Peter Glotz beklagte die Unattraktivität und mangelnde Durchsetzungsfähigkeit unserer Politiker.
Von Dietmar Jochum, TP Berlin.
Peter Glotz, das darf man vorweg ruhig behaupten, war ein politischer Zeitgenosse, der sich ständig schwere Gedanken machte. Ob als Politiker, Buchautor, Publizist und Journalist – stets verstand es der im August vorigen Jahres verstorbene sozialdemokratische „Vordenker“ wie kaum ein anderer, politische, historische sowie wirtschaftliche Themen anzupacken, sie zu hinterfragen, zu dramatisieren, nicht selten gar zu provozieren. Allein im Spiegel und in der Zeit hat er seit 1975 fast sechzig Texte verfasst; für die Monatszeitschrift Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte war er von 1982 bis zu seinem Tod im August 2005 deren (auch selbst schreibender) Chefredakteur. Seine Beiträge erschienen u.a. auch in der Süddeutschen Zeitung, Frankfurter Rundschau, FAZ und Welt. Für die „Woche“ schrieb er in den 90er Jahren eine Reihe von Porträts über Politiker wie Gregor Gysi, Roman Herzog, Wolfgang Schäuble, Rita Süssmuth, aber auch über Wirtschaftsvertreter wie Dieter Hundt, Till Neckar, Heinrich von Pierer und Jürgen E. Schrempp. Fleiß gehörte zu einer seiner Haupttugenden, auf die er großen Wert legte. Schon in aller Herrgottsfrühe – fast zeitgleich mit dem Aufwachen der Hühner – stand Glotz „Gewehr bei Fuß“ und verfasste seine Auffassungen und Gedanken über Themen wie Nationalismus, Europa, soziale Demokratie, Bildung und Kommunikation in Essays und wissenschaftlichen Abhandlungen, von denen über dreißig in diesem Band zusammengefasst sind.
Für Peter Glotz, den Heimatvertriebenen, war Vertreibung ein Verbrechen; er erkannte aber auch, dass Geschichte „kein Film (ist), den man rückwärts laufen lassen kann“. Jedenfalls hat die Bundesrepublik – woran sie gut tat – die Unverletzlichkeit bestehender Grenzen anerkannt.
Die europäische Politik in Jugoslawien hielt Peter Glotz, der im Nationalismus den tieferen Grund für die Exzesse (Völkermord, Vertreibung) des 20. Jahrhunderts sah, dann auch folgerichtig für „eine Kette von Fehlleistungen“, die „mit den unverzeihlichen Pressionen der Deutschen auf die Anerkennung Sloweniens (‚die noch hingehen mochte’) und Kroatiens (‚die in Serbien die fixe Idee von der Notwendigkeit eines Präventivkrieges forderte’) begann“. Dass die meisten deutschen Medien und die meisten deutschen Politiker keinen Unterschied zwischen Milosevic, Karadzic, Seselj und ihren Anhängern und den „Serben“ gemacht hätten, war für ihn „die größte Schande, die wir seit 1945 im Verhältnis zu anderen Völkern auf uns geladen haben“. Im Hinblick darauf, dass die Anerkennung Bosniens sofort zum bosnischen Krieg führte, räsonierte er, dass „man sich vergeblich (fragt), warum die gleichen Leute, die den Vielvölkerstaat Jugoslawien für mausetot erklärten, glaubten, dass ein Vielvölkerstaat Bosnien lebensfähig sei“. Für ihn (musste) die Idee, „die bisher geltenden und oft willkürlich gezogenen inneren Grenzen abhängiger Bundesländer zu Staatsgrenzen selbständiger, nach dem Mehrheitsprinzip regierter Nationalstaaten zu machen, zum Krieg führen“. Schließlich hätte man wissen können, dass sich „800 000 Serben im kroatischen Knin, in Slawonien oder gar in der Krajina und 1,2 Millionen Serben in Bosnien niemals als Minderheiten in einem kroatischen oder bosnischen Staat einordnen würden“. Zu furchtbar seien die – gegenseitigen – Erinnerungen an die Maxime der kroatischen Ustascha, die auch Bosnien beherrschte, gewesen: „Bekehre ein Drittel, treibe ein Drittel aus, töte ein Drittel.“ So seien die Morde der Ustascha an Serben im berüchtigten Konzentrationslager Jasenovac auch so brutal gewesen, dass selbst die deutsche Besatzungsmacht einschließlich der SS protestiert hätte.
Politiker hielt Peter Glotz für „arme Schlucker“. Gewiss, tat er wiederum bescheiden, könne man Politiker nicht so gut bezahlen wie das Spitzenmanagement („das würden die Wähler nicht ertragen“), doch würde eine Demokratie, die nur auf Idealisten (womit er offensichtlich unterbezahlte Politiker meinte) angewiesen wäre, zum Irrenhaus. Während sich (gut bezahlte) Manager Dauerpetenten, problematische Naturen und aggressive Nervensägen locker vom Leib halten könnten, seien Politiker, bei denen er – auch auf Grund unangemessener Bezahlung – ein Nachlassen von Attraktivität festzustellen meinte, in jeder Versammlung, jeder Sprechstunde solchen Leuten ausgesetzt. Dabei sei die Arbeitszeit nicht kürzer als in den Spitzenjobs der Wirtschaft. Während, so Glotz, der Geschäftsbereichsleiter der Telekom, der eine Runde seiner Mitarbeiter zusammengerufen hat, die Beratung abbrechen könne, wenn er wisse, was er tun soll, müsse der Politiker immer noch die Meinung der Kollegin aus Sachsen-Anhalt und das ceterum censeo des Zwölfenders aus Niederbayern anhören. Und dann: Warum sollte sich, wer eine Buiseness-Card von Harvard, Insead, der WHU oder anderer international führenden Managementschulen erworben habe, solch einen Job antun? Eine Antwort sah Glotz darin, dass jemand dem Gemeinwesen, dem Vaterland, seinen Mitmenschen oder auch einer ganz bestimmten Gruppe dienen möchte. Wie aber z.B. ein Gemeinwesen mit einem aufgeblähten Beamtenapparat auch nur halbe oder viertel Management-Gehälter an tausende von Politikern bezahlen kann, wenn es sich noch nicht einmal mit Mindestlöhnen für Arbeiter und Angestellte befassen will, bleibt Peter Glotz’ großes Geheimnis. Schließlich kann man die Politiker aber auch nicht alle zu Moritz Hunzinger schicken, damit der ihnen dann wenigstens die Anzüge sponsert, damit sie sich wenigstens äußerlich attraktiv finden.
Peter Glotz hat wohl recht, dass Bundestagspräsidenten, Fraktionsvorsitzende und Fraktionsgeschäftsführerinnen, die immer wieder vor Diätenerhöhungen zurückschreckten, weil sie die Headline der Bild-Zeitung fürchteten, keine Feiglinge seien, sondern Realisten. Oder vielleicht auch nicht. Hans Magnus Enzensberger schrieb jedenfalls einmal fast wortwörtlich: Politiker bekommen einfach den Hals nicht voll.
Nichtsdestotrotz: Mit Peter Glotz hat die SPD einen streitbaren und kreativen Politiker verloren.
Peter Glotz: Gelebte Demokratie. Essays und Porträts aus drei Jahrzehnten.
Hrsg. Von Annalisa Viviani / Wolfgang R. Langenbucher,
Mitwirkung: Felicitas Walch. Verlag J.H.W. Dietz Nachf. , Bonn 2006,
193 Seiten, 16,80 Euro