen viel früher, die sind auch in der Tat juristisch kausal zu sehen für den Tod von vielen Menschen, die an der Berliner Mauer und auch an der Grenze zur Bundesrepublik umgekommen sind. Da ist also das geschehen, was Sie im 1. Politbüro-Prozeß vermißten. Allerdings hat der Vorsitzende das nur im Rahmen der Strafzumessung gewürdigt, nicht im Hinblick auf die Verurteilung als solche. Diese geht für mich soweit in Ordnung, weil diese Beschlüsse weit zurückreichen und am Anfang dieser Mordmaschine standen. Aber was man jetzt mit den jüngeren Politbüro-Mitgliedern macht, kann ich nicht gutheißen. Sie müssen das auch in der Anklage psychologisch sehen. Warum hat man zum Beispiel Egon Krenz nicht in den NVR-Prozeß mit hineingenommen? Weil er eben erst sehr spät dort Mitglied wurde! Da hätte man ihn sehr schlecht verurteilen können – das ist doch der Witz und die Technik der Anklage. Dann hat man meiner Meinung nach auch bewußt die beiden Politbüro-Prozesse getrennt. Erstmal also die moralisch härteren Fälle, die höhere Verantwortung getragen haben, nämlich etwa Egon Krenz, der ja nun bis zum Schluß ein harter DDR-Marxist geblieben ist; nachdem man da seitens der Staatsanwaltschaft vorgearbeitet hatte, klagte man Häber und all die anderen an. Und weil man nun schon im 1. Verfahren eine gewisse moralische Berechtigung der Verurteilungen sah – ich sehe keine rechtliche -, konnte man auch gegen die anderen drei – Häber, Lorenz und Böhme – die Anklage durchbringen. Da hat aber dann vernünftigerweise dieser Richter der anderen Strafkammer – ich betone: es war ein älterer und sehr vernünftiger Richter – die Angeklagten freigesprochen, also gegen seine Kollegen entschieden, die im 1. Politbüro-Prozeß verurteilt haben. Er hat praktisch auf derselben Grundlage wie im 1. Politbüro-Prozeß freigesprochen. Das war schon mal was. Mehr können wir nicht verlangen.

Frage:

In den Prozessen war immer die Rede von Internationalen Pakten, z.B. auch dieser Pakt über bürgerliche und politische Rechte von 1966. Den hat die DDR bekanntlich ratifiziert, aber nicht in innerstaatliches Recht transformiert. Muß ein Pakt, den ein Staat eingegangen ist, unbedingt in innerstaatliches Recht transformiert werden, um Geltung zu erlangen?

Wesel:

Da ist die Situation in der DDR und in der Bundesrepublik sehr unterschiedlich. Wir haben eine Vorschrift im Grundgesetz, die das im Grunde genommen automatisch umsetzt. Die DDR hatte das nicht. Wenn die DDR sich völkerrechtlich verpflichtet hat nach außen, gewisse Grundsätze nach innen zu beachten, dann brauchte man dafür selbstverständlich einen zusätzlichen Akt innerhalb des DDR-Rechts, der das auch tatsächlich umsetzt. Die Verpflichtung nach außen ist nur eine Verpflichtung und keine Erfüllung.

Frage:

Sehen Sie in der Heranziehung der nicht umgesetzten Pakte in der DDR bei den Urteilen demzufolge eine unkorrekte Verurteilung?

Wesel:

So sehe ich das.

Frage:

Krenz-Anwalt Unger hat in einem Interview mit dem „Tagesspiegel“ gesagt, daß man bei den Beschwerden an den Straßburger Gerichtshof argumentativ nicht berücksichtigt hätte, daß sich an den Gerichtshof in der Regel nur solche Personen wenden, deren Menschenrechte durch einen Staat verletzt wurden und nicht solche, denen selbst die Verletzung von Menschenrechten vorgeworfen wird. Was wäre hier noch zu berücksichtigen gewesen, wo doch das Rückwirkungsverbot gerügt wurde, das ja auch ein Menschenrecht ist?

Wesel:

Da brauchte Unger keine Furcht haben. Auch wenn er das berücksichtigt hätte, würde der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Beschwerde zurückgewiesen haben.

Frage:

Er hat auch gesagt, es war kein politisches Urteil. Resignation seinerseits?

Wesel:

Das würde ich annehmen. Er hat wohl gesehen, was kommt.

Interview: Dietmar Jochum, 13.12.2002

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