Wir müssen die Globalität der Zeit begreifen.

TP-Interview mit dem letzten SED/PDS-Ministerpräsidenten der DDR.

TP: Herr Modrow, am 10. November 1995 haben Sie in einem Brief an Bundeskanzler Kohl behauptet, Michail Gorbatschow habe in einem an Sie gerichteten Brief erklärt, bei den Verhandlungen über die deutsche Vereinigung habe zwischen Kohl und ihm – Gorbatschow – Übereinstimmung bestanden, Verantwortungsträger der DDR juristisch nicht zu verfolgen.
Aus dem besagten Brief von Gorbatschow an Sie, den mir Ihr Büro zur Verfügung gestellt hat für die Dokumentation „Der Politbüroprozeß“, geht das entgegen Ihrer Behauptung nicht hervor. Dort läßt sich „lediglich“ herauslesen, daß von seiten der deutschen Gesprächspartner versichert wurde, es werde keinerlei Diskriminierung der Bevölkerung der Deutschen Demokratischen Republik und ihrer politischen Führung zugelassen werden.
Ist das für Sie eine Gleichsetzung mit nicht juristischer Verfolgung?

Modrow: Für mich ist dieser Zusammenhang zunächst mit dem Brief, von dem Sie sprechen, hergestellt. Darin wirft Gorbatschow die Frage auf, ob denn die Deutschen tatsächlich schon wieder eine Hexenjagd brauchen. Und er ergänzt: Wem soll eine Kampagne nützen, die, statt die Wunden der Vergangenheit zu heilen, die politischen Differenzen nur verschärfen kann? Seine im Brief dazu geäußerten Auffassungen sind eindeutig, sie lassen keinen Raum für Zweifel.

Das zweite: Ich war Anfang 1991 in Moskau und habe Gespräche mit Gorbatschows Vizepräsidenten, Herrn Janajew, und dem Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses des Obersten Sowjets der UdSSR, Herrn Falin, geführt. Das war die Phase, in der es darum ging, den 2+4-Vertrag zu ratifizieren. Wenn in einer Erklärung des Obersten Sowjets zum 2+4-Vertrag die Feststellung enthalten ist, der Oberste Sowjet erwarte, daß gegenüber den Bürgern der DDR die Menschenrechte eingehalten und niemand wegen seiner politischen Motive verfolgt wird, dann gehe ich davon aus, daß das auch ein Kerngedanke der Gespräche war, die Gorbatschow mit Kohl geführt hat. Hier ist an der Eindeutigkeit der Formulierungen eigentlich auch nicht zu zweifeln. Wenn damals der Oberste Sowjet, das höchste staatliche Organ der UdSSR, die ja zu dem Zeitpunkt noch bestand, in seiner Erklärung diese Position vertritt, nehme ich an, daß das schließlich auch die Position des Präsidenten Gorbatschow war.

TP: Sie kennen ja nun auch die bundesdeutsche Ordnung – wir haben Gewaltenteilung, sie waren ja auch selbst im Bundestag -, hätte Kohl, selbst wenn er gewollt hätte, Straffreiheit für ehemalige politische Funktionsträger der ehemaligen DDR versprechen können?

Modrow: Gewiß konnte Kohl nicht versprechen… Aber er hätte als der Kanzler der Bundesrepublik mit seiner Regierung initiativ werden können. Mußte denn der ganze Vorgang zum Beispiel der Aufklärer des MfS bzw. der – wie man nun sagt – Kundschafter für den Frieden, d.h. derer, die als Bundesbürger für die DDR auf Spionagegebiet tätig waren, erst nach Karlsruhe gehen, um dort eine Entscheidung herbeizuführen? Hätte nicht auch der Bundestag mit einer Initiative der Regierung reagieren können? Der Bundeskanzler geht doch mit vielen Fragen ins Parlament, auch nach irgendwelchen Verhandlungen auf internationaler Ebene.

Aber entscheidend ist natürlich auch der politische Wille, die jeweilige politische Haltung. Ich habe Herrn Genscher im Auswärtigen Ausschuß auf die Erklärung des Obersten Sowjets aufmerksam gemacht. Er antwortete mir natürlich sofort, daß das für den Obersten Sowjet von Bedeutung sei, für die Bundesregierung sei es rechtlich jedoch nicht relevant. Hätte hier nicht bei entsprechendem politischen Willen die Bundesregierung den Gedanken aus der Erklärung des Obersten Sowjets aufgreifen können?

Für mich gibt es hier aber noch ein weiteres Problem: Ich bin der Auffassung, daß diese Frage in ähnlicher Weise wie die Problematik der Enteignungen in der sowjetischen Besatzungszone in den Jahren 1945 – 1949 durch den 2+4-Vertrag hätte geregelt werden müssen. Aber das ist leider nicht geschehen.

TP: Sie haben sich ja nun in diesem Zusammenhang – aus Sorge um die Zukunft unseres Volkes, wie Sie schreiben – auch an die Präsidenten Frankreichs, Großbritanniens und der USA gewandt. Was haben die Ihnen denn eigentlich geantwortet?

Modrow: Im Prinzip hat man sich ausgeschwiegen. Lediglich von der amerikanischen Botschaft kam die Mitteilung, daß sie mein Schreiben ihrem Präsidenten übermitteln werden. Wie gesagt, ansonsten keine Reaktion. Und daher mein Problem: Was bei den 2+4-Verhandlungen offengeblieben ist, bleibt nun ohne unmittelbare völkerrechtliche Bedeutung.

TP: Sehen Sie hier eine Ignoranz?

Modrow: Ja, hier hat sich Politik aus der Verantwortung gestohlen. Auch die drei westlichen Siegermächte stehen in einer Verantwortung, der sie nicht in dem Maße nachkommen, wie es für künftigen Frieden und Ausgleich zwischen den Völkern notwendig wäre.

TP: Glauben Sie eigentlich, daß die westdeutsche Justiz befugt ist, Prozesse, wie sie derzeit geführt werden, zu führen?

Modrow: Nein, sie ist nicht dazu befugt, denn das verstößt eindeutig gegen das national, d.h. im Grundgesetz, und international, d.h. im Völkerrecht festgeschriebene Rückwirkungsverbot. Die DDR war ein souveräner Staat, genauso souverän wie die Bundesrepublik Deutschland, und sie hatte ihre eigenen Gesetze, wie sie auch die BRD hat. Wer heute DDR-Funktionsträger richten will, weil sie nach Recht und Gesetz der DDR gehandelt haben, verstößt gegen das Grundgesetz und das Völkerrecht. Die DDR war wie die Bundesrepublik ein Mitglied der Völkergemeinschaft. Demzufolge hat die DDR auch kein Recht, nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten in dieser Weise vorzugehen. Daß die Positionen der BRD immer oder fast immer andere waren als die der DDR, ist völkerrechtlich überhaupt nicht relevant.

TP: Es wird heute immer wieder angeführt, die DDR war von der UNO anerkannt, es gab den Grundlagenvertrag. Ich konfrontiere Sie mal mit einem Absatz, den Stephan Hilsberg geschrieben hat in einem Nachwort zu dem Politbüroprozeß-Buch. Zitat: Hier kam das Unrecht im Gewande des Rechts daher, was die schlimmste Form des Unrechts ist. Eine positivistisch eingestellte Justiz vermag nur Recht zu sprechen im Rahmen bestehender Gesetze. Was aber, wenn, wie im Falle der DDR, die Gesetze selber Unrecht waren, wenn es keine Verfassung gab, die die unveräußerlichen Grundrechte garantierte?

Modrow: Erstens wende ich mich entschieden gegen Pauschalisierungen.
D i e Gesetze der DDR waren nicht Unrecht, die DDR war kein Unrechtsstaat. Zweitens: Gewiß wurden individuelle Menschenrechte in der DDR mißachtet, das will ich weder verdrängen noch bagatellisieren. Aber wo gibt es den Staat, in dem keine Menschenrechte verletzt werden? Die Bundesrepublik ist es ganz sicher nicht. Sie ist ein Land, in dem es über sechs Millionen Arbeitslose gibt – zwei Millionen verdeckt, vier Millionen in der Registratur. Das heißt, hier wird in schwerster Art und Weise gegen solche Menschenrechte wie das Recht auf Arbeit und gegen die Verfassung verstoßen. Denn darin wird zugesichert, daß die Würde des Menschen unantastbar ist. Aber wie schwer wird ein Mensch in seiner Würde getroffen, wenn er arbeitslos ist und praktisch als nutzlos für die Gesellschaft beiseite geschoben wird. Und das geschieht in diesem Land Bundesrepublik millionenfach!

TP: Sie haben auch geschrieben: Prozesse dieser Art spalten unser Volk. Wen meinen Sie damit?

Modrow: Ich meine damit, daß wir eine Vereinigung wollten, die dazu führt, daß die Menschen in Ost und West zusammenfinden, sich gegenseitig tolerieren. So habe ich auch die Worte des damaligen Bundespräsidenten, Herrn von Weizsäcker aufgenommen, der sich in diesem Sinne mehrmals geäußert hat. Auch Willy Brandt als Alterspräsident des Bundestages meinte wohl dasselbe, als er im Dezember 1990 davon sprach, daß die Betonmauern zwar weg seien, die Mauern in den Köpfen aber noch abgebaut werden müßten. Und wenn wir heute, mehr als fünf Jahre nach der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten, die Situation betrachten, so kann man zum Beispiel nicht daran vorbei, daß Berlin, was das Denken der Menschen anbelangt, genauso tief gespalten ist wie vor dem 9. November 1989. Das ließe sich allein an den Wahlergebnissen erkennen. Damit ist doch die Entscheidungsfrage klar: Entweder wollen wir politisch dahin wirken, daß die Menschen in gegenseitiger Achtung aufeinander zugehen, oder wir wollen weiter Feindbilder schaffen. Dann wird es nach altem Strickmuster weitergehen: Es gab ein gutes Deutschland, und es gab ein böses Deutschland. Aber wenn man im nachhinein aus der Pose des Siegers glaubt, auf diese Weise eine Vereinigung der beiden deutschen Staaten herbeiführen zu können, so glaube ich nicht, daß das funktionieren wird.

TP: Glauben Sie nicht, daß die westdeutsche Justiz das Mandat bekommen hat, von der Volkskammer, das „DDR-Unrecht“ zu verfolgen?

Modrow: Die Volkskammer der DDR hat dem Vereinigungsvertrag mehrheitlich zugestimmt. Ich habe damals dagegen gestimmt, weil ich von der Vereinigung der beiden deutschen Staaten – wie ich es mit meiner Initiative vom 1. Februar 1990 deutlich gemacht habe – eine andere Vorstellung hatte. Die Volkskammer der DDR, so wie sie nach dem 18. März agierte, hat sich nicht mehr als wirkliche Vertreterin der Interessen der Bürgerinnen und Bürger der DDR erwiesen. Warum ist es in dieser Volkskammer nicht möglich gewesen, den Verfassungsentwurf, den der Runde Tisch und meine Regierung erarbeitet hatten, noch zu beraten und zu beschließen? Das wäre eine Grundlage für die Vereinigung zweier souveräner Staaten gewesen. Doch davor hat sich diese Volkskammer mehrheitlich gedrückt und damit schon nicht mehr den Interessen der Bürgerinnen und Bürger der DDR entsprochen, von anderen nachfolgenden Schritten dieses Parlaments ganz zu schweigen.

TP: Das Parlament ist aber nach demokratischen Spielregeln zustandegekommen und da entscheiden nun halt mal Mehrheiten – wie schwer das auch immer zu begreifen ist.

Modrow: Die Frage ist doch wohl, wie demokratisch es ist, wenn der Entwurf einer Verfassung, von allen wichtigen, am Runden Tisch und in meiner Regierung der Nationalen Verantwortung vertretenen politischen Kräften des Landes ausgearbeitet, dann durch eine Mehrheit von drei Parteien einfach vom Tisch gefegt wird. Wenn sie wirklich demokratisch hätten handeln wollen, dann hätten sie den Schritt gehen müssen, der in der damals noch gültigen Verfassung der DDR für solche Fälle vorgesehen war, nämlich dazu eine Volksabstimmung durchzuführen. Das wäre demokratisch gewesen. Aber diesen demokratischen Schritt hat man nicht getan.

TP: Ich möchte noch mal auf die Prozesse kommen, die derzeit geführt werden gegen Politbüromitglieder, auch vorher gegen Mitglieder des nationalen Verteidigungsrates. Glauben Sie, daß Bürger der ehemaligen DDR diese Prozesse wollen?

Modrow: Zunächst würde ich anders anfangen, und zwar mit den Prozessen gegen die Grenzsoldaten. Das politische Spiel beginnt doch damit, daß man sich zunächst die Kleinen vornimmt, um das Argument zu haben: Die Kleinen kann man ja wohl nicht hängen und die Großen laufen lassen. Und anstatt politisch zu entscheiden, überläßt man es der bundesdeutschen Justiz, zu prüfen und zu urteilen. Die Politik will sich in dieser Beziehung ihrer Verantwortung nicht stellen. Dabei hätte es von vornherein im Verlaufe des Vereinigungsprozesses Möglichkeiten gegeben. So weiß man, welche Position Herr Schäuble zum Beispiel zur Hauptabteilung Aufklärung des MfS hatte. Und den Sozialdemokraten ist zu Recht der Vorwurf zu machen, daß man sich damals politisch hätte entscheiden können und heute nicht nach Karlsruhe bräuchte. Selbst auf seiten der CDU gab es Bereitschaft, offensichtlich auch auf Grund der Gespräche mit Gorbatschow, diesen Problemen gegenüber aufgeschlossener zu sein, als es sich dann in den weiteren Debatten zwischen CDU und SPD ergeben hat.

Ich habe übrigens auch mit Herrn Schäuble solche Fragen erörtert, wobei er versuchte, mir bewußt zu machen: Sie leben in einem Rechtsstaat, und Sie müssen begreifen, wenn die Justiz handelt, kann die Politik nicht eingreifen. Diese Haltung habe ich nicht. Auch im Rechtsstaat gibt es einen Präsidenten, der das Recht hat, Gesetze zu beschließen. Man kann doch heute nicht so tun, als wäre hier das Räderwerk in Gang gesetzt und nicht mehr anzuhalten. So verstehe ich den Rechtsstaat wiederum auch nicht. Ausschlaggebend, das will ich noch einmal bekräftigen, bleibt der politische Wille.

TP: Die Ursprungsfrage war: Glauben Sie, daß die Bürger der ehemaligen DDR diese Prozesse für berechtigt halten, die derzeit gegen ehemalige Mitglieder des Politbüros und des Nationalen Verteidigungsrates und auch, von mir aus, gegen Grenzsoldaten geführt werden?

Modrow: Ich kann ja diese Frage nur auf der Grundlage von Umfragen beantworten und vielleicht noch aus meiner eigenen Kenntnis heraus. Meine persönliche Haltung dazu habe ich deutlich gemacht. Und wenn man die Umfrageergebnisse – z.B. des „Spiegel“ -, zu Rate zieht, so gelangt man zu der Feststellung: Mehrheitlich erscheinen den ehemaligen Bürgerinnen und Bürgern der DDR diese Prozesse nicht mehr als relevant. Von einer knappen Mehrheit wird heute die Meinung vertreten, man möge damit überhaupt aufhören. Und ein beachtlicher Teil sagt, was interessiert es uns, wir haben ganz andere Probleme, unsere Sorgen liegen auf ganz anderen Gebieten.

TP: Bärbel Bohley hat in einem Interview mir gegenüber die Auffassung vertreten, daß die westdeutsche Justiz befugt ist, DDR-Unrecht zu verfolgen und Prozesse derart zu führen, wie sie derzeit gegen Mitglieder des Politbüros u.a. geführt werden. Bärbel Bohley ist Bürgerin der ehemaligen DDR gewesen und sie steht mit ihrer Auffassung m.E. nicht alleine.

Modrow: Nein, gewiß nicht, denn Bärbel Bohley hat, ich weiß nicht, wieviele Anhänger noch um sich, vielleicht mit dem Neuen Forum noch 500, die zu ihr halten. Alle anderen, selbst aus der Bürgerbewegung, haben heute mit Frau Bohley ihre Probleme, nachdem sie sich mit Herrn Kohl getroffen hat und weitere Begegnungen auf dieser Ebene gestaltet. Und Frau Bohley ist überhaupt auf Grund ihrer Aussagen sehr weit davon entfernt, einen großen Anhang unter den ehemaligen DDR-Bürgerinnen und -Bürgern zu haben. Damals, 1989, ging man in der Bürgerbewegung davon aus, daß die DDR weiter existiert, daß sie sich demokratisch verändern soll. Heute tun sie so, als hätten sie nie in dieser Bewegung solche Positionen bezogen und als hätte das, was jetzt ihre Aussagen sind, immer schon ihr Denken reflektiert. So schizophren, glaube ich, sollte man mit Geschichte, mit Vergangenheit und seinen eigenen Auffassungen nicht umgehen.

TP: Sie sind ja der Ansicht, daß die westdeutsche Justiz nicht befugt ist, Prozesse dieser Art zu führen. Können die Mauer- und Grenztoten ignoriert werden?

Modrow: Nein, sie können nicht ignoriert werden. Ganz im Gegenteil. Man muß sie in den historischen Zusammenhängen von damals sehen. Die große Tragik war doch, daß wir nach Beendigung des zweiten Weltkrieges in zwei gesellschaftlichen Systemen und zwei gegensätzlichen Militärblöcken gelebt haben. Auf dem Territorium Deutschlands, in der DDR und der Bundesrepublik, waren die stärksten militärischen Kräfte mit Kernwaffen und anderem modernsten Kriegsgerät konzentriert. Wir lebten doch unter Bedingungen, die man heute aus der Geschichte einfach verdrängen will. Jene Toten an der Grenze – und ich beziehe die 25 Grenzsoldaten der DDR hier mit ein – sind Opfer dieser Situation, des besonders in Deutschland tobenden Kalten Krieges geworden, der glücklicherweise nicht zu einem heißen wurde.

Dieser Kalte Krieg und diese Grenze waren nicht nur eine deutsch-deutsche Angelegenheit. Viele erinnern sich noch daran, wie USA-Präsident Ronald Reagan am Brandenburger Tor in Berlin Michail Gorbatschow aufgefordert hat, das Tor zu öffnen, d.h. die Mauer einzureißen. Das alles waren Fragen von höchstem internationalen Gewicht. Und was erleben wir heute? Es gibt die beiden Militärblöcke nicht mehr. Zu Zehntausenden werden Menschen umgebracht, und niemand stellt die Frage nach den wahren Ursachen, den Wirklich Schuldigen. Der Bundeskanzler fliegt nach Moskau, und in Tschetschenien wird geschossen und getötet. Das bewegt alles nicht mehr allzu sehr. Da gibt es in Tschetschenien in 24 Stunden so viele Tote, wie in den ganzen Jahren an der Mauer umgekommen sind. Damit will ich in keiner Weise auch nur im geringsten die Dramatik und Tragik der Geschehnisse an der Grenze zwischen der BRD und der DDR herunterspielen. Aber wir leben in einer Zeit, da wir uns in unserem Denken nicht einengen dürfen. Wir müssen die Globalität dieser Zeit begreifen. Und da möchte ich in aller Offenheit sagen: Daß es nicht zu einem heißen Krieg, einem Krieg mit Atomwaffen gekommen ist, das ist am Ende auch mit dieser Mauer, mit dieser Grenze verbunden.

TP: Sie wollen die Mauer- und Grenztoten in einem geschichtlichen Zusammenhang sehen. Abrassimow (natürlich war es Falin als Zeuge im Prozeß gegen Markus Wolf!) hat sich mal dahingehend geäußert, daß von seiten der Sowjetführung auf die DDR-Führung der Vorhalt kam, ob das mit den Mauer- und Grenztoten überhaupt sein müsse. Hierauf habe die DDR-Führung auf ihre innere Souveränität verwiesen.

Modrow: Jeder von uns, der sich mit dieser Problematik beschäftigt hat, weiß doch, daß diese Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten nur so funktioniert hat, weil es auch in der Tschechoslowakei und in Ungarn im Prinzip die gleiche Situation gegeben hat. Warum bekommt denn G. Horn am Reichstag eine Ehrentafel? Doch deshalb, weil er die Grenze zwischen Ungarn und Österreich geöffnet hat. Für Herrn Krenz oder Herrn Schabowski wird am Reichstag keine Ehrentafel dafür angebracht, daß sie am 9. November 1989 die Grenzen geöffnet haben. Sie sitzen auf der Anklagebank. Also auf der einen Seite ist G. Horn der in der BRD hoch anerkannte und geehrte Politiker, und diejenigen, die dann innerhalb der DDR am 9. November politisch agierten, stehen in derselben BRD vor Gericht. Ich glaube nicht, daß der ganze Vorgang politisch und historisch einzuzordnen ist, wie das jetzt durch diese Prozesse geschehen soll.

TP: Ich habe heute den Eindruck, die Sowjets sollen zu den Sündenböcken gestempelt werden, sie waren an allem schuld, was in der DDR passiert ist.

Modrow: Das ist überhaupt nicht meine Haltung. Natürlich waren die verantwortlichen Militärs der Sowjetunion vor allem in den Führungspositionen des Warschauer Vertrages. Aber die Grenzsicherungsfragen waren Angelegenheit des ganzen Warschauer Vertrages.
Wir haben mit einem militärischen Gleichgewicht gelebt, mit einem Gleichgewicht des Schreckens. Damit sind die Kernwaffen genauso gemeint wie auch jene Schrecken, die mit der Grenze verbunden waren. Das ist für mich keine Frage von Sündenböcken. Wenn ich diese Frage stellte, dann würde ich auch fragen, wer denn eigentlich in der NATO dafür verantwortlich war, daß es zu derart zugespitzten Situationen gekommen ist. Wer redet denn heute darüber, daß sich alle Jahre unmittelbar an der Grenze zur DDR Militärmanöver der NATO abgespielt haben, aus denen man – wie jeder Militär weiß – leicht zu einem heißen Krieg hätte überwechseln können. Und man kann doch keinen Hehl daraus machen, daß in Strategien der NATO Kernwaffenschläge auf Dresden und andere Städte in der DDR eingeplant waren. Das soll heute alles außen vor bleiben, niemand von den Anklägern redet in den Prozessen von den strategischen Zusammenhängen, um die es damals eigentlich ging.

TP: Herr Modrow, heute wird von den Angeklagten im Politbüroprozeß häufig angeführt, sie hatten die Macht nicht, die Mauer- und Grenztoten zu verhindern. Sie waren zwar nicht in diesem Politbüro, welche Rolle hatte denn Ihrer Meinung nach das SED-Politbüro in der ehemaligen DDR?

Modrow: Das Politbüro hatte natürlich eine große politische Verantwortung und Macht, solange es nicht um die Beschlüsse des Warschauer Vertrages ging. Es gab – um auf die Rolle des Politbüros kurz einzugehen – viele Entscheidungen dieses Gremiums, mit denen die Regierung dann befaßt wurde und aus denen schließlich Gesetze entstanden. Aber das Politbüro war nicht das gesetzgebende Organ. Wenn ich formal bleibe, denn ich werde heute ununterbrochen nach juristischen Prinzipien, nach Formalien befragt, dann muß ich doch mit aller Eindeutigkeit sagen: Weder das Politbüro noch das Zentralkomitee der SED hat je ein Gesetz in diesem Land in letzter Instanz beschlossen. Daß trotzdem nach ihrem Willen gehandelt wurde, ergab sich aus der Tatsache, daß immer über 50 Prozent der Abgeordneten der Volkskammer aus der SED waren. Aber – wie gesagt – Gesetze hat formal stets die Volkskammer beschlossen, nie das Politbüro.

Übrigens wird heute kaum gesehen, was alles im Bundeskanzleramt beraten und dann im Bundestag von der Mehrheit beschlossen wird. Das Bundeskanzleramt ist doch heute auch ein Organ, aus dem der größte Teil der Initiativen für Entscheidungen von Regierung und Parlament kommen. Im Bundestag habe ich wohl begriffen, welche Macht im Bundeskanzleramt konzentriert ist.

TP: Heute geht es wohl mehr um die Frage, daß das Politbüro die Macht hatte, die Mauer zu öffnen, aber nicht die Mauer- und Grenztoten zu verhindern.

Modrow: Da würde ich den Ausspruch von Günter Gaus nehmen: Man stelle sich vor, Werner Eberlein, der ja nun wohl auch demnächst vor Gericht soll, kommt aus Magdeburg als 1. Bezirkssekretär der SED in die Politbürositzung und sagt, Erich, ich schlage vor, wir beschließen heute, die Mauer muß weg. Herr Reagan wendet sich an Gorbatschow und fordert: Herr Gorbatschow, die Mauer muß weg! Und die Mauer bleibt.

Hier bleibt eindeutig nicht die Frage von Sündenböcken. Ein solches Problem ist nur unter Beachtung seiner Entstehungsgeschichte und der jeweiligen internationalen Zusammenhänge sowie der Gemeinsamkeit der Warschauer Vertragsstaaten zu begreifen. Daß man in der DDR eigene Entscheidungen zur Einhaltung der Verpflichtungen im Rahmen des Warschauer Vertrages treffen mußte, gehört zur Logik der Mitgliedschaft in einem solchen militärischen Bündnis.

TP: Ich kann mich von dem Verdacht der Schuldzuweisung an die Sowjets nicht freimachen, denn schließlich hatten sie die Oberhoheit im Warschauer Pakt.

Modrow: Nein, keine Schuldzuweisung an die Sowjets, sondern Hinweis auf die Gemeinsamkeiten. Denn die Entscheidung über das, was 1961 geschehen ist, ist im Politisch Beratenden Ausschuß der Warschauer Vertragsstaaten gefällt worden. Auch nachfolgende Schritte zur Gestaltung des Grenzregimes wurden im Rahmen des Warschauer Vertrages festgelegt bzw. abgestimmt.

Die Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrages hätten sich zu der Problematik der grundsätzlichen Änderung des Grenzregimes auch dann treffen müssen. Gelegenheit dazu wäre gewesen, als sich die höchsten Vertreter der Staaten 1989 in Bukarest trafen, wo allerdings Honecker vor einer vielleicht entscheidenden Sitzung in engstem Kreise erkrankte. Dazu hätte man sich auch gemeinsam beraten müssen, nachdem in Ungarn die Grenze geöffnet worden war. Nur über diesen Weg wäre es möglich gewesen, auch ein solches Problem komplex zu klären.

Ich habe nur an einem Treffen des Politisch Beratenden Ausschusses des Warschauer Vertrages teilgenommen, das war die Tagung am 4. Dezember 1989 in Moskau. Dort haben wir uns gemeinsam – Rumänien sah dazu keine Notwendigkeit – bei den Völkern der Tschechoslowakei für die Ereignisse von 1968 entschuldigt. Genauso hätte der Warschauer Vertrag sich zu den Problemen, die mit der Grenze verbunden waren, entscheiden müssen. Er hat, wie gesagt, die Entscheidung über die Grenzsicherung getroffen, und genauso stand er historisch in der Verantwortung, was die Aufhebung dieser Entscheidung anbelangt.

TP: Noch mal zu dem Politbüroprozeß und seinen Angeklagten. Es wird häufig auch gefordert, die Angeklagten vor einen Internationalen Gerichtshof zu stellen. Wäre das für Sie eine Alternative?

Modrow: Das wäre eine Alternative, wenn zugleich auch dieser Internationale Gerichtshof das Verhalten der NATO in der Zeit des Kalten Krieges in der gleichen Gründlichkeit prüfen und behandeln würde wie alle Vorgänge, die mit dem Warschauer Vertrag verbunden sind.

TP: Hier geht es ja in erster Linie darum, die Grenz- und Mauertoten aufzuklären. In diesem Zusammenhang würde bestimmt von einem Gericht die Situation, wie sie damals war, berücksichtigt oder möglicherweise aufgeklärt werden.

Modrow: Das Internationale Gericht müßte dann auch die Fälle der 25 toten Grenzsoldaten einbeziehen. Das heißt, wenn Sie die Frage so stellen, dann steht das Problem in seiner Ganzheit. Aber ich glaube nicht, daß sich ein internationales Gericht finden würde, das über Handlungen der militärischen Führungen von NATO und Warschauer Vertrag auch nur im entferntesten heute bereit wäre zu befinden.

Fotoquelle: TP Presseagentur Berlin/Gerald Wesolowski

Interview: Dietmar Jochum/TP Presseagentur Berlin, 1996

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