TP-Interview mit Kleiber-Verteidiger Dr. Manfred Studier.
TP: Herr Dr. Studier, wie bewerten Sie die Aussage von Egon Krenz am heutigen Tage?
Studier: Sie ist nicht eigentlich überraschend, sie ist wieder eine politische Aussage und die ganz konkreten Fragen zum speziellen Anklagevorwurf sind bisher nicht beantwortet.
TP: Also mehr eine prozeßtaktische Einlassung?
Studier: Nein, ich glaube nicht, daß es eine taktische Einlassung ist. Es ist schon das, was zu sagen ihm am Herzen liegt. Das hat er den ganzen Prozeß hindurch schon angedeutet. In dieser Geschlossenheit kommt es heute zum ersten Mal. Ich hätte es ganz gut gefunden, wenn er es früher gemacht hätte. Jetzt sieht das so ein bißchen aus, als wolle er nun noch ein Unheil zuguterletzt abwenden. Es ist ein Standpunkt, den er eigentlich immer schon zu erkennen gegeben hat und den er heute noch mal in dieser Geschlossenheit vorträgt. Das ist eben eine politische Aussage, keine Strafprozeßaussage.
TP: Also sie wird ihm kaum was nützen, wenn denn das Urteil negativ ausfallen würde?
Studier: Ich fürchte, daß die Meinungen bei den Prozeßbeteiligten weitgehend feststehen, ich fürchte, daß auch das Gericht seine Meinung schon hat.
TP: Wann schätzen Sie, kann der Staatsanwalt mit seinem Schlußvortrag beginnen.
Studier: Am Montag denke ich, wenn Herr Krenz heute abschließend sich äußert, wird der Staatsanwalt am Montag plädieren, ganz gewiß.
TP: Was erwarten Sie eigentlich von diesem Prozeß, wie er ausgeht? Mal im Sinne Ihres Mandanten gefragt:
Studier: Wie er ausgeht?
TP: Also wie er ausgeht, welches Urteil hier gefällt werden wird.
Studier: Wenn man sich nicht von dieser kollektiven Verantwortung löst, die dann auch zugleich eine Verantwortung jedes einzelnen sein soll, wird man, wie ich fürchte, dazu neigen, das Politbüro für die Auftrageber auch aller Grenzverhältnisse zu halten – mindestens im kollektiven Zusammenwirken mit der Sowjetunion, wenn die schon zu allen Dingen gefragt werden sollte. Das ist die große Gefahr. Die Frage ist, ob man damit nicht in die Irre geht, und nicht doch dem einzelnen Unrecht tut, der eben nicht an allen sogenannten kollektiven Entscheidungen mitgewirkt hat.
TP: Wie verhält sich das eigentlich: kollektive Verantwortung, Unterstellung der kollektiven Verantwortung und der Nachweis der individuellen Schuld?
Studier: Das Strafrecht kennt ja eigentlich keine kollektive Verantwortung, sondern kennt nur individuelle Schuld. Und nur danach zu fragen, ist uns doch eigentlich erlaubt. Die Frage nach der Kollektivschuld ist schon mal eine Frage nach dem Krieg in Hinblick auf das Naziregime gewesen und kann eigentlich keine strafrechtliche Frage sein. Es ist eine moralische Frage, der Verantwortung einer Gruppe von Menschen und eigentlich damals des ganzen Volkes an geschehenem Unrecht. Hier geht es darum, ob Herr Kleiber unmittelbar hätte handeln müssen und er hätte etwas tun können – das postuliert natürlich überhaupt der Unterlassungsvorwurf – oder bei aktiven Tun, daß er mitgewirkt hat an diesen Verhältnissen, die wir nicht mehr als eine zulässige Grenzsicherung halten. Das ist bisher und meines Erachtens zu keiner Zeit, was diesen Prozeß, was ihn jedenfalls betrifft, bewiesen worden.
TP: Was schätzen Sie, wann wird dieser Prozeß zu Ende gehen. Wie lange wird jeder Prozeßbeteiligte brauchen für seine Schlußvorträge, um dann zu dem Urteil zu kommen?
Studier: Das müssen wir zusammenziehen. Die Staatsanwaltschaft wird wahrscheinlich einen Tag brauchen. Der Oberstaatsanwalt Jahntz hat angekündigt, er werde fünf bis sechs Stunden plädieren. Das wird ein Tag sein. Dann kommt die Nebenklage mit wenigen Stunden. Herr Plöger hat gesagt, es seien zwei für ihn. Dann kommt die Krenz-Verteidigung, die sicher auch einen Tag brauchen wird. Dann werden wir uns äußern. Das wird nicht so ausführlich sein, weil wir uns nur auf diese konkreten, hier strafrechtlich relevanten Punkte beschränken und nicht auf politische Erklärungen ausweichen wollen. Und dann kommt die Schabowski-Verteidigung. Das sind also vier, fünf Verhandlungstage noch. Dann kommt das letzte Wort der Angeklagten.
TP: Erwarten Sie lange letzte Worte der Angeklagten?
Studier: Nein, das glaube ich nicht, das glaube ich nicht. Also bei Herrn Kleiber sicher nicht. Herr Kleiber ist ja sowieso ein Mann von klaren und knappen Formulierungen.
TP: Also jedenfalls bei Ihrem Mandanten nicht. Sie schätzen also demzufolge, wenn man das so nachvollzieht, daß dieser Prozeß im August wohl zu Ende ist.
Studier: Ich bin ziemlich sicher. Ja, ja.
TP: Aber nochmal hinterher gefragt: Wird hier eine drastische Verurteilung erfolgen?
Studier: Eine Gewissensfrage an den Verteidiger! Ich halte es für möglich, ja. Ich halte es für möglich, daß sie sich an den Strafzumessungen bei den Generälen, mindestens was Krenz betrifft, orientieren, obwohl dort ja der Tatzeitraum unvergleichlich größer ist, er über viele Jahre geht, in unserem Falle ja nur eine ganz kurze Zeit und es sehr viel mehr Fälle waren, für die sie sich zu verantworten hatten. Hier sind es ja nur vier, bzw. drei. Ob das allerdings sich quantitativ bei der Strafzumessung dann so auswirken wird? Wenn man diese Verantwortung annimmt, was ich hoffe, was man sich das immer noch überlegt.
TP: Rechnen Sie wenigstens teilweise mit der Vollstreckung von Haftbefehlen?
Studier: Die Gefahr, daß mit dem Urteil die Haftverschonung aufgehoben wird, ist bei einer Strafvorstellung, wie sie zweifellos die Staatsanwaltschaft hat, gegeben, natürlich.
TP: Das heißt also, am Tag der Verurteilung werden schon jede Menge Polizeiautos unten vor dem Haus stehen.
Studier: Dazu bedarf man keiner Polizeiautos. Wir haben es ja hier nicht mit Schwerkriminellen zu tun, derer man sich im Saal nicht sicher wäre, nicht. Wenn die Haftverschonung aufgehoben werden würde, würden die, die es betrifft oder der, den es betrifft, sicher diszipliniert genug sein, sich dieser Entscheidung zu unterwerfen. Dazu braucht man keine Polizei.
TP: Auch in Hinblick auf eine höhere Strafe?
Studier: Ja, ja, sicher. Alle wissen wir, daß für den Fall einer Verurteilung diese Gefahr besteht. Ich meine, daß sie, mindestens was Kleiber betrifft, also nicht eintritt.
TP: Also bei Herrn Kleiber wird es mit einem blauen Auge möglicherweise abgehen?
Studier: Das ist vielleicht nicht die richtige Formulierung.
TP: In Anführungsstriche?
Studier: Ja, ich hoffe, daß man ihm also und seiner Rolle damals auch gerecht wird.
Interview: Dietmar Jochum, TP Berlin
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