Bundestags-Vizepräsidentin Claudia Roth im Interview mit der Wochenzeitung „Das Parlament“.
Bundestags-Vizepräsidentin Claudia Roth (Bündnis 90/Die Grünen) hat die Haltung der SPD in der Debatte um den Paragrafen 219a des Strafgesetzbuches („Werbung für den Abbruch der Schwangerschaft“) scharf kritisiert. Statt mit Grünen, FDP und Linken voranzugehen und die parlamentarische Mehrheit für eine Streichung zu nutzen, „hat sich die SPD nun in einen faulen Formelkompromiss einspannen lassen – mit dem 219a aufrechterhalten wird“, sagte Roth in einem Interview mit der Wochenzeitung „Das Parlament“ (Erscheinungsdatum: 7. Januar 2019). Sie kritisierte, dass die bestehende Vorschrift es Ärztinnen und Ärzten strafrechtlich verbiete, über Schwangerschaftsabbrüche zu informieren. „Information aber ist die Voraussetzung für verantwortliches Handeln“, sagte die Grünen-Politikerin.
Union und SPD hatten sich auf Ministerebene Mitte Dezember 2018 auf einen Kompromiss zum 219a geeinigt. Im Januar soll dazu ein Gesetzentwurf vorgelegt werden. Mit ihrer Forderung, den Paragrafen zu streichen, hatten sich die Sozialdemokraten dabei nicht durchsetzen können.
Die TP Presseagentur Berlin dokumentiert das am 7. Januar 2019 in „Das Parlament“ erscheinende Interview vorab im Wortlaut:
Frau Roth, seit Anfang Januar gibt es eine dritte Option im Personenstandregister. Seit Oktober 2017 dürfen homosexuelle Paare heiraten. Wo stehen wir 2019, was die sexuelle Freiheit angeht?
Wenn ich mich daran erinnere, wie es vor 30 Jahren war, dann sind wir wichtige Schritte gegangen auf dem Weg hin zu mehr Anerkennung für die Vielfalt in unserer Gesellschaft. Die Forderung eines Menschen, seine Identität zu leben, ist extrem politisch. Es geht im Kern um die volle Verwirklichung gleicher Rechte. Es geht um die Frage, was uns Artikel 1 des Grundgesetzes wert ist. Die Ehe für alle war da ein ganz wichtiger Schritt, der ohne das Bundesverfassungsgericht allerdings nicht gekommen wäre. Während die Bundesregierung nämlich blockiert hat, hat das Gericht unser Grundgesetz ernst genommen. Darin steht: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Da steht ja nicht „die Würde des heterosexuellen Menschen“ oder „der Schutz der heterosexuelle Ehe und Familie“. In der Folge haben sich viele Menschen endlich anerkannt und dazugehörig gefühlt. Und es gab einen richtigen Eheschließungs-Boom, ich durfte zig Mal Trauzeugin sein.
Was muss noch getan werden?
Einiges. Wir haben beispielsweise noch Nachholbedarf im Abstammungsrecht für gleichgeschlechtliche Paare. Die vermeintlich geschlechtsangleichenden Zwangsoperationen an Kindern müssen umgehend gestoppt und Menschen, denen dieser Schmerz angetan wurde, entschädigt werden. Und über die Umsetzung des Urteils des Bundesverfassungsgerichtes zur 3. Option bin ich enttäuscht. Der beschlossenen Lösung mangelt es an einer Anerkennung von Vielfalt: Es kann doch nicht sein, dass sich inter- und transsexuelle Menschen nach wie vor pathologisieren lassen müssen und ärztliche Atteste zur Änderung des Personenstandes brauchen. Als wäre das ein Krankheitsmerkmal! Der Staat ist nicht dazu da, jemandem eine Identität aufzuzwingen oder sie infrage zu stellen. Er ist vielmehr dazu da, Rahmenbedingungen zu schaffen, in denen sich einzelne Persönlichkeiten in ihrer Vielfalt entwickeln können.
Sexuelle Minderheiten wurden lange offen diskriminiert, teils kriminalisiert und nicht ausreichend geschützt. Kann der Staat überhaupt ein verlässlicher Partner sein, wenn es um den Schutz marginalisierter Menschen geht?
Ich weiß nicht, ob „Partner“ das richtige Wort ist, aber der demokratische Staat muss die Schutzhülle sein. Das Grundgesetz wird beschattet, wenn die Würde nicht für alle „unantastbar“ ist. Das hat für mich mit Verantwortung gegenüber der Geschichte zu tun und damit, daraus Konsequenzen zu ziehen. Es wäre höchste Zeit, einen der kommenden Holocaust-Gedenktage der Gruppe der verfolgten Schwulen und Lesben unter NS-Diktatur zu widmen.
Nun gibt es gegen viele der Fortschritte Widerstand. Ist das Erstarken rechter Kräfte eine Folge der Entwicklung?
Nein. Es mag sein, dass rechtsautoritäre Kräfte bestimmte Entwicklungen instrumentalisieren, um Stimmung zu machen. Aber die Behauptung, die Demokratisierung oder gesellschaftliche Fortschritte hin zu mehr Gleichstellung und Diversity seien verantwortlich für das Erstarken von Rechtsextremen, halte ich für gefährlich. Das würde im Umkehrschluss ja bedeuten, dass wir Diskriminierung und Ungleichbehandlung akzeptieren müssten, um rechtsextremes Gedankengut zu verhindern. Dabei ist das Gegenteil angebracht: Jetzt erst recht! Aber: Es gibt einen zunehmenden Grundkonflikt zwischen einer geschlossenen und einer offenen Gesellschaft.
Was meinen Sie damit?
Wir beobachten weltweit einen Aufstieg autoritärer und illiberaler Bewegungen und Staaten, einen Aufmarsch von Maskulinisten, die sich offenbar zurückholen wollen, was ihnen nie gehört hat. Wir erleben, dass ein US-Präsident mit verächtlicher Häme Frauen begegnet, dass Genderforschung in Ungarn nicht mehr finanziert oder dass in Österreich Frauenprojekte nicht mehr gefördert werden. Und wir erleben hier im Bundestag zunehmend offenen Sexismus. Beispielsweise werden Anträge eingereicht, die darauf abzielen, Projekte zur Förderung von Mädchen und Frauen zu streichen. Zudem sind da noch sogenannte besorgte Eltern, die etwa eine emanzipatorische Bildungspolitik infrage stellen und offensichtlich nicht wollen, dass Kinder lernen, was Vielfalt bedeutet – und dass sie uns reich macht, nicht bedroht.
Kann es einen Rollback geben?
Wir müssen das Erreichte und die Menschenrechte gegen die verteidigen, die diese systematisch angreifen. Gleichzeitig sollten wir nicht in einer Verteidigungshaltung verharren, sondern schauen, wie wir weiter vorangehen und die Welt gerechter machen können. Rassismus und Sexismus gehen immer stärker miteinander einher – auch in einer entgrenzten Sprache. Es ist Aufgabe von uns allen, dieser Entwicklung konkret und tagtäglich etwas entgegen zu setzen. Und zwar über bisherige Grenzen hinweg: Wenn Gewalt gegen Frauen relativiert und bagatellisiert wird, dann kann es nicht nur Aufgabe von Frauen sein, dagegen anzugehen. Da müssen alle, auch die Männer ran.
Welchen Handlungsbedarf leiten Sie aus der großen Debatte um #metoo ab?
Es ist fürchterlich, wie lange es gedauert hat, bis Frauen überhaupt öffentlich über ihre Erfahrungen sprechen konnten. #metoo hat exemplarisch und nachvollziehbar gezeigt, wie tief patriarchale Strukturen weltweit verankert sind. Leider werden aber auch heute noch Äußerungen von Frauen über sexuelle Belästigungen oder sexualisierte Gewalt erst einmal infrage gestellt und relativiert. Gut ist aber, dass die #metoo-Debatte viele Frauen aufgeweckt und zu einer Internationalisierung geführt hat, durch die die weltweite Frauenbewegung wieder neuen Schwung bekommen hat. In vielen Ländern ist die feministische Bewegung längst zur Speerspitze der Demokratieverteidigung geworden. Wir müssen dafür Sorge tragen, dass das Thema nicht einfach wieder verschwindet. Eine wichtige erste Maßnahme wäre es da, endlich die Frauenhäuser besser auszustatten, denn noch immer gibt es zu wenige Plätze.
Die Jusos wollen den Schwangerschaftsabbruchs-Paragrafen 218 direkt angehen, eine uralte Forderung der Frauenbewegung. Da hört man von den Grünen relativ wenig zu. Warum?
Zunächst ist da mal die aktuelle Debatte über den Paragrafen 219a, der es Ärztinnen und Ärzten strafrechtlich verbietet, über Schwangerschaftsabbrüche zu informieren. Information aber ist die Voraussetzung für verantwortliches Handeln. Wir Grüne sind da deshalb alles andere als still – und fordern seit langem die Streichung dieses Absatzes. Und eigentlich besteht hier auch eine parlamentarische Mehrheit pro Streichung. Statt aber mit uns, FDP und Linken voranzugehen, hat sich die SPD nun in einen faulen Formelkompromiss einspannen lassen – mit dem 219a aufrechterhalten wird.
Und der 218er?
Da ist die Situation eine andere. Persönlich würde ich mir durchaus eine ruhige Debatte darüber wünschen, ob das Strafrecht das richtige Mittel ist, Schwangerschaftsabbrüche zu thematisieren, und ob mögliche Fristenlösungen nicht auch anderweitig geregelt werden können. Über den Paragrafen 218 gab es bereits lange Debatten, die zu schwierigen Kompromissen geführt haben. Diese jetzt wieder aufzumachen, wie es die AfD und sogenannte Lebensschützer versuchen, halten wir Grüne für gefährlich. Die gesellschaftliche Debatte über 219a ist schwierig und vorurteilsbeladen genug. Lasst uns deshalb 219a abschaffen – und dann schauen wir auf 218, gern auch mit den Jusos.
Das Gespräch führten Lisa Brüßler und Sören Christian Reimer.
Claudia Roth (Bündnis 90/Die Grünen) ist seit 2013 Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages.