Wir erreichen die Angeklagten nicht mit unseren Worten.

TP-Interview mit dem Nebenkläger-Vertreter Rechtsanwalt und Notar Hanns-Ekkehard Plöger.

TP: Nach der Abtrennung des Verfahrens gegen Herrn Prof. Dr. Hager wurde nun auch das Verfahren gegen Herrn Mückenberger abgetrennt. Wie steht die Nebenklage dazu?

Plöger: Großverfahren mit mehreren Angeklagten haben zwar den Vorteil, daß der Sachverhalt durch die Möglichkeit der Einlassungen der Angeklagten umfassender ausgeleuchtet wird, aber das Verfahren kann auch wirkungsvoller verschleppt werden, weil sich ab und an einer der Angeklagten in eine vermeintliche Krankheit flüchtet oder eine bestehende Krankheit dramatisiert. Allerdings besteht dadurch auch die Chance der Straffung, weil noch nicht angeklagte, aber belastete Zeugen zwar aufgrund von Beweisanträgen geladen werden müssen, aber sich dann auch auf § 55 StPO (Auskunftsverweigerungsrecht) berufen. Frühere Angeklagte, die rechtskräftig abgeurteilt worden sind, versuchen ohnehin, ihre Freunde im Geiste und in der Tat zu entlasten, wie dies bei dem stellvertretenden Verteidigungsminister, Herrn Streletz, der Fall war.

Alter und Krankheit dürfen niemals dazu führen, daß sich Angeklagte ihrer strafrechtlichen Verantwortlichkeit entziehen, sofern noch Verhandlungsfähigkeit gegeben ist; denn das schuldet der Rechtsstaat den Opfern und ihren Angehörigen. Wir haben daher gegen die Abtrennung, wenn auch erfolglos, Beschwerde beim Kammergericht eingelegt, weil wir meinen, daß gegen Herrn Mückenberger, der immerhin noch für zwei Stunden täglich verhandlungsfähig ist, hätte weiterverhandelt werden müssen. Wir lassen die angebliche Überlastung der Kammer nicht gelten, denn bereits bei der Eröffnung des Hauptverfahrens war den Richtern das Alter der Mitangeklagten Prof. Dr. Hager und Mückenberger bekannt, so daß man mit einer späteren Abtrennung der Verfahren bei Fortsetzung derselben rechnen konnte und sich hierauf zeitlich einrichten mußte.

Nunmehr sind diese Verfahren ausgesetzt worden und es sieht auch nicht so aus, als ob neu verhandelt wird. Steuergelder wurden hier durch die Justiz verschwendet.

TP: Wie steht es, um diese Frage auch mal zu stellen, überhaupt mit dem Opferschutz in derartigen Verfahren?

Plöger: Es ist schon ein Unding, daß für Angehörige von Opfern, die sich dann nicht an den Verfahren beteiligen können, wenn ihre Rechtsanwälte nicht beigeordnet werden. Gerade bei Großverfahren hat niemand als Angehöriger das Geld, um auf Dauer einen Rechtsanwalt als Vertreter der Opfer zu bezahlen.

Den Angeklagten werden auf Kosten der Landeskasse Verteidiger beigeordnet, weil sie entweder in Haft sitzen oder angeblich die Kosten nicht aufbringen können. Rechtsanwälte, die Angehörige der Opfer vertreten, werden nur dann beigeordnet, wenn die Angehörigen selber ohne Angehörige nicht über 850,00 DM Einkommen haben oder 1.300,00 DM bei einem unterhaltsverpflichteten oder 1.575,00 DM bei zwei unterhaltsverpflichteten Personen.

Bei Totschlag und Mord müßten die Nebenklägervertreter auch unabhängig vom Einkommen der Angehörigen auf Kosten der Landeskasse beigeordnet werden. Die Abschaffung der Lynchjustiz und der Blutrache war ein wesentlicher Fortschritt auf dem Wege zur humanen Zivilisation, aber die Waffe der Staatsanwaltschaft darf nicht durch Gleichgültigkeit und Ignoranz in der Vertretung der Interessen der Opfer und des Staates stumpf werden.

TP: Immer wieder wird von den Angeklagten ins Feld geführt, daß die Frage der Errichtung der Grenzen und der Grenzsicherung von Moskau gesteuert worden sei und man insoweit keine Souveränität gehabt habe. Was gibt’s dazu von Ihrer Seite zu sagen?

Plöger: Niemand von den Angeklagten wird dafür zur Rechenschaft gezogen, daß es eine Mauer gab, die als Staatsgrenze bezeichnet wurde. Die Errichtung derselben war und ist nicht strafbar, auch wenn damit ein Staatsvolk abgeriegelt und in seiner Freizügigkeit beschränkt worden war. Hier geht es um die Ausgestaltung der Grenzsicherung. Es waren nicht etwa russische Soldaten, die die Grenzsicherung vornahmen, sondern dies waren junge Bürger der DDR. Es hat sich im Verlaufe der vielen Verhandlungen auch herausgestellt, daß er keine ernsthaften Rechtsnachteile erfuhr, wenn er sich nicht für den Grenzdienst entschloß oder darum bat, aus dem Grenzdienst versetzt zu werden. Der Fahneneid, den ein Grenzsoldat zu leisten hatte, unterschied sich von einem NVA-Soldaten dadurch, daß er zusätzlich den Schwur leistete: „Standhaft und mutig“. Die Grenzen des „sozialistischen Vaterlandes gegen alle Feinde zuverlässig zu schützen“. Nicht vergessen sei auch die Möglichkeit des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR, eine Auswahl der Wehrpflichtigen zu treffen, die ihren Dienst beim MfS als Wehrpflichtige leisteten. Bekanntlich gab es auch zahlreiche IM’s in den Grenzkompanien.

TP: Egon Krenz und zuvor auch Erich Honecker haben stets betont, niemals einen sogenannten Grenzverletzer erschossen zu haben, auch keine Anweisung bzw. Befehl dazu gegeben zu haben. Dennoch stehen sie jetzt wegen Totschlages in mehreren Fällen vor Gericht.

Plöger: Es gibt mittelbare und unmittelbare Täterschaften. Die Befehlsstrukturen gingen von oben nach unten. Die Rückkoppelung war so, daß im Politbüro und dem nationalen Verteidigungsrat und den entsprechenden Gremien notfalls das Töten von sogenannten Grenzverletzern über die Befehlsstrukturen angeordnet und durch die Vergatterungen umgesetzt wurden. Hier reicht die sogenannte psychische Beihilfe aus. Auch Herr Krenz als späterer Sicherheitsbeauftragter kannte den Ausbildungsstand der Grenzsoldaten und wußte konkret, was man von den Grenzsoldaten erwartete, wenn Grenzverletzer über die Mauer in die Freiheit wollten. Dabei gab es auch durch Art. 4 der Grundsätze des sozialistischen Strafgerichts der DDR den Grundsatz, daß jedermann Anspruch auf ein gesetzlich durchgeführtes Gerichtsverfahren durch den Richter hatte, aber die potentiellen Grenzverletzer waren schon aufgrund ihres Tatentschlusses, die DDR zu verlassen, ohne Gerichtsurteil zum Tode verurteilt. Es sei denn, die Grenzsoldaten schossen vorbei oder trafen zufällig auch nur die Beine.

Bemerkenswert ist auch, daß eine Befehlsverweigerung gemäß § 257 DDR-StGB nur mit einer Freiheitsstrafe bis zu 5 Jahren oder mit Verurteilung auf Bewährung oder mit Strafarrest bestraft wird.

In der Erläuterung im Kommentar Strafrecht der DDR zu § 257, 1981, Zif. 4 heißt es wörtlich: „Tun liegt z.B. vor, wenn ein Soldat trotz des bestehenden Schießverbotes schießt“. Im übrigen heißt es unter Zif. 258 StGB-DDR zu 3b ebenfalls wörtlich: „Allen Militärpersonen werden Grundkenntnisse des Straf- und Völkerrechts bereits während der Grundausbildung vermittelt“. Deshalb darf man auch davon ausgehen, daß Grenzsoldaten das Gespür für Verstöße gegen die Menschlichkeit hatten, auch wenn die Grenzverletzer als Verbrecher und Feinde des Sozialismus beschimpft wurden, um die Bereitschaft zum Töten – wie etwa im 3. Reich, Stichwort: Volksschädlinge – zu mobilisieren. Das Völkerrecht war nach der DDR-Verfassung unmittelbar geltendes innerstaatliches Recht. Dieses Wissen um die Beachtung der Menschenrechte war bei den Mitgliedern des Politbüros noch stärker ausgeprägt, da sie sich auch mit den Argumenten des Westens auseinanderzusetzen hatten und dies auch taten, aber ihre Einstellung zum Humanismus war eine andere als wir sie hierzu im Westen kennen.

TP: Ist es überhaupt legitim, die Angeklagten mit unseren Wertvorstellungen zu messen und einer Verurteilung zuzuführen?

Plöger: In der Tat haben die Angeklagten ein Recht darauf, daß man ihre Taten und Handlungen aus der Sicht der DDR und der damaligen Gesetzeslage beurteilt. Dies wird auch von der Nebenklage niemals in Zweifel gezogen. Deshalb lege ich mein Hauptaugenmerk darauf, dem Angeklagten nachzuweisen, daß sein Tatbeitrag auch nach DDR-Recht strafbar war, aber aus politischen Gründen die Tat nur nicht verfolgt wurde. Auch nach DDR-Recht verjährte Mord und Totschlag nicht. Vom einfachen Grenzsoldaten bis zu Egon Krenz begriff jeder von ihnen, daß die Tötung von Grenzverletzern ein Akt wider die Menschlichkeit darstellt und deshalb stellt sich auch die Frage nach dem Rückwirkungsverbot nicht ernsthaft.
So engagiert wie sich Herr Krenz als Angeklagter in diesem Prozeß vorstellt, hätte er auch im Politbüro wirken können und müssen.

TP: Was ist dran an der Behauptung, daß die Sowjets einen beherrschenden Einfluß auf die DDR vor allen in Fragen der Grenzsicherung gehabt haben sollen?

Plöger: Die DDR war auch in der Sicherung der Staatsgrenze souverän. Obwohl 1984 die SM-70-Granaten und 1985 die Erdminen abgebaut wurden, konnte Herr Streletz das Jahr 1985 als das beste Jahr der Grenzsicherung feiern. Dies sagt doch schon alles! Die Grenzsicherung funktionierte auch dann, obwohl es keine SM 70 und Erdminen gab.

Im übrigen hatten die Russen ab 1984 Herrn Honecker zum „Abschuß“ freigegeben. Offenbar war ihr Einfluß doch nicht so stark, um diesen Wunsch in die Tat umzusetzen, wie es früher Chrustschow mit Herrn Ulbricht getan hatte.

Egon Krenz hatte im übrigen dem Verteidigungsminister Keßler, ein Skatbruder von Erich Honecker, die Anweisung gegeben, daß die Soldaten vor der sogenannten Wende in den Kasernen verblieben, ohne daß er von der Gruppe der Vereinten Streitkräfte sich hierfür eine Erlaubnis eingeholt hatte. Auch Herr Keßler erklärte als Zeuge, er habe bei den russischen Freunden nicht nachgefragt, ob die Anordnung des Staatsratsvorsitzenden Egon Krenz von dem russischen Militär getragen wird.

TP: Die Strafkammer ist nur mit Richtern, wenn nicht sogar nur mit Schöffen aus den alten Bundesländern besetzt. Empfinden Sie das nicht auch als eine Provokation?

Plöger: Nein. Die Volkskammer hat der Bundesrepublik Deutschland die Befugnis zur Aburteilung der Unrechtstäter der früheren DDR übertragen und auch der Einigungsvertrag sieht Gegenteiliges nicht vor. Es mag sein, daß einige gehofft haben, nicht auf der Anklagebank zu sitzen, weil sie den Worten von Politikern aus dem Westen Glauben schenkten. Vielleicht setzen sie auch auf die sogenannte Amnestie. Das Gespenst von der Klassenjustiz geistert noch in den Köpfen der Angeklagten. Ferner gibt auch § 90 STGB-DDR eine Antwort darauf. Man empfindet es als Anmaßung, daß Bürger der früheren souveränen DDR wegen Handlungen, die sie in Erfüllung ihrer staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten und in völliger Übereinstimmung mit den elementaren Prinzipien des Völkerrechts und der Verfassung sowie den Gesetzen und Rechtsnormen ihres Staates vornahmen, wie sie meinen, von BRD-Gerichten eines Besseren belehrt und abgeurteilt werden. Sie, die Angeklagten, empfinden die Ausübung der bundesdeutschen Gerichtsbarkeit als Anmaßung und Verstoß gegen das Völkerrecht, obwohl sie es anders hätten wissen müssen. Wir erreichen die Angeklagten ohnehin nicht mit unseren Worten, Gesetzen und Urteilen, weil sie das ihnen vorgeworfene (Unrecht) als solches gar nicht empfinden., vielleicht auch nicht empfinden können. Gleichwohl müssen wir zur Vermeidung neuer Begehrlichkeiten auf eine Diktatur auch in der Höhe der Urteile abschreckend wirken.

Das überlange Zuwarten auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in bezug auf die Zulässigkeit des Vollzuges einer rechtskräftig verhängten Freiheitsstrafe ist ein Skandal und könnte bereits den Bereich der Strafvereitelung im Amt erreicht haben. Soweit darf die Liberalität bundesdeutscher Justiz nicht gehen, ganz abgesehen davon, daß auch rechtskräftig verhängte Urteile ihren Sinn verlieren, wenn der Täter später oder gar nicht inhaftiert wird. Opferschutz verlangt auch Vergeltung für verübtes Unrecht.

TP: Verschiedentlich hört man etwas von bilateralen Vereinbarungen zwischen Bundeskanzler Kohl und Gorbatschow, daß den früheren Repräsentanten der DDR nach der Wiedervereinigung Straffreiheit zugesichert worden sein soll. Wie beurteilen Sie diese Auffassung?

Plöger: Die Bundesrepublik kennt das System der Gewaltenteilung. Bundeskanzler Kohl war und ist nicht zuständig für die Rechtspflege. Er kann auch weder dem Generalbundesanwalt noch den Generalstaatsanwälten der Länder über die Justizministerien Anweisung erteilen, keine Ermittlungsverfahren gegen frühere DDR-Repräsentanten einzuleiten oder bereits eingeleitete Verfahren einzustellen. Tut er dies, so macht er sich unter Umständen selber strafbar. Die einzige Möglichkeit wäre hier die parlamentarische Initiative durch den Beschluß eines sogenannten Amnestiegesetzes. Im Hinblick auf die Vielzahl begangener Straftaten gegen die Menschlichkeit durch Repräsentanten der früheren DDR wird sich derzeit jeder Politiker hüten, ernsthaft für eine Amnestierung einzutreten. Eine ganz andere Frage scheint mir die mögliche Verstrickung bundesdeutscher Politiker mit den früheren DDR-Potentaten zu sein. Hier tut sich die bundesdeutsche Justiz in der Tat schwer, denn würde sich eine derartige Verstrickung erweisen, müßte sie auch gegen Spitzenpolitiker unseres Landes, z.B. wegen psychischer Beihilfe zum Totschlag in bezug auf die Mauertoten ermitteln, wobei selbstredend auch die früheren Repräsentanten der UdSSR miteinzubeziehen sind. Hintergründe für die Gewährung des Milliardenkredites an die DDR über Franz-Josef Strauß bedürften sicherlich ebenso der Aufklärung wie die inoffiziellen Gespräche anläßlich des Staatsbesuches des früheren DDR-Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker in der BRD vom 07. bis 11.09.1987. Bisher wurde der frühere Leiter der Kanzlei beim Staatsratsvorsitzenden Franz-Joachim Hermann ebenso wenig gehört wie Minister Schäuble als auch selbstredend Bundeskanzler Kohl.

Sollte die damalige Bundesregierung tatsächlich den Status quo der Grenzsicherung in Gesprächen geduldet haben, so liegt nicht nur eine moralische Schuld auf den Schultern dieser Politiker. Wir wissen, daß zu besonderen Anlässen die Schußwaffe an der Grenze nur restriktiv, wenn überhaupt, eingesetzt wurde, vielmehr wurden die Grenzsicherungen verstärkt mit der Folge, daß keine sogenannten Grenzverletzer ihr Leben lassen mußten, sondern allenfalls festgenommen und verurteilt wurden. Grenzsicherung ging daher auch ohne Einsatz der Schußwaffe und ohne Tote an der Mauer.

TP: Ein Schießbefehl wird von den Angeklagten bestritten. Es gab, so sagen sie, lediglich Schußwaffengebrauchsbestimmungen, wie sie überall in Staaten der Welt existieren.

Plöger: Ohne Befehl bewegt sich in einer Armee nichts. Auf die Worte kommt es nicht an, sondern darauf, daß der Grenzsoldat mental und aufgrund seiner Ausbildung darauf vorbereitet wurde, auf sogenannte Grenzverletzer zu schießen und so zu töten (vernichten). Die Angeklagten konnten auch keinen Befehl der UdSSR „ausgraben“, der anordnete, daß die DDR an ihren Grenzen Grenzverletzer notfalls zu töten hatten, um deren Flucht in den Westen zu verhindern.
Auffällig in diesem Zusammenhang ist auch die angeblich nicht ausreichende Schießausbildung an der Kalaschnikow, obwohl die ausreichende Schießausbildung an der Kalaschnikow, obwohl die Befehlslage angeblich bestand, den Grenzverletzern nur auf die Beine zu schießen, um sie fluchtunfähig zu machen. Wenn dies richtig wäre, müßte einerseits die Treffsicherheit besser geschult worden sein, man hätte auch niemals bei Nebel oder schlechten Sichtverhältnissen schießen dürfen und man hätte insbesondere Hundestaffeln einsetzen und im Falle von Schußverletzungen bei Grenzverletzern die erste Hilfe zum obersten Gebot machen müssen. Sie wissen, daß Peter Fechter an der Grenze verblutete und daß auch andere angeschossene Grenzverletzer hätten gerettet werden können und müssen.

TP: Wiederkehrend wird von den Angeklagten behauptet, daß das Wort „vernichten“ ein militärischer Begriff sei und nicht etwa bedeute, daß die Grenzsoldaten den Befehl hatten, die Grenzverletzer zu töten. Sind das Schutzbehauptungen?

Plöger: Ja, aus einer Rede des damaligen Chefs der Grenzkommandeure vom 04.06.1976, DVS-G400678, heißt es u.a. wörtlich: „Der Kern des Befehls Nr. 32/76 des Stellvertreters des Ministers und Chefs der Grenztruppen und der 1. Ergänzung ist der Einsatz im Zusammenwirken mit der Verwaltung 2000 ausgewählter und ausgebildeter Kräfte freundwärts der Anlagen 501 und deren forcierte Umrüstung, um Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß die Provokateure im Ergebnis ihrer weiteren Angriffe auf die Grenzsicherungsanlagen vernichtet werden“. An anderer Stelle heißt es: „Die Eskortierung bzw. Bergung feindwärts der Sperranlage festgenommener, verletzter oder vernichteter Kräfte des Gegners ist wie folgt zu organisieren: …
„“Verletzte oder Vernichtete sind mit Unterstützung des freundwärts handelnden Bergetrupps durch zu schaffende Öffnungen im Streckmetallzaun zu bergen. Das Bergen hat so zu erfolgen, daß die Fotodokumentation durch den Gegner ausgeschlossen wird.“

Aus diesen und anderen Redebeiträgen geht eindeutig hervor, daß sich das Wort „vernichten“ auf das Töten von Grenzverletzern bezieht, die auch als Provokateure bezeichnet worden sind. Die Erzeugung eines Feindbildes wurde geradezu meisterlich betrieben und umgesetzt. Die Grenzsicherungsanlagen sollten bei der eigenen Bevölkerung Furcht und Schrecken auslösen und diese davon abhalten, aus der DDR zu flüchten. So stellte die DDR durch § 112 (Mord) das vorsätzliche Töten eines Menschen unter lebenslängliche Freiheitsstrafe, wenn unter anderem die Tat ein Verbrechen gegen die Menschenrechte war und „gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 4 Furcht und Schrecken unter der Bevölkerung auslösen sollte“. Aber gerade gegen dieses Verbot wurde an den Staatsgrenzen mit Wissen und Wollen der Repräsentanten dieses Staates verstoßen. Wurden Grenzverletzer angeschossen oder getötet, so war oberste Pflicht vor jeder Hilfeleistung zugunsten des Opfers unter Verstoß gegen § 119 DDR-StGB diese zu bergen, damit der Vorfall nicht durch die andere Seite beobachtet und dokumentiert werden könnte, weil man das Archiv von Salzgitter kannte.

Interessant sind hier auch die Reden des Chefs der Grenztruppen der DDR am Schluß eines Ausbildungsjahres. So erklärte der Grenztruppenchef am 04.11.1985 u.a. DVS-Nr. G735160, daß jeder Befehl bedingungslos zu erfüllen sei ohne Wenn und Aber. Der Verteidigungsminister forderte auf einer Kommandeurtagung am 24.10.1986, daß „durch eine intensive Schießausbildung die sichere Handhabung der Waffen und ihre treffsichere Anwendung zu gewährleisten sei.“ Wie sich der Chef der Grenztruppen dies dann vorstellte, ergab sich aus einem Referat vom 02.11.1984, DVS-Nr. G700374 („Treffen mit dem ersten Schuß – das gilt auch für die tägliche Agitation“). Diese Zitate füllen das Wort „vernichten“ mit Leben, auch wenn dies die Angeklagten jetzt nicht mehr wahrhaben wollen.
In diesem Zusammenhang ist auch von Bedeutung, daß der frühere Generaloberst Streletz am 03.04.1989 angeordnet hatte, daß die Schußwaffe durch die Grenzsoldaten nur bei Bedrohung des eigenen Lebens eingesetzt werden dürfe.
Die Richtigkeit dieses Befehls wurde in der Hauptverhandlung bestätigt.

TP: Die Leiche von Michael Bittner, am 24.11. 1986 an der Berliner Mauer erschossen, ist bis heute nicht aufgetaucht. Was empfinden die Angehörigen, die Sie vertreten, bei einer solchen Situation?

Plöger: Wut und Verbitterung, denn es gibt noch nicht einmal einen Totenschein. Keiner der Angeklagten, die es wissen müßten, hat sich hierzu geäußert; das Bedauern über die Opfer aus dem Munde der Angeklagten bleibt solange phrasenhaft, bis hier endlich der Verbleib der Leiche offenbart wird. Es ist schon schlimm genug, daß hohe Militärs beim MfS wie Dr. Frank Osterloh als Verteidiger von DDR-Straftätern fungieren, ja überhaupt als Organe der Rechtspflege fungieren dürfen, wie vormals der noch immer flüchtige Wetzenstein-Ollenschläger. Hier sollten sich rasch Gepeinigte von Herrn Rechtsanwalt Dr. Osterloh melden, damit dieser aus der Anwaltschaft ausgeschlossen werden kann. Das MfS hatte ein Referat „Betreuung und Bestattung“. In bestimmten Krematorien nahm sich das MfS das Recht, selbst eingelieferte Leichen zu verbrennen. Wenn aufgrund der politischen Lage es an der Grenze keine Zwischenfälle geben durfte, dann gab es diese auch nicht und Leichen erschossener Grenzverletzer wurden einfach beseitigt. Gegen Herrn Bittner wurde sogar noch ein Scheinermittlungsverfahren unter dem Vorgang „Morgentau“ geführt, obwohl man wußte, daß Michael Bittner erschossen war.

Generaloberst Lorenz erklärte in seinem Schlußwort in dem Verfahren gegen die Grenzkommandeure: Bei der Kenntnis dieser Sachlage hätte er sofort seinen Abschied als Militär eingereicht.

Interview: Dietmar Jochum, TP Berlin

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