Selbstgerechtigkeit ist Gift für alles.

TP-Interview mit Heinrich Graf von Einsiedel, MdB/PDS.

TP: Am 15. Mai d.J. haben sich 131 DUMA-Abgeordnete mit einem Offenen Brief an den Deutschen Bundestag gewandt. Als Mitglied des Auswärtigen Ausschusses wurde auch Ihnen dieser Brief vom Präsidium des Bundestages zugeleitet.
Die Abgeordneten der DUMA kritisieren in Ihrem Schreiben u.a. eine Diskriminierung von ehemaligen DDR-Bürgern sowie die Prozesse gegen politische Funktionsträger der ehemaligen DDR, die nur ihre verfassungsmäßigen Pflichten, auch Bündnisverpflichtungen erfüllt haben würden.
Heinrich Lummer ist der Auffassung, dieser Brief entspreche dem Sprachgebrauch der PDS und läßt die Vermutung auftauchen, er sei von Betroffenen in Deutschland bestellt worden.
Ist Rußland jetzt zu einem Versandhaus für gewünschte Alibipositionen für Funktionsträger der ehemaligen DDR geworden, auch zu einer Zentralen Dokumentations- und Erfassungsstelle für eine soziale Misere ehemaliger DDR-Bürger -verursacht durch bundesdeutsche Politik?

Graf von Einsiedel: Ich halte es für normal und legitim, daß die Angeklagten in den verschiedenen Prozessen gegen ehemalige Funktionsträger der DDR sich um Unterstützung an ihre ehemaligen Freunde und Genossen in der ehemaligen Sowjet-Union wenden, die ja wiederum als ehemalige Funktionsträger der Sowjet-Union eine bedeutende Mitverantwortung für das, was in der DDR geschehen ist, tragen.
Ob die Angeklagten sich damit einen Dienst erwiesen haben, kann man bezweifeln, zumal der Brief der 131 Dumaabgeordneten leider auch teilweise von juristischen, moralischen historischen und politischen Prämissen ausgeht, die ich nicht akzeptieren kann. Das zentrale Problem dabei scheint mir darin zu bestehen, daß die DDR trotz ihres völkerrechtlichen Status‘ eben nicht in gleicher Weise legitim gewesen ist, wie die BRD, was sich allein schon aus der Tatsache beweist, daß sie zusammengebrochen ist, als die Sowjet-Union nicht mehr bereit war und sich nicht mehr dazu in der Lage sah, ihr nach dem Kriege in Osteuropa geschaffenes Vasallenreich mit Waffengewalt zusammenzuhalten.
Lenin hat einmal dem Sinne nach gesagt oder geschrieben:
Revolutionen werden nicht gemacht, sondern es kommt zu ihnen, wenn die Massen sich nicht mehr so regieren lassen wollen, wie sie regiert werden, und wenn die Regierenden nicht mehr die Kraft haben, ihre Herrschaft aufrechtzuerhalten. Ich gehöre zu den wenigen in der BRD, die diesen Schnittpunkt bereits Ende der achtziger Jahre gekommen sahen, und deshalb den Untergang der DDR für 1989 vorausgesagt hat.
Trotz gewisser unbestreitbarer sozialer Errungenschaften, die es in der DDR gegeben hat, wurde deren Regierungssystem, die Parteidiktatur der SED, von der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt, weswegen es eben niemals eine echte demokratische Legitimation erfragt oder erhalten hat. Sicherlich gibt es Rachegelüste gegenüber der DDR und ihren Machthabern, und sie sind mir, der die sowjetische Besatzungszone schon 1948 unter scharfen Protest gegen ihren stalinistischen Grundcharakter verlassen hat, auch verständlich.
Aber Rachegelüste dürfen natürlich unter keinen Umständen unser heutiges rechtliches und politisches Handeln bestimmen, und sie sind meiner Ansicht nach auch keineswegs der e i n e Grund für die eklatanten Fehler, die bei der Vereinigung der beiden deutschen Staaten begangen worden sind.
Ich bin auch nicht der Ansicht, daß der Umstand, ehemals Widerstandskämpfer gegen das verbrecherische Nazisystem gewesen zu sein, grundsätzlich eine Verantwortung und Bestrafung für in der DDR begangenes Unrecht ausschließt. Es gibt in der Geschichte leider mehr als genug Beispiele dafür, daß einstmals zu Unrecht eingekerkerte Menschen später zu sehr harten unmenschlichen Kerkermeistern geworden sind. Die Geschichte der Sowjet-Union ist wohl das schrecklichste Beispiel für eine solche Entwicklung.

TP: Wie ist die DDR-Vergangenheit am besten zu bewältigen – Schwamm drüber? Amnestie?

Graf von Einsiedel: Selbstverständlich ist es notwendig, das, was in der DDR geschehen ist, auch rein rechtlich, unter Umständen auch mit Prozessen gegen Einzelpersonen, die grober Verletzung der Menschenrechte verdächtig sind, aufzuarbeiten. Dies können aber nur Richter, die in der Lage sind, die ungeheuer komplizierten geschichtlichen Umstände, in denen alles geschehen ist, vorurteilslos und ideologiefrei, also unbefangen zu beurteilen. Ob die heutige Juristengeneration der BRD dazu in der Lage ist, möchte ich allerdings stark bezweifeln. Tucholsky schrieb einmal in den zwanziger Jahren, ihm graue es, vor den Richtern, die einmal in den Vierzigern in Deutschland Recht sprechen würden. Das sind aber genau die Richter, die dem Naziregime erschreckend willfährig und übereifrig gedient haben (wofür nicht einer bestraft wurde), und die dann wiederum die heutige Juristengeneration unter den Bedingungen des Kalten Krieges, als manches faschistoides Denken im Zeichen des Antikommunismus wieder hoffähig geworden ist, erzogen hat. Eine weitgehende Amnestie für gewisses DDR-Unrecht, das unterhalb eindeutiger grober Verbrechen auch gegen DDR-Recht liegt, ist daher meiner Ansicht nach schon längst überfällig. Die Alternative dazu heißt keineswegs: Schwamm drüber. Nein, nichts darf unter den Teppich gekehrt werden. Aber der Gerichtssaal ist nicht der richtige Ort für die Aufdeckung der Wahrheit. Recht ist nur e i n Mittel um Gerechtigkeit zu erzielen, Verzeihung auch – und nicht das unwichtigste. Selbstgerechtigkeit, wie sie heute in der Bundesrepublik in so überreichem Maße gezeigt wird, ist Gift für alles.

TP: Was würde eine lediglich historische Aufarbeitung gewissen DDR-Unrechts den Opfern bringen?

Graf von Einsiedel: Die Bestrafung von Rechtsverletzungen nützt deren Opfern nicht sehr viel. Diese Opfer für erlittenes Unrecht zu entschädigen – auch für die Leiden, die sie um Widerstandskampf gegen das Unrecht ertragen haben – ist viel wichtiger. Das allerdings trifft auch für die früheren Opfer der Naziverbrechen – Kommunisten, Wehrmachtsdeserteure, Zwangsarbeiter usw. usf. zu. Wer Wehrmachtsdeserteuren über Jahrzehnte und heute noch die Rehabilitierung verbissen vorenthält, hat wenig Berechtigung über DDR-Grenzsoldaten zu urteilen, die ihre Befehle befolgt haben.
Die Einschränkung der Freizügigkeit der DDR-Bürger durch den Mauerbau war ohne Zweifel eine Verletzung von Menschenrechten. Aber man kann nicht an der Tatsache vorbeigehen, daß sie, wie der kalte Krieg sich nun einmal entwickelt hatte, historisch wahrscheinlich unvermeidlich war, jedenfalls nicht allein und gegen die damals in der Welt herrschenden Machtverhältnisse, von der DDR-Führung zu vermeiden.
Jede Destabilisierung eines der sowjetischen Vasallenstaaten in Osteuropa beschwor die Gefahr eines neuen Krieges zwischen den Machtblöcken, solange die Sowjet-Union nicht bereit war, diese Vasallenstaaten freizugeben.
Die Fluchtbewegung aus der DDR bedeutete aber, die DDR werde in Kürze zusammenbrechen, wenn sie nicht gestoppt wurde. Ein Zusammenbruch der DDR aber war unter den damaligen Bedingungen für die Sowjet-Union noch viel weniger hinzunehmen, wie z.B. der Prager Frühling, der für die Sowjet-Union eben gerade deshalb unannehmbar war und mit der Okkupation beantwortet werden mußte, weil Ulbricht dem Kreml gesagt hat: Wenn ihr das zulaßt, dann ist es mit der DDR auch bald vorbei.

TP: Hätten Politbüromitglieder nicht aber schon eher – vor 1989 – die Möglichkeit gehabt, das Grenzregime zu humanisieren. Brauchten sie erst eine massive Aufforderung durch das Volk – wie es 1989 ja geschehen ist?

Graf von Einsiedel: Die Bundesrepublik hat sich als ersten Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts einen Mann geleistet, der zuvor 12 Jahre Richter und Staatsanwalt am Reichsgericht des Dritten Reiches gewesen war. Er wurde beauftragt, als die Bundesregierung es für angebracht hielt, den Verschwörern des 20. Juli das Odium des Verrats zu nehmen, das ihnen in einer breiten Öffentlichkeit der BRD Anfang der 50ziger Jahre noch anhaftete, und sie als so eine Art Vorläufer der BRD zu vereinnahmen, ein Gutachten über das Recht auf Widerstand gegen ein totalitäres System zu verfassen. Dieser Hermann Weinkauff hat damals dieses Recht auf Widerstand gegen ein herrschendes System sehr eng gefaßt. Praktisch billigte er nur höchsten Teilhabern der Macht das Recht zu, die bestehenden Gesetze zu verletzen, schon gar nicht dem Normalbürger. Ich teile diese restriktiven Ansichten über das Recht – und die Pflicht! – zum Widerstand nicht. Aber in diesem Gutachten heißt es, daß man dies Recht – in welcher Position auch immer – nur ausüben darf, wenn man aufgrund höherer Einsicht die absolute Gewißheit hat, mit diesem Widerstand Schlimmstes zu verhindern, und nicht noch Schlimmeres herbeizuführen.
Daran gemessen wird man Krenz, Keßler und Genossen wohl schwerlich verurteilen können. Woher sollten sie diese höhere Einsicht denn beziehen? Ihrer ganzen Biographie und ihrer Erziehung nach hielten sie die DDR für den besseren deutschen Staat, dessen unbedingte Erhaltung vor allem auch der Erhaltung des Friedens diente. Sie dienten diesem Staat mit all den berühmten deutschen Sekundärtugenden wie Treue, Effizienz, Pflichtgefühl, Gehorsam und Disziplin.
Wie kann man von ihnen verlangen, daß sie sich zu einer Aufweichung des Grenzsystems und damit zur Destabilisierung der DDR hergaben oder gar verpflichtet fühlten, und sie im Widerstand gegen den ganzen Warschauer Pakt durchsetzten? Nach dem Gutachten des Herren Weinkauff hatte eben ein DDR-Bürger durchaus nicht das Recht, das Gesetz, das ein nicht genehmigtes Verlassen der DDR verbot, zu verletzen, um in der BRD einen höheren Lebensstandard, größere individuelle Freiheit, mehr demokratische Rechte zu genießen. Und wenn ein Bürger dies dann dennoch versuchte, dies Gesetz unter Kenntnis der damit verbundenen Risiken zu durchbrechen, dann war das eben seine höchst persönliche Angelegenheit… und die Folgen hatte er eben zu tragen.
In der Bundesrepublik werden doch viel geringere Gesetzesverletzungen im zivilen Ungehorsam auch sehr streng bestraft.
Ein Volk, wie das Deutsche, das sich seine Befreiung durch die Alliierten nach dem gescheiterten Versuch der Selbstbefreiung vom 20. Juli 1944 noch einmal fast 5 Millionen Tote – (allein) deutsche „Volksgenossen“ – kosten ließ im verbissenen Widerstand gegen die Befreiung, und das niemanden – nicht einen einzigen Machthaber des Dritten Reiches und der ach so unschuldigen Wehrmacht – wegen Totschlages durch Unterlassung, nämlich durch Unterlassung des Widerstandes gegen die Fortsetzung des Krieges angeklagt oder gar verurteilt hat, das sollte doch sehr behutsam mit dem Vorwurf gegen ehemalige Machthaber der DDR sein, sie hätten keinen Widerstand geleistet, sondern ihrem Staat nach bestem Wissen und Gewissen gedient.
Ich bin der erste, der sagt, und nicht erst seit gestern, sondern bereits seit 1948, daß dieses beste Wissen und Gewissen eben auf kolossalen Irrtümern, Illusionen und Fehlinterpretationen der menschlichen Natur und der geschichtlichen Entwicklung der Menschheit beruhte. Aber kann man sie wegen dieser Irrtümer nach Gesetzen verurteilen, die in ihrem Staat so nicht existierten?

TP: Ist die Kompetenzzuweisung an die Warschauer Vertragsstaaten für das Grenzregime in der DDR nicht eine Anmaßung auch insofern: Schuld sind nur die anderen – wir waren sozusagen bloß Befehlsempfänger, hatten das zu tun, was uns aufoktroyiert wurde? Steht das nicht auch in einem Widerspruch zu früheren westdeutschen Protesten hinsichtlich Toten und Verletzten an Mauer und Grenze, die – die Proteste – von DDR-Seite damit abgetan wurden, sie seien eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten der DDR. Ich habe nie gehört, daß gesagt wurde, es sei eine Einmischung in die Politik des Warschauer Vertrages.

Graf von Einsiedel: Daß die DDR nur in höchst beschränktem Maß souverän war, darüber braucht man doch wohl nicht zu streiten. Aber dieser „mildernde Umstand“ ist ja nur die eine Seite der Medaille. Die andere Seite ist, daß die Regierungen der BRD in verschiedenster parteipolitischer Zusammensetzung ja seit dem Mauerbau alles erdenkliche getan haben, um mit dieser abgeschottenen DDR zu einem sogenannten normalen Nebeneinander zu kommen. Grundlagenverträge, Grenzanerkennungsverträge, weitreichende Handelsabkommen und wirtschaftliche Sonderbehandlung der DDR, Milliardenkredite. Die BRD hat doch weit mehr zur Stabilisierung der DDR getan, als alle Honeckers, Krenze und Genossen in ihrer notorischen Unfähigkeit je zusammengebracht haben. Die hingen doch seit Jahren am Tropf der BRD. War das vielleicht auch Totschlag durch Unterlassung?

Was ich denjenigen Mitgliedern der ehemaligen DDR-Eliten, die auch heute noch keine Einsicht in ihr Versagen zeigen, und im Grunde ihres Herzens immer noch ihre DDR für den besten aller in diesem Jahrhundert möglichen deutschen Staaten halten, der nur durch die Hinterlist der Kapitalisten zusammengebrochen ist, die sich immer noch stolz als Kommunisten bezeichnen, vorhalte, ist die Frage: Wo wart ihr großen Revolutionäre eigentlich, die ihr ausgezogen seid, um den Weltkapitalismus zu überwinden, als euch der in der Sowjetunion (von der Sowjet-Union lernen heißt siegen lernen) hoffnungslos verspätete Versuch einer Reform, einer Perestroika, die Chance gab, selbst euern ach so schönen sozialistischen Staat zu retten, indem ihr ebenfalls eine Perestroika an Haupt und Gliedern einleitetet, als es nicht auf Weltrevolution ankam, sondern nur auf ein ganz kleines in der Luft liegendes Revolutiönchen gegen ein seniles Politbüro, das irgendwo in einem Wolkenkuckucksheim lebte, oder auf die Jagd in der Schorfheide ging, wie einst im Mai der Herr Reichsmarschall.
Dafür sollte man sie vor Gericht stellen, vor ein sozialistisches Gericht, weil sie zugelassen haben, wie die sozialistische Idee durch diesen längst bankrotten „realexistierenden“ Sozialismus der DDR so entsetzlich diskreditiert worden ist. Oder, da dies nicht mehr möglich ist, wenigstens vor ein internationales Gericht, das weniger befangen ist, als jedes denkbare Gericht einer BRD, die ihr eigenes Verfassungsgebot, das Gebot der Sozialverpflichtung des Eigentums tagtäglich so eklatent mit Füßen tritt, und genau so stolz auf die auf sie zukommenden Gefahren losbraust, wie einst die Titanic.

Interview: Dietmar Jochum, TP Berlin

Heinrich Graf von Einsiedel, langjähriges SPD-Mitglied, Urenkel Bismarcks, ist seit 1994 Mitglied des Bundestages in der PDS-Fraktion.

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