BVerfG-Beschluss vom 30. September 2025 – 1 BvR 1141/19.
Thüringer Hochschulgesetz.
Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts über eine Verfassungsbeschwerde entschieden, mit der sich Professorinnen und Professoren verschiedener Thüringer Hochschulen gegen Bestimmungen des Thüringer Hochschulgesetzes wenden.
Die mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Regelungen sind im Wesentlichen solche über die Organisation und Struktur der Hochschulen auf der zentralen Ebene und unterhalb der zentralen Ebene. Die Beschwerdeführenden rügen insbesondere eine Verletzung ihrer Wissenschaftsfreiheit aus Art. 5 Abs. 3 Satz 1 Grundgesetz (GG) durch diese Regelungen.
Die Verfassungsbeschwerde blieb überwiegend erfolglos. Sie ist bereits zu großen Teilen unzulässig. Die zulässig erhobenen Rügen sind überwiegend unbegründet. So räumen die angegriffenen Regelungen des Thüringer Hochschulgesetzes den Beschwerdeführenden ein die Wissenschaftsfreiheit hinreichend gewährendes Maß an Partizipation ein. Allein die Regelungen der § 35 Abs. 3 Satz 1, Abs. 4, § 40 Abs. 1 Sätze 1 und 2 Thüringer Hochschulgesetz (ThürHG) zur stimmberechtigten Mitwirkung der Vertreter der Gruppe der Mitarbeiter in Technik und Verwaltung an Entscheidungen des Hochschulsenats und anderer Selbstverwaltungsgremien verstoßen wegen deren Stimmgewichts gegen die Wissenschaftsfreiheit. Der Senat hat diese für mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärt. Die Regelungen gelten bis zum Inkrafttreten einer Neuregelung durch den Gesetzgeber, längstens bis zum Ablauf des 31. März 2027, fort.
Sachverhalt:
Das Thüringer Hochschulgesetz wurde im Zuge breiter hochschulrechtlicher Reformentwicklungen mehrfach geändert.
Die hier angegriffenen Regelungen des Thüringer Hochschulgesetzes vom 10. Mai 2018 sind solche über die Organisation und Struktur der Hochschulen auf der zentralen Ebene und unterhalb der zentralen Ebene. Sie sind Teil einer Gesetzesnovelle, die unter anderem die Repräsentation der Mitgliedergruppen in den Selbstverwaltungsorganen und -gremien, Änderungen der Zuständigkeitsverteilung innerhalb der Hochschulorganisation sowie Maßnahmen zur Verbesserung von Studium und Lehre betrifft. Für den Senat sowie die Selbstverwaltungsgremien unterhalb der zentralen Ebene sind zwei verschiedene Besetzungen vorgesehen. Die jeweilige Besetzung hängt von der Art der zu entscheidenden Angelegenheit ab. Grundsätzlich ist eine Besetzung vorgesehen, in der die vier Gruppen (Hochschullehrer, Studierende, akademische Mitarbeiter sowie Mitarbeiter in Technik und Verwaltung) über je ein Viertel der Sitze und Stimmen verfügen. Hingegen ist für Angelegenheiten, die die Lehre mit Ausnahme der Bewertung der Lehre, die Forschung, künstlerische Entwicklungsvorhaben oder die Berufung von Hochschullehrern unmittelbar betreffen, eine Besetzung vorgesehen, in der die Hochschullehrergruppe über eine knappe Mehrheit der Sitze und Stimmen verfügt.
Wesentliche Erwägungen des Senats:
A. Die Verfassungsbeschwerde ist nur teilweise zulässig.
I. Die Verfassungsbeschwerde der – teils ehemaligen – Hochschullehrer am Universitätsklinikum Jena ist insgesamt unzulässig. Sie legen die Möglichkeit einer Verletzung von Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG durch die von ihnen angegriffenen, die Hochschulmedizin beziehungsweise das Universitätsklinikum Jena betreffenden Organisationsregelungen nicht hinreichend dar.
II. Im Übrigen ist die Verfassungsbeschwerde nur insoweit zulässig, als sie die Regelungen über das Findungsverfahren zur Vorbereitung der Wahl des Präsidenten, die Abwahl des Präsidenten, die Besetzung des Schlichtungsgremiums, die Befugnis des Präsidenten zur Letztentscheidung in Zuordnungsstreitigkeiten sowie die stimmberechtigte Mitwirkung der Vertreter der Gruppe der Mitarbeiter in Technik und Verwaltung im Senat und in den Selbstverwaltungseinheiten unterhalb der zentralen Ebene angreift.
Unzulässig ist die Verfassungsbeschwerde insbesondere, soweit sie geltend macht, dass eine Sitz- und Stimmenmehrheit der Hochschullehrer in allen Senatsangelegenheiten die einzige zweckmäßige Regelungsvariante sei und dass sich die Unterscheidung zwischen Angelegenheiten, über die in paritätischer Besetzung zu entscheiden ist, und solchen Angelegenheiten, über die mit Hochschullehrermehrheit zu entscheiden ist, praktisch nicht durchführen ließe.
B. Soweit die Verfassungsbeschwerde zulässig ist, ist sie nur teilweise begründet.
I. Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG enthält neben einem individuellen Freiheitsrecht eine objektive, das Verhältnis von Wissenschaft, Forschung und Lehre zum Staat regelnde, wertentscheidende Grundsatznorm. Der Gesetzgeber muss bei der Organisation des Wissenschaftsbetriebs ein hinreichendes Niveau der Partizipation der Träger des Grundrechts der Wissenschaftsfreiheit gewährleisten und für die Organisation der Wissenschaftsfreiheit ein Gesamtgefüge schaffen, in dem Entscheidungsbefugnisse und Mitwirkungsrechte, Einflussnahme, Information und Kontrolle so beschaffen sind, dass strukturelle Gefahren für die Freiheit von Lehre und Forschung vermieden werden. Dies betrifft in den gegenwärtigen Hochschulstrukturen das Verhältnis der Vertretungsorgane zu den Leitungsorganen wie auch deren angemessene Binnenausgestaltung.
Mit Blick auf die Binnenausgestaltung setzt eine angemessene Partizipation der Träger des Grundrechts der Wissenschaftsfreiheit über Vertretungsorgane voraus, dass sie als Organmitglieder ihre fachliche Kompetenz zur Verwirklichung der Wissenschaftsfreiheit einbringen und Gefährdungen der Wissenschaftsfreiheit durch wissenschaftsinadäquate Entscheidungen abwehren können.
Eine angemessene Partizipation der Hochschullehrerinnen und Hochschullehrer ist jedenfalls gesichert, wenn sie sich in wissenschaftsrelevanten Angelegenheiten gegenüber den anderen Gruppen durchsetzen können.
Darüber hinaus erfordert der Schutz vor wissenschaftsinadäquaten Entscheidungen, dass die Gesamtzusammensetzung der Organe, auf die die Träger des Grundrechts der Wissenschaftsfreiheit zur Verwirklichung ihres Anspruchs auf Teilhabe an der Organisation des Wissenschaftsbetriebs angewiesen sind, bei wissenschaftsrelevanten Entscheidungen keine Möglichkeit nicht unerheblicher wissenschaftsfremder Einflussnahme eröffnet. Die Wissenschaftsfreiheit des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG erfordert daher bei wissenschaftsrelevanten Entscheidungen, dass das Stimmgewicht einer Mitgliedergruppe, deren Gruppenangehörige in ihrer Tätigkeit nicht unmittelbar auf Forschung und Lehre bezogen sind, hinreichend begrenzt ist oder die zur Mitentscheidung berufenen Vertreter dieser Gruppe eine qualifizierte Beziehung zum Wissenschaftsbetrieb aufweisen. Dies schließt eine Beteiligung der Gruppe der nichtwissenschaftlichen Mitarbeiter bei solchen Entscheidungen nicht vollständig aus, verlangt aber, dass ihr bei undifferenzierter Beteiligung ein signifikant geringerer Stimmanteil zukommt als den Lehre und Forschung unmittelbar verbundenen Gruppen.
II. Die zulässig angegriffenen Vorschriften des Thüringer Hochschulgesetzes werden diesen Maßstäben nicht durchgängig gerecht.
1. a) Die Vorschriften über die Findung von Kandidaten für das Präsidentenamt und die Abwahl des Präsidenten verletzen die Beschwerdeführenden nicht in ihrem aus Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG folgenden Teilhaberecht. Der Einfluss der Gruppe der Hochschullehrerinnen und Hochschullehrer ist hinsichtlich dieser Vorgänge zwar begrenzt. So kann die Gruppe der Hochschullehrerinnen und Hochschullehrer nach der gesetzlichen Konzeption ihre Vorschläge in die Findungskommission einbringen, sie kann aber nicht verhindern, dass der Wahlvorschlag der Findungskommission von den Hochschullehrern abgelehnte Kandidaten enthält. Eine Abwahl des Präsidenten kann sie aus eigener Kraft verhindern, aber nicht bewirken.
b) Einen hierüber hinausgehenden Einfluss der Gruppe der Hochschullehrer gebietet die Wissenschaftsfreiheit aber nicht. Zwar sind das Präsidium und der Präsident als dessen Vorsitzender, der dessen Richtlinien festlegt, mit weitreichenden Befugnissen in wissenschaftsrelevanten Angelegenheiten ausgestattet. Jedoch hat der Gesetzgeber der Gruppe der Hochschullehrer einen so weitreichenden Einfluss auf diese Entscheidungen gesichert, dass ein der Wissenschaftsfreiheit genügendes Partizipationsniveau gegeben ist, über das wissenschaftsgefährdende Entscheidungen verhindert werden können.
Hinsichtlich der weichenstellenden wissenschaftsrelevanten Entscheidungen über die Entwicklung, Organisation und Ressourcen der Hochschulen ist ein das Mindestniveau an Partizipation sichernder Einfluss der Gruppe der Hochschullehrerinnen und Hochschullehrer gegeben. Dies betrifft insbesondere die Präsidiumszuständigkeiten für den Abschluss der Rahmenvereinbarung sowie der Ziel- und Leistungsvereinbarungen, für die Struktur- und Entwicklungsplanung, die Grundsätze der Ausstattung und internen Mittelverteilung und für frei werdende Hochschullehrerstellen.
2. Die Regelung des Verfahrens der Zuordnung der Angelegenheiten zu den unterschiedlichen Besetzungen des Senats ist hinsichtlich der Besetzung des Schlichtungsgremiums und der Befugnis des Präsidenten zur Letztentscheidung in Zuordnungsstreitigkeiten mit Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG vereinbar.
Die Beteiligung der Gruppe der Hochschullehrerinnen und Hochschullehrer mit nur einem Vertreter ist verfassungsrechtlich unbedenklich, solange die Vorschrift des § 37 Abs. 2 ThürHG in verfassungskonformer Auslegung so verstanden wird, dass der jeweilige Vertreter ein Scheitern der Schlichtung herbeiführen kann. Dass nach einem gescheiterten Schlichtungsversuch der Präsident über die Zuordnung von Angelegenheiten zum paritätischen oder erweiterten Senat beziehungsweise dezentralen Selbstverwaltungsgremium entscheidet, ist verfassungsrechtlich ebenfalls nicht zu beanstanden.
3. Mit der Wissenschaftsfreiheit nicht vereinbar ist jedoch die gesetzliche Ausgestaltung der undifferenzierten stimmberechtigten Mitwirkung der Vertreter der Gruppe der Mitarbeiter in Technik und Verwaltung an Entscheidungen des Senats gemäß § 35 Abs. 3 Satz 1, Abs. 4 ThürHG und an Entscheidungen der dezentralen Selbstverwaltungsgremien gemäß § 40 Abs. 1 Sätze 1 und 2 ThürHG.
a) Im Senat und in den dezentralen Selbstverwaltungsgremien verfügt die Gruppe der Mitarbeiter in Technik und Verwaltung über ein gleiches Stimmgewicht wie die Gruppe der akademischen Mitarbeiter und die Gruppe der Studierenden.
b) Der Gesetzgeber hat hiermit nicht die nach Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG gebotenen Vorkehrungen gegen die strukturelle Gefahr einer wissenschaftsinadäquaten Beeinflussung der Entscheidungen des Senats und der dezentralen Selbstverwaltungsgremien getroffen.
Er hat dadurch eine strukturelle Gefahr für die Wissenschaftsfreiheit geschaffen, dass er die Stimmberechtigung der Mitarbeiter in Technik und Verwaltung auf wissenschaftsrelevante Angelegenheiten erstreckt hat, ohne entweder eine qualifizierte Beziehung der zur Mitentscheidung berufenen Vertreter dieser Gruppe zum Wissenschaftsbetrieb oder eine zur Abwehr wissenschaftsinadäquater Einflussnahme hinreichende Begrenzung des Stimmgewichts zu gewährleisten. Eine qualifizierte Beziehung zum Wissenschaftsbetrieb ist bei den dem Senat beziehungsweise den Selbstverwaltungsgremien unterhalb der zentralen Ebene angehörenden Vertretern der Gruppe der Mitarbeiter in Technik und Verwaltung gesetzlich nicht gewährleistet. Die Mitgliedergruppe ist so konzipiert, dass sie sich gerade durch die Abwesenheit einer unmittelbar auf die Wissenschaft bezogenen Tätigkeit definiert. Die Regelungen der § 35 Abs. 3 Satz 1, Abs. 4 und § 40 Abs. 1 Sätze 1 und 2 ThürHG lassen es zu, dass die Gruppe der Mitarbeiter in Technik und Verwaltung im Senat und in den dezentralen Selbstverwaltungsgremien durch Gruppenangehörige vertreten wird, deren konkrete Tätigkeit – auch wenn sie für den Betrieb der Hochschule notwendig ist – keine besonders enge Verbindung zu Forschung oder Lehre aufweist, und die gleichwohl uneingeschränkt mitwirken. Das Stimmgewicht der Vertreter der Mitarbeiter in Technik und Verwaltung ist bei wissenschaftsrelevanten Entscheidungen auch nicht so gering, dass die Möglichkeit einer wissenschaftsinadäquaten Einflussnahme auf die Entscheidungsfindung der Grundrechtsberechtigten eine nur hypothetische Gefahr darstellt.
Quelle: BVerfG-Pressemitteilung Nr. 111/2025 vom 11. Dezember 2025
