Michael Roth (SPD), Staatsminister für Europa im Auswärtigen Amt, fordert von seiner Partei mehr Mut zu Grundsatzdebatten.
Michael Roth, Staatsminister für Europa im Auswärtigen Amt und SPD-Bundestagsabgeordneter, fordert von der SPD, sich offensiver mit den großen gesellschaftlichen Zukunftsfragen zu beschäftigen: „Wer, wenn nicht die SPD könnte das? Die SPD war immer in ihrer Geschichte eine Partei der Grundsatzdebatten, wo es ums Eingemachte ging: Die Überwindung des Gegensatzes von Arbeit und Kapital, die Gleichstellung der Geschlechter, der sozialökologische Umbau der Gesellschaft, die Friedenspolitik. Da ist immer das große Rad gedreht worden“, sagte Roth in einem Interview mit der Wochenzeitung „Das Parlament“. Die Vorstellung, man könne durch einen geordneten Streit in der Sache innerhalb der Großen Koalition das Profil der SPD schärfen, sei nicht aufgegangen, denn dies werde von den meisten Menschen als „zu technisch“ wahrgenommen, so Roth weiter.
Er plädierte dafür, dass die SPD in der Koalition ihre deutschland- und europapolitische Verantwortung weiter wahrnimmt. Die SPD habe sich mit dem Wiedereintritt in die Große Koalition auf eine Überprüfung deren Arbeit zur Halbzeit der Wahlperiode verständigt, das werde auf dem nächsten Parteitag geschehen. „Da hat die Partei Gelegenheit zu urteilen: Was ist erreicht worden, was eben nicht?“ Roth betonte: „Man kann nicht einfach, wie in der S-Bahn, ein Ticket ziehen, Eintritt in die Große Koalition, und dann steigt man plötzlich wieder aus.“ Dafür gebe es schließlich verfassungsrechtliche Vorgaben, sagte er.
Die TP Presseagentur Berlin dokumentiert das heute in der Wochenzeitung „Das Parlament“ erscheinende Interview im vollen Wortlaut:
Herr Roth,
Malu Dreyer, eine der drei kommissarischen Vorsitzenden der SPD, sagte zu den
Vorgängen um den Rückzug von Andrea Nahles, „das geht gar nicht“. Was genau
ging denn nicht?
Was viele zu Recht empörte, war der offenkundige Versuch, mit einer Strategie
der kleineren und größeren Nadelstiche einen Menschen mürbe zu machen. Aber
leider nicht da, wo sachliche Kritik auch hingehört, in Gremien oder
Vier-Augen-Gespräche. Das war ein über Monate hinweg laufender Prozess, bei dem
einige nicht mit offenem Visier gekämpft haben. Denn jemandem direkt
seine Kritik ins Gesicht zu sagen, hat eine andere Qualität als
hinterrücks geraunte Unterstellungen, begleitet von einer sehr ins Persönliche
gehenden öffentlichen Kritik.
Aber wir
wissen doch alle, dass politische Ränkespiele oder Intrigen nichts Neues sind.
Es waren ja keine Konflikte, die sich an Inhalten festgemacht haben. Mit denen
kann man umgehen. Und es kommt für die SPD etwas hinzu, was sie von anderen
Parteien unterscheidet. Für eine Partei, für die Solidarität der zentrale
Grundwert ist, gilt das Zusammenstehen in schwierigen Zeiten als
besonders wichtig. Machtpolitische Spielchen werden bei anderen Parteien eher
als Normalität wahrgenommen. In der SPD muss man einen anderen, menschlicheren
Umgang erwarten können.
Lässt sich
die aktuelle Situation wirklich nur mit dem Abschneiden der SPD der Europawahl
begründen?
Nein, das schwelt ja schon längerer. Die SPD hat in den vergangenen
Jahren zu oft den Eindruck erweckt, als würde sie an sich selber leiden. Von
anderen bemitleidet zu werden, ist in der Politik schlimm, aber noch
schlimmer ist es, sich selbst zu bemitleiden.
Aber es geht
doch sicher nicht nur um die Psyche der Partei?
Nein. Es geht um gesellschaftliche Umbrüche, dramatische Veränderungen des
Wählermilieus. Und es geht um die Große Koalition, die wir zwar durch eine
Mitgliederbefragung auf ein breites Legitimationsfundament gestellt haben. Sie
wird aber von nicht wenigen als der Hauptgrund für unsere derzeitige
Schwäche ausgemacht. Die linke Volkspartei SPD hat es mit grundlegenden
Bewährungsproben zu tun und wir wissen alle, dass wir mit den üblichen
Mechanismen, mit der üblichen Rhetorik nicht mehr weiter kommen. Aber wir
müssen uns dem selbstbewusst stellen.
Was erwarten
Sie nun von dem neuen Führungstrio der Partei?
Die SPD sucht ihren Platz in diesem tanzenden Parteiensystem. Da ist es
wichtig, dass Reformvorschläge, die in den vergangenen Jahrzehnten aus
verschiedenen Gründen von meiner Partei abgelehnt wurden, unvoreingenommen
wieder auf den Tisch kommen: Doppelspitze, Urwahl, völlig neue Strukturen.
Nötig ist einerseits ein optimistischer, Türen öffnender Aufbruch nach außen.
Und wir brauchen Persönlichkeiten, die es schaffen, die Partei im Inneren
zu versöhnen.
Die
Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg finden schon am 1. September statt.
Viel Zeit bleibt nicht.
Ich bin erstmal froh darüber, dass wir uns so schnell wieder gefunden haben.
Ich hatte mit mehr Durcheinander gerechnet. Wir haben uns sowohl in der
Fraktion als auch in der Parteispitze auf vernünftige Strukturen verständigt,
um den Übergang zu gestalten. Es gibt ein klares Bekenntnis, dass wir unserer
Verantwortung gegenüber Deutschland und Europa gerecht werden, dass die
Koalition ihre Hausaufgaben macht. Und es wird niemanden überraschen oder
beunruhigen, dass wir ein paar Wochen oder Monate brauchen, um uns
personell und strategisch neu aufzustellen.
Wäre eine
Mitgliederbefragung zum künftigen Parteivorsitz eine Lösung, um die Basis
stärker einzubinden?
Es wäre eine große Chance, deutlich zu machen, dass man vor einem Wettbewerb
verschiedener Kandidaten und einer breiten Beteiligung der Basis keine Angst
haben muss. Man kann auch gestärkt daraus hervorgehen, weil die Partei sich in
diesem Prozess darauf verständigen kann, was ihr wirklich wichtig ist. Er
eröffnet auch allen eine Mitverantwortung. Unsere große Stärke ist eine
vielfältige und diskussionsfreudige Partei – und dies sollten wir nutzen.
Den Eintritt
in die jetzige Koalition hat die Parteibasis mit großer Skepsis begleitet – aus
Sorge, dass der interne Erneuerungsprozess dann nicht funktioniert. Haben die
Skeptiker im Nachhinein Recht behalten?
Der Erneuerungsprozess hat sich in den Augen vieler Bürger viel zu sehr nach
innen gerichtet und ist deshalb nicht als Einladung zum Mitmachen
verstanden worden. Aber es gibt auch keinen Automatismus: Weder wird man in
Regierungsverantwortung automatisch schwächer, noch in der Opposition
automatisch stärker. Wir sollten ein entspanntes Verhältnis dazu entwickeln.
Das haben wir derzeit nicht. Ich halte es nach wie vor für möglich, dass die
SPD auch in der Regierungsverantwortung stärker wird, wenn sie ein
selbstbewussteres Verhältnis zu dem entwickelt, was sie selbst schon alles
erfolgreich auf den Weg gebracht hat.
Der
Mindestlohn und die Rente mit 63 sind in der Bevölkerung durchaus beliebte
Projekte.
Ja, aber wir müssen deutlich machen, dass wir über unsere Sozialstaatskonzepte
hinaus den Anspruch haben, gesellschaftspolitisch, umweltpolitisch,
wirtschaftspolitisch und europapolitisch zu gestalten. Die SPD ruht ja nicht
nur auf einer Säule, das ist vielleicht in den vergangenen Monaten nicht
ausreichend wahrgenommen worden. Wir müssen endlich wieder junge Leute glaubhaft
ansprechen.
Nach dem
Rücktritt von Andrea Nahles wurde prompt am Fortbestand der Koalition
gezweifelt. Für wie wahrscheinlich halten Sie ein vorzeitiges Ende der Großen
Koalition?
Die Regierungsarbeit ist derzeit nicht ernsthaft bedroht, weil wir uns mit
dem Wiedereintritt in die Große Koalition ja bereits auf eine Überprüfung
zur Halbzeit der Wahlperiode verständigt haben. Und die steht auf dem nächsten
Parteitag an. Da hat die Partei die Gelegenheit, zu urteilen: Was ist erreicht
worden, was nicht? Lohnt es sich, das noch einmal zwei Jahre fortzusetzen? Aber
man kann nicht einfach, wie in der S-Bahn, ein Ticket ziehen, Eintritt in die
Große Koalition, und dann steigt man plötzlich wieder aus. Es gibt dafür
verfassungsrechtliche Vorgaben.
Reicht es in
der jetzigen Situation, zu betonen, man wolle den Koalitionsvertrag wie
versprochen abarbeiten?
Nein. Es gibt ein breites gesellschaftliches Interesse, die großen Fragen
der Zeit ohne realpolitische Scheuklappen zu diskutieren. Das finde ich
großartig! Und wer, wenn nicht die SPD könnte das? Die SPD war immer in ihrer
Geschichte eine Partei der Grundsatzdebatten, wo es ums Eingemachte ging: Die
Überwindung des Gegensatzes von Arbeit und Kapital, die Gleichstellung der
Geschlechter, der sozialökologische Umbau der Gesellschaft, die
Friedenspolitik. Da ist immer das große Rad gedreht worden. Vermutlich haben
wir in den vergangenen Jahren den Fehler gemacht, dass wir diese großen Fragen
nicht stärker in und mit der Öffentlichkeit diskutiert haben. Viele meinten,
wenn wir mit der Union einen geordneten, kleinteiligen Streit in der
Sache führen, dann kann das Profil der SPD gestärkt werden. So ist es aber
nicht. Denn solch ein Streit wird von vielen als sehr technisch
wahrgenommen.
Michael Roth ist seit 1998 für die SPD Mitglied des Bundestages. Er war von 2010 bis 2013 Europapolitischer Sprecher seiner Fraktion und ist seit Dezember 2013 Staatsminister für Europa im Auswärtigen Amt.