Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei einem Feierlichen Gelöbnis am 70. Gründungstag der Bundeswehr am 12. November 2025 in Berlin.
Als am 12. November 1955 der damalige Verteidigungsminister der Bundesrepublik Deutschland, Theodor Blank, die ersten Offiziere und Unteroffiziere ernannte, hatte die Armee, der sie dienen sollten, noch keinen Namen. Noch nannten die meisten sie „Neue Wehrmacht“ oder „Bundeswehrmacht“, und das erzählt viel über diese Zeit. Auch sonst war an jenem Tag vor 70 Jahren vieles noch provisorisch. Viele der 101 Freiwilligen hatten keine Uniformen, und sie erhielten ihre Urkunden in der Fahrzeughalle der Bonner Ermekeilkaserne, damals Sitz des frisch gegründeten Bundesministeriums der Verteidigung.
Liebe Rekrutinnen und Rekruten, heute, 70 Jahre später, sind Sie es, die sich in den Dienst der Bundeswehr stellen, hier im Zentrum der deutschen Bundeshauptstadt, im Herzen unserer Demokratie. Auch das zeigt: Die Armee, der Sie dienen, ist – und das hätten sich damals nur die wenigsten vorstellen können – mittlerweile tief verankert in unserem freiheitlichen Gemeinwesen. Über sieben Jahrzehnte hinweg hat sie bewiesen: Die Bundeswehr ist die Armee unserer Demokratie. Welch riesige Errungenschaft ist das!
Der Weg dorthin war von teils heftigen Kontroversen gesäumt. Und ich glaube, man kann ohne Übertreibung sagen, dass sich in der Geschichte der Bundeswehr auch die Geschichte unserer sich wandelnden Gesellschaft widerspiegelt – zunächst die der alten Bundesrepublik und seit 35 Jahren die unseres wiedervereinten Landes. Und in beidem, in der Geschichte unserer Gesellschaft und in der der Bundeswehr, gab es wichtige Wegmarken, von denen ich einige ganz zentrale heute herausgreifen möchte.
In der Gründungsphase der Bundeswehr war auch die Bundesrepublik noch jung und alles andere als eine gefestigte Demokratie. Erst wenige Jahre zuvor hatten die Alliierten die NS-Diktatur und auch die Wehrmacht bezwungen – eine Armee, die an den Verbrechen jener dunkelsten Zeit in unserer Geschichte beteiligt war. Machen wir uns noch einmal bewusst, Deutschland war Anfang der 1950er Jahre immer noch ein verwüstetes, auch ein moralisch verwüstetes Land, die Städte lagen immer noch in Trümmern, die Zukunft war ungewiss. Ob dieses Land, das so furchtbare Verbrechen begangen und ganz Europa in einen erbarmungslosen Krieg mit Dutzenden Millionen Toten gestürzt hatte, ob dieses Land überhaupt noch einmal eine Armee haben sollte, darüber wurde damals aus gutem Grund heftig gestritten. Die Debatten waren hitzig, die Proteste lautstark: Viele Menschen sorgten sich, eine Wiederbewaffnung könne die noch junge Demokratie destabilisieren oder eine Wiedervereinigung mit der von den Sowjets besetzten DDR in weite Ferne rücken lassen.
Aber am Ende sollten sich die, die skeptisch waren, die starke Zweifel an der Wiederbewaffnung hatten, nicht durchsetzen. Eine Mehrheit der Menschen unterstützte schließlich den Kurs, den der damalige Bundeskanzler Konrad Adenauer von Anfang an zielstrebig verfolgt hatte, weitgehend hinter den Kulissen.
Nur wenige Wochen, nachdem die ersten Soldaten vereidigt worden waren, am 20. Januar 1956, sprach Adenauer auch selbst zu den neuen Streitkräften, und zwar in der heutigen Krahnenberg-Kaserne in Andernach. Ich selbst habe sie vor wenigen Wochen besucht und war beeindruckt von diesem ersten Standort der Bundeswehr und seiner Geschichte. Es heißt, dass damals auch Bundespräsident Theodor Heuss sprechen sollte. Aber auf die Frage nach der angedachten Redezeit antwortete das Kanzleramt – so wird erzählt – schlicht, dass die Anwesenheit des Bundespräsidenten nicht vorgesehen sei – auch Vertreter des Bonner Parlaments waren letztlich nicht vor Ort. Jedenfalls blieb es bei einer kurzen Begrüßung durch Verteidigungsminister Blank – und Adenauers Ansprache.
In seiner Rede betonte Adenauer ausdrücklich die neue militärische Rolle dieser Bundeswehr als Verteidigungsarmee: allein der Abschreckung dienend und eingebettet in ein enges Bündnis. „Einziges Ziel der deutschen Wiederbewaffnung ist es, zur Erhaltung des Friedens beizutragen“, sagte Konrad Adenauer damals, und ich zitiere ihn weiter: „Wir werden dieses Ziel erreicht haben, wenn die gemeinsame potentielle Abwehrkraft der Verbündeten zu jedem Zeitpunkt ein zu großes Risiko für jeden möglichen Angreifer bedeutet.“ In einer solchen reinen Verteidigungsarmee, davon war Adenauer überzeugt, könne niemand eine Bedrohung sehen.
Politisch verband er mit der Wiederbewaffnung allerdings ein weitreichendes, ein ambitioniertes Ziel: der besetzten Bundesrepublik langfristig wieder zu staatlicher Souveränität zu verhelfen. Gelingen konnte das nur, davon war er erst recht überzeugt, wenn Deutschland in ein zusammenwachsendes Europa und das westliche Bündnissystem, die NATO, eingebunden würde. Welch weitsichtige Entscheidung das war, das erkennen wir heute mit aller Klarheit, und wir können dafür nicht dankbar genug sein!
Adenauers Kurs, auch das gehört zur Geschichte dazu, war aber verbunden mit einem Versprechen, das kaum zu erfüllen war: Deutschland stand 1955 im Wort, bis zu 500.000 Soldaten für das westliche Verteidigungsbündnis aufzubieten. Sie sollten binnen drei Jahren einsatzbereit zur Verfügung stehen. Mit Freiwilligen allein war das nicht zu schaffen, und so entbrannte schon bald eine neue Debatte um die Bundeswehr: die über die Einführung einer allgemeinen Wehrpflicht. Es war die erste in unserer Demokratie, und es sollte nicht die letzte bleiben. Sie wurde, wie konnte es anders sein, nicht weniger hitzig und leidenschaftlich geführt als die heutige.
Und wenn wir heute, 14 Jahre nachdem die Wehrpflicht ausgesetzt wurde, darüber diskutieren, sie wieder in Kraft zu setzen, dann spiegelt auch das die außenpolitische und gesellschaftliche Realität unserer heutigen Zeit wider. Heute sind wir mit einem neuen, völkerrechtswidrigen Angriffskrieg in Europa konfrontiert, mit neuen Bedrohungen Europas, und dass dieser Epochenbruch ein Umdenken erfordert, steht für mich außer Frage.
Um unsere Verteidigungsfähigkeit zu steigern, braucht die Bundeswehr jetzt mehr Soldatinnen und Soldaten. Aber wir brauchen dafür ein Verfahren, das verlässlich und fair gewährleistet, dass die Bundeswehr ihre Aufgaben in Zukunft besser erfüllen kann. Richtige Schritte dahin werden in Kürze mit dem neuen Wehrdienstgesetz gegangen. Nach meiner Überzeugung wäre langfristig eine „Pflichtzeit für alle“ am gerechtesten, die die einen bei der Bundeswehr ableisten, die anderen in sozialen Bereichen.
Sehr geehrte Damen und Herren, waren die Aufgaben der jungen Bundeswehr damals einigermaßen klar, so war es doch herausfordernd, ihre Rolle innerhalb des neu entstandenen demokratischen Staates Bundesrepublik zu definieren und auch ganz konkret mit Leben zu füllen. Dass diese Armee sich unterscheiden sollte und musste von ihren Vorläuferinnen, allen voran der auf Hitler eingeschworenen Wehrmacht, darüber herrschte weitgehende Einigkeit. Die Soldaten dieser neuen Armee sollten deshalb ihren Dienst als „Staatsbürger in Uniform“ versehen und waren dem Geist des Grundgesetzes verpflichtet. Was uns heute recht selbstverständlich erscheint, war damals etwas gänzlich Neues in der Geschichte unseres Landes.
Als Kern ihres neuen Selbstverständnisses entwickelte die Bundeswehr das Konzept der „Inneren Führung“. Aber so wie der äußeren Befreiung durch die Alliierten erst ein langer, quälender Prozess der inneren Befreiung folgen musste, bis wir uns der Aufarbeitung der NS-Zeit gestellt haben, so erforderte es auch innerhalb der Bundeswehr Zeit, dieses neue Selbstverständnis durchzusetzen. Widerstände gab es durchaus, insbesondere Traditionalisten wetterten massiv gegen das neue Leitbild des Soldatentums. Daran, dass die Bundeswehr diese Bewährungsprobe in unserer und für unsere Demokratie insgesamt bestanden hat, daran kann heute kein Zweifel bestehen. Aber der Auftrag bleibt: Armee und Gesellschaft dürfen sich in einer Demokratie niemals fremd werden!
Die Rolle der Bundeswehr wurde immer von einer aufmerksamen Öffentlichkeit kritisch begleitet. Wie wichtig die Bundeswehr und die Einbindung in die NATO für unser Land waren, das hat aber gerade die Ära des Kalten Krieges gezeigt. Die zynische Stabilität, in der wir damals lebten, mögen heute manche in der Rückschau verklären. Aber dass der Konflikt zwischen Ost und West damals nicht eskalierte, lag letztlich daran, dass sich zur gegenseitigen Abschreckung zwei hochgerüstete Militärbündnisse gegenüberstanden – einschließlich ihrer nuklearen Arsenale.
Tatsache ist auch: Die Sorge, dass das Wettrüsten zu einem neuen Krieg führen könnte, hat damals viele junge Menschen auf Distanz zur Bundeswehr gehen lassen. Immer mehr junge Leute verweigerten den Wehrdienst. In den 1980er Jahren kamen die Proteste der Friedensbewegung gegen die Nachrüstung dazu. Im Ergebnis war die Mehrheit der Deutschen für Abrüstungsverhandlungen, aber gegen einseitigen Verzicht.
Nach der Wiedervereinigung – das ist die nächste Zäsur – verschob sich auch der Blick der Öffentlichkeit auf die Bundeswehr grundlegend. Sie wurde nach dem Ende des Warschauer Paktes strategisch neu ausgerichtet, der bisherige militärische Hauptgegner war nun keiner mehr. Mit dem Zwei-plus-vier-Vertrag erlangte die Bundesrepublik ihre Souveränität zurück, aber hatte im Gegenzug den dauerhaften Verzicht auf eigene Atomwaffen und die Höchstgrenze von maximal 370.000 Soldaten für die gesamtdeutschen Streitkräfte zu akzeptieren. Gleichzeitig galt es, die frühere Nationale Volksarmee in die Bundeswehr zu integrieren. In einem beispiellosen Kraftakt mussten nun zwei bisher feindliche Armeen zusammengeführt werden. „Es war für beide Seiten ein Zusammenprall der Kulturen“ , wie der Militärhistoriker Sönke Neitzel schriebt. Dass dieser Zusammenprall zur gelungenen Integration wurde, auch das ist ein Erfolg.
Mit dem Ende der Ost-West-Konfrontation verschob sich zwangsläufig der Aufgabenschwerpunkt der Bundeswehr – und auch das war heftig umstritten: Auslandseinsätze traten zunehmend an die Stelle der klassischen Landesverteidigung. Dazu kam die Erschütterung, die die Kriege im ehemaligen Jugoslawien auslösten, später der Schock von 9/11, mit der bis heute einzigen Ausrufung des NATO-Bündnisfalls. Missionen in mittlerweile mehr als 30 Ländern und Seegebieten brachten eine schmerzhafte Wahrheit zurück in unser Bewusstsein: Dass es in Militäreinsätzen Verwundete und auch Tote geben kann, verbunden mit unendlicher Trauer und Schmerz für die Angehörigen. Seit 1992 sind weit mehr als einhundert deutsche Soldaten bei Einsätzen im Ausland ums Leben gekommen, und noch viel mehr haben Verletzungen an Leib und Seele erlitten. Sie und ihre Angehörigen verdienen unser ganzes Mitgefühl!
So heftig die Kontroversen um die Bundeswehr und ihre Rolle auch immer wieder waren, am Ende haben sie dazu geführt, dass wir, dass unser Land mit Dankbarkeit und Anerkennung auf seine Armee blickt: Heute vertrauen vier von fünf Deutschen der Bundeswehr.
Noch einmal gewandelt hat sich dieser Blick mit dem 24. Februar 2022. Der Schock des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine hat vielen Menschen drastisch vor Augen geführt, wie gefährdet Europa ist und dass unser geeintes Europa, unsere Vorstellungen von Freiheit und Demokratie nur Bestand haben werden, wenn wir für sie einstehen. Eben weil der Angriff auf die Ukraine zugleich ein Angriff auf die europäische Friedensordnung ist, müssen wir Europäer und auch wir Deutsche unsere militärische Verteidigungsfähigkeit stärken, und dafür brauchen wir eine starke, gut ausgestattete Bundeswehr. Es bleibt richtig, dass wir die Ukraine unterstützen: militärisch, humanitär, politisch. Dazu steht unser Land auch in Zukunft!
Unsere Länder sind bereits jetzt Ziel von Putins hybrider Kriegsführung. Russland testet die NATO an vielen Fronten und stellt die Entschlossenheit unseres Bündnisses auf die Probe. Wir Deutsche müssen diese neue Herausforderung annehmen und alles dafür tun, um rasch militärische Stärke zu entwickeln: nicht um Krieg zu führen, sondern um ihn nicht führen zu müssen. Militärische Stärke nicht als Ersatz für Diplomatie und Außenpolitik, sondern um ernst genommen zu werden und andere davon abzuhalten, uns anzugreifen. Unser Beitrag zur wirksamen Abschreckung ist jetzt gefordert.
Und wie seinerzeit bei Gründung der Bundeswehr, stehen wir auch jetzt unter hohem Zeitdruck beim Ausbau ihrer militärischen Fähigkeiten. Entscheidend ist aber auch, dass wir auch unsere Infrastruktur und unsere Widerstandsfähigkeit als Gesellschaft insgesamt stärken, und das wird uns viel abverlangen in den kommenden Jahren. Aber ich bin sicher, dass wir diese Bewährung bestehen werden.
Liebe Rekrutinnen und Rekruten, Sie schwören und geloben, „der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen.“ Dies ist eine Verpflichtung, die niemand leichten Herzens eingeht, gerade nicht in Zeiten wie diesen. Sie verpflichten sich zu einem Dienst, dem noch immer nicht der Respekt entgegengebracht wird, der angemessen wäre. Ich möchte es hier ganz deutlich sagen: Ich bin Ihnen sehr dankbar dafür, dass Sie Ihre Pflicht als Soldatinnen und Soldaten erfüllen. Und dieser Dank gilt all Ihren Kameradinnen und Kameraden, die sich in den vergangenen 70 Jahren dem Schutz unserer Demokratie verschrieben haben.
Heute, an diesem besonderen Tag, würdigen wir, was Sie, die Soldatinnen und Soldaten unserer Armee, für unser Land geleistet haben und tagtäglich leisten. Und ich meine: Wir sollten das viel häufiger tun. Denn Sie alle schützen, was uns ausmacht: unsere Art zu leben, unser Recht, unsere Freiheit, unsere Demokratie. Herzlichen Dank!
