Wer die Armen sind.

Der Paritätische Armutsbericht 2018 Statement von Dr. Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes, anlässlich der Präsentation des Paritätischen Armutsberichtes 2018 (armutsbericht-2018_web) am 13. Dezember 2018 in der Bundespressekonferenz.

Sehr geehrte Damen und Herren, heute legt der Paritätische Wohlfahrtsverband seinen Armutsbericht 2018 vor. Es handelt sich um eine aktuelle Bestandsaufnahme der Armut in Deutschland, die wir auf Grundlage der Daten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, des sogenannten Sozio-oekonomischen Panels errechnet und erstellt haben. Der Paritätische Armutsbericht 2018 stellt ein Novum in der Armutsforschung dar. Ganz bewusst nehmen wir einen echten Perspektivenwechsel in der Betrachtung der Armut vor. Wir wollen populäre, aber falsche Bilder über Armut in Deutschland korrigieren. Und wir wollen damit den Blick freimachen für eine Neujustierung des armutspolitischen Instrumentariums. Eine solche ist nach unseren Forschungserkenntnissen dringend nötig.

Neue Prioritäten drängen sich auf.

Zu den Ergebnissen unseres Berichtes: Mit einer Armutsquote von 16,8 Prozent ist erneut eine neue traurige Rekordmarke seit der Vereinigung erreicht. Es geht um mindestens 13,7 Millionen Menschen, die aktuell zu den Armen gezählt werden müssen.

Dabei sind in der Statistik lediglich Menschen erfasst, die über einen eigenen Haushalt verfügen. Völlig außen vor bleiben jedoch beispielsweise die 800.000 bis 1.000.000 wohnungslose Menschen unter uns, die über 800.000 Bewohner von Pflegeheimen, von denen rund die Hälfte auf Sozialhilfe angewiesen ist, oder aber die über 200.000 Menschen mit Behinderungen in Wohnheimen, die ebenfalls in aller Regel Sozialhilfe beziehen.

Faktisch werden es daher in Deutschland durchaus noch mehr Menschen als die 13,7 Millionen sein, die unter die Armutsgrenze fallen.

In der längerfristigen Betrachtung der Armutsentwicklung ist dabei seit der zweiten Hälfte der 1990er Jahre, als die Armutsquote noch 11 Prozent betrug, ein ganz klarer Aufwärtstrend erkennbar. Die neuesten Ergebnisse lassen es nicht mehr zu, von einer Stabilisierung der Armutsentwicklung zu sprechen, wie dies beispielsweise noch der letzte Armutsbericht der Bundesregierung tat. Es ist tatsächlich ein Aufwärtstrend, der uns angesichts der guten Wirtschaftsdaten der letzten Jahre alarmieren muss: Wirtschaftsentwicklung und Armutsentwicklung sind ganz offensichtlich gänzlich voneinander abgekoppelt. Mit anderen Worten: die Armut ist nicht wirtschaftlich bedingt, sie ist politisch hausgemacht. Schauen wir, welche Bevölkerungsgruppen vor allem von Armut betroffen sind, ergibt sich das klassische Bild: Es sind vor allem Arbeitslose mit einer Armutsquote von 63 Prozent und Alleinerziehende mit einer Quote von 40 Prozent, wobei dieser Prozentsatz geradezu dramatisch ansteigt, wenn wir uns die Alleinerziehenden mit zwei oder mehr Kindern unter 15 Jahren anschauen: weit über die Hälfte von ihnen, 56 Prozent, lebt in Armut. Es sind mit einer Armutsquote von 30 Prozent weiterhin kinderreiche Paarfamilien, die ins Auge fallen, oder Menschen mit nur geringen Bildungsabschlüssen (30 %) sowie Migrantinnen und Migranten (28 %). Es sind damit die seit Jahren bekannten Gruppen, deren Armutsrisiko weit über dem Durchschnitt liegt, ohne dass – allen politischen Beteuerungen und Absichtsbekundungen zum Trotz – irgendeine Verbesserung ihrer Situation erkennbar wäre. Allein dieser Umstand dürfte getrost ein politischer Skandal genannt werden.

Bis hierhin folgt unser Bericht sozusagen der klassischen Herangehensweise an Armut. Sie ist insofern aussagekräftig und relevant, als wir einen politischen Fingerzeig erhalten, wo armutspolitische Instrumente anzusetzen hätten, um die unverhältnismäßige Armut der genannten Risikogruppen zu bekämpfen.

Eigentümlich ist dieses Jahrzehnte lang praktizierte Verfahren jedoch insofern, als wir nichts darüber erfahren, wer diese 13,7 Millionen Menschen eigentlich sind, die in Deutschland zu den Armen gezählt werden müssen. Um wen handelt es sich eigentlich? Wie viele Arbeitslose oder Migranten befinden sich tatsächlich unter diesen 13,7 Millionen? Wenn 63 Prozent der Arbeitslosen arm sind, heißt das ja nicht, dass sie damit auch die Gruppe der 13,7 Millionen Armen dominieren müssen.

Die Konzentration der Armutsberichterstattung auf bestimmte Amtsrisikogruppen hat in der Öffentlichkeit zu Fehlschlüssen und zum Teil falschen Bildern und Klischees über Arme geführt: Arme, das seien vor allem Arbeitslose, Alleinerziehende, Migranten und ungebildete und unqualifizierte Menschen. Und genau das ist falsch.

Wer also sind die Armen unter uns? Die Antwort: Es sind in der ganz überwiegenden Zahl hier in Deutschland geborene Menschen und Personen mit zumeist mittlerem oder höherem Qualifikationsniveau. Die meisten erwachsenen Armen, fast drei Viertel, sind entweder erwerbstätig, in Ausbildung oder schon in Rente oder Pension.

Ganz genau ist ein Drittel von ihnen erwerbstätig, ein Viertel in Rente und 12 Prozent sind in Ausbildung. Nur ein gutes Fünftel (21 %) der Armen ist dagegen arbeitslos – und dies, ganz ohne Kinder mitgerechnet zu haben.

Um gleich einem weiteren Klischee entgegenzutreten: Es handelt sich dabei nicht vor allem um Minijobber oder Gelegenheitsarbeiter. Die machen lediglich 27 Prozent der erwerbstätigen Armen aus. Über zwei Drittel (69 %) sind mehr als geringfügig und 41 Prozent sogar voll erwerbstätig. Womit wir es also statistisch zu tun haben, ist echtes „working poor“. Armut trotz echter Arbeit.

Was jedoch kein Klischee ist, ist der überdurchschnittliche Anteil von Leiharbeitern und Beschäftigten mit nur befristeten Arbeitsverhältnissen unter den erwerbstätigen Armen. Beträgt die Leiharbeitsquote unter den nicht armen Erwerbstätigen gerade mal zwei Prozent, sind es unter den Armen acht Prozent. Haben unter den nicht armen Erwerbstätigen elf Prozent einen nur befristeten Arbeitsvertrag, sind es bei den Armen 31 Prozent. Zumindest statistisch ist damit der Zusammenhang zwischen Leiharbeit und befristeten Beschäftigungsverhältnissen einerseits und working poor andererseits evident.

Vor diesem Hintergrund kann es auch nicht erstaunen, dass die Aussage, arme Menschen seien zumeist auch ungebildet, lediglich einem Vorurteil entspricht: Fast drei Viertel der Armen über 25 Jahren können durchaus ein mittleres oder auch hohes Qualifikationsniveau vorweisen. Bildung ist nicht in erster Linie ihr Problem.

Auch was den Migrationshintergrund anbelangt, sollten wir uns vor Augen halten:

Das Armutsproblem ist kein alleiniges Problem von Migranten. Rund drei Viertel der Armen ist hier in Deutschland geboren.

Die überwiegende Zahl der Armen hat keinerlei, auch keinen indirekten Migrationshintergrund.

Die politische Relevanz dieser Befunde liegt auf der Hand:

Die Umkehrung der Sichtweise auf die Armen, die Veränderung der Fragestellung von „Wer hat das höchste Armutsrisiko?“ hin zu „Wer sind die Armen?“ lässt neue Relevanzen der Armutsbekämpfung in den Vordergrund rücken. Nicht dass die Bekämpfung der Armut unter Alleinerziehenden, Arbeitslosen oder Migranten zweitrangig oder obsolet würde.

Dies kann aus den neuen Befunden des Armutsberichtes nicht geschlossen werden.

Doch wird die Agenda deutlich breiter. Es fällt auf, dass gerade die beiden Phänomene, die in der öffentlichen und politischen Diskussion mit Verweis auf vergleichsweise günstige Armutsrisikoquoten regelmäßig heruntergespielt werden, in der neuen Sichtweise eine ganz besondere Bedeutung erlangen: Es geht um Rentner und um Erwerbstätige und ihre Kinder.

Bei Rentnern oder Erwerbstätigen wird regelmäßig auf die verhältnismäßig geringen Armutsquoten von 14,7 und 9,2 Prozent verwiesen. „Kein Problem, zumindest keine Priorität“, wird aus den Daten fälschlicherweise geschlossen. In der neuen Betrachtungsweise wird hingegen deutlich:

Wenn jeder vierte erwachsene Arme Rentner ist und jeder Dritte erwerbstätig, werden wir die Armut in der Breite niemals bekämpfen können ohne entsprechende Reformen in Alterssicherung, ohne eine anspruchsvolle Arbeitsmarkt- und Mindestlohnpolitik und ohne einen Familienlastenausgleich, der arbeitende Eltern zuverlässig vor Armut schützt, auch wenn sie alleinerziehend oder kinderreich sind. Wir werden eine überwältigende Mehrheit der Armen ohne solche Reformen gar nicht erreichen. Die halbherzigen Trippelschritte, die wir dagegen in der Koalition auf allen drei Themenfeldern erleben, führen dagegen lediglich zu einer Zementierung der jetzigen Armutspopulation.

Spätestens mit Vorlage dieses Armutsberichts gibt es keinerlei Entschuldigung mehr für ein Nichtstun oder für Unzulänglichkeiten in der Bekämpfung der Altersarmut und bei Erwerbstätigen.

Dass der Paritätische seit langem eine klare Agenda der Armutsbekämpfung verfolgt – von höheren Hartz IV-Regelsätzen über den sozialen Arbeitsmarkt bis hin zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf – ist Ihnen geläufig.

Mit Blick auf die aktuellen Befunde sind weitere Maßnahmen zu einer wirksamen Bekämpfung der Armut in der Breite unerlässlich und unaufschiebbar:

die Anhebung des Rentenniveaus auf wieder 53 Prozent,

der Einbau eines armutsfesten Sockels in der Rente für langjährige Beitragszahler,

die Reform der Altersgrundsicherung mit auskömmlichen Regelsätzen und einer deutlichen Besserstellung von Rentnern,

die Erhöhung des Mindestlohns auf 12,63 Euro,

die konsequente Eindämmung von Leiharbeit,

die Abschaffung sachgrundlos befristeter Beschäftigungsverhältnisse sowie

der Umbau von Kindergeld und Kinderzuschlag zu einer echten

existenzsichernden Kindergrundsicherung, wie sie mittlerweile von einer Vielzahl von Fachverbänden im Bündnis Kindergrundsicherung gefordert wird.

Wir gehen bei unseren Berechnungen nach wie vor vom Konzept der relativen Einkommensarmut aus. Wir folgen damit den Konventionen der EU und den anerkannten wissenschaftlichen Standards in der Armutsforschung. Armut liegt vor, wenn das Einkommen weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens in einer Gesellschaft beträgt. Dieses Konzept ist in seinen Stärken und Schwächen hinreichend diskutiert, so dass ich uns in Anbetracht Ihrer knapp bemessenen Zeit methodische Ausführungen ersparen möchte. Wir wissen aus unserer wohlfahrtspflegerischen Arbeit heraus, dass die 60 Prozent-Schwelle im Alltag der alleimeisten betroffenen tatsächlich eine Schwelle der Ausgrenzung markiert, die uns von Armut sprechen lassen muss.

Gegner dieses Konzeptes setzen dann gelegentlich die Behauptung dagegen, die 60-Prozent-Schwelle sei keine Armutsschwelle, weil man davon doch gut leben könne. In diesem Bericht sind wir deshalb erstmalig zwei weiteren Fragen statistisch nachgegangen: Mit welchen Entbehrungen ist das Leben unterhalb der Armutsschwelle im Alltag verbunden? Und: Wie wirkt sich das auf die Betroffen aus?

Wie belastet sind sie im Vergleich zu den nicht Armen?

Die Ergebnisse sind neu, aber nicht ganz unerwartet: Relative Einkommensarmut, wie wir sie messen, geht mit echten materiellen und sozialen Entbehrungen Hand in Hand. Häufig genug kein Geld für einen Internetanschluss, einen kleinen Urlaub, die Reparatur des Autos oder der Waschmaschine.

In nahezu zwei Drittel der Haushalte ist keinerlei Notgroschen vorhanden. Für die Mehrheit der Armen ist der Besuch einer Sport- oder Kulturveranstaltung die große Ausnahme.

So kann es auch nicht verwundern, dass arme Menschen ein deutlich sorgenvolleres Leben haben als nicht Arme, seien es Sorgen um die wirtschaftliche Situation, die Altersversorgung oder aber die eigene Gesundheit. Menschen unterhalb der 60-Prozent-Schwelle sind deutlich häufiger ängstlich und traurig als der Rest der Gesellschaft, sind weniger glücklich. Sie haben auffällig häufiger auch ganz subjektiv Angst vor Kontrollverlust und sind häufiger hoffnungslos und niedergeschlagen.

Uns war es sehr wichtig, auch einmal diese Aspekte relativer Einkommensarmut aufzuarbeiten, um ganz klar festzustellen:

Das Konzept relativer Einkommensarmut und die 60-Prozent-Schwelle sind nachweisbar kein akademisch-abgehobenes Konstrukt aus dem Elfenbeinturm. Es geht um echte Entbehrungen von Dingen, die ansonsten zum Alltag in Deutschland gehören. Es geht um seelische Belastungen, um viel Sorgen und viel Hoffnungslosigkeit.

Fotoquelle (Ulrich Schneider): TP Presseagentur Berlin

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