Zum 100. Geburtstag von Heinrich Böll.

Zum heutigen 100. Geburtstag von Heinrich Böll erklären die Bundesvorsitzenden von Bündnis 90/Die Grünen Simone Peter und Cem Özdemir:

„Heute wäre Heinrich Böll 100 Jahre alt geworden. Als Poet und Ideengeber wurde er als einer der bedeutendsten Schriftsteller der Nachkriegszeit mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. Für uns ist es eine besondere Ehre, ihn als einen frühen Vordenker und auch Wegbegleiter der Grünen Partei zu wissen. Als einer, der selbst die Schrecken des Krieges erleben musste, war er beim Aufbau der bundesrepublikanischen Demokratie Mahner und Schrittmacher zugleich. Gerade in der Adenauer-Ära machte er sich zur Aufgabe, die fehlende Aufarbeitung der Vergangenheit immer wieder zu thematisieren. Aber mit seinem Namen ist auch der friedliche Protest gegen den NATO-Doppelbeschluss und die Stationierung von Atomraketen in den 80er Jahren in Deutschland verbunden. Mit seinem Verständnis und Engagement für politisch Verfolgte und Menschen in Not, seinem aktiven Einsatz gegen die Wiederbewaffnung und für Frieden oder seine kritische Betrachtung des Umgangs mit Menschen im modernen Medienzeitalter, hatte er sich in der Zivilgesellschaft der Bundesrepublik einen hohen Respekt und Anerkennung verdient. Bekanntermaßen hörte er es nicht gerne, aber er wurde nicht ohne Grund als das Gewissen der Nation bezeichnet. In Zeiten, in denen neue Krisen entlang alter Konfliktlinien zu eskalieren drohen, gewinnen Werk und Denken von Heinrich Böll wieder besonders stark an Aktualität. Würde er heute mit uns seinen 100. Geburtstag begehen, wir wären uns sicher: er hätte uns viel zu sagen.“

Fotoquelle: By Bundesarchiv, B 145 Bild-F062164-0004 / Hoffmann, Harald / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5470614

Soiree zu Ehren von Heinrich Böll.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Ansprache bei der Soiree zu Ehren von Heinrich Böll aus Anlass seines 100. Geburtstages im Großen Saal von Schloss Bellevue

Die Zeiten, an die wir durch die musikalische Fotogalerie gerade noch einmal erinnert worden sind, waren Zeiten erstaunlicher Koinzidenzen.

Da singt im Jahre 1971 einer, der auch vor eingängigen Schlagern nicht zurückschreckte, ein kritisches Lied über das „Vaterland“. Und er benutzt dabei eine Melodie, die den älteren Hörern noch im Ohr war, während sie den jüngeren wohl gar nichts sagte, nämlich die „Wacht am Rhein“, ein deutschnationales Lied aus dem neunzehnten Jahrhundert. Der Bruch zwischen den Generationen dieses Landes als Thema im deutschen Schlager.

Im selben Jahr, 1971, erhält der Bundeskanzler dieses so kritisch besungenen Landes den Friedensnobelpreis. Im darauf folgenden Jahr plakatiert seine Partei im Wahlkampf: „Deutsche, wir können stolz sein auf unser Land“ und gewinnt die Wahlen – und kurz darauf bekommt der Schriftsteller Heinrich Böll den Nobelpreis für Literatur verliehen. Ausgerechnet Heinrich Böll.

Heinrich Böll hatte den ganzen Krieg als Soldat mitgemacht. Danach, in seinen ersten Texten, diese Erfahrungen unpathetisch und realistisch literarisch gestaltet. Aber bald drängt immer mehr die gesellschaftliche Gegenwart der Bundesrepublik in seine Texte: „Die Abenteuerlichkeit eines alltäglichen Lebens“, wie er das schon 1953 genannt hatte.

Mit dieser Abenteuerlichkeit eines alltäglichen Lebens ist aber nicht nur privates Erleben von Individuen gemeint. Die Menschen in den Böllschen Texten sind von den gesellschaftlichen Institutionen und von den politischen Verhältnissen geprägt. Sie sind davon nicht selten gegängelt oder gar verfolgt und sie lehnen sich dagegen auf.

So wird diese Literatur selber ein gesellschaftlicher Faktor, diese Texte fordern auf, Partei zu ergreifen. Und nicht nur die Texte, sondern immer mehr auch der Autor selber. Der Staatsbürger Heinrich Böll stellt sich und andere vor die Parole: Einmischung erwünscht! Und das erreicht sogar Udo Jürgens. Und war somit in der Mitte der Gesellschaft angekommen.

Wann mischt Böll sich ein? Der ehemalige Soldat mischt sich ein, wenn er den Frieden bedroht sieht. So sieht man ihn bei der großen Demonstration im Bonner Hofgarten an exakt demselben Ort, an dem Böll mehr als 40 Jahre zuvor aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft entlassen worden war. Und natürlich in Mutlangen.

Er mischt sich auch ein, wenn er als tiefgläubiger Katholik erleben muss, wie seine Kirche für parteipolitische Zwecke missbraucht wird, oder wenn seine Kirche dabei ist, ihren Ursprung zu verraten. Das bringt ihm die oft erbitterte Gegnerschaft mancher Politiker ein, denen er das Recht abspricht, sich christlich zu nennen, nicht weniger mit zahlreichen kirchlichen Würdenträgern.

Böll mischt sich ein, wenn er glaubt, um Barmherzigkeit oder Gnade bitten zu sollen. Erst durch seine Kriegstagebücher ist so richtig deutlich geworden, wie zentral Barmherzigkeit und Gnade für Heinrich Böll seit frühester Zeit waren. Ich bin seinem Sohn René Böll dankbar, der diese Tagebücher gerade herausgegeben hat. Ich darf Ihnen, Herr Böll, bei dieser Gelegenheit meinen Dank sagen für die Zähigkeit und den – kann man so sagen? – Böllschen Eigensinn, mit dem Sie seit Jahrzehnten dafür sorgen, dass das Werk Ihres Vaters gegenwärtig bleibt.

Wie sehr hat man zu gewissen Zeiten versucht, Werk und Person regelrecht zu zerstören. Gerade diesen Autor und dieses Werk, das so wesentlich dazu beigetragen hat, dass man im Ausland wieder angefangen hat, Deutschland zu vertrauen, und im Inland darauf langsam wieder stolz werden konnte.

Wir wollen auch an diesem Abend nicht vergessen, mit welchem Hass und mit welcher Verlogenheit Heinrich Böll von politischen Gegnern und Teilen der Medien verfolgt worden ist.

Die öffentliche Person Heinrich Böll aber ist nur zu verstehen aus den tiefsten Impulsen seines Schreibens. Um sie geht es mir heute Abend in unserem kleinen Programm.

Die wunderbare Angela Winkler hat gerade Enzensbergers Nachruf aus dem „Spiegel“ gelesen, und sie wird später den Böll zu Wort kommen lassen, der sich für immer zu seinen plebejischen Wurzeln bekennt. Wie schön, liebe Frau Winkler, dass Sie hier sind.

Und der große Mario Adorf, Rheinländer mindestens zur Hälfte, wird den melancholischen Böll zu Wort kommen lassen, für den der Rhein und die Heimat keine vergangenen Idyllen sind, sondern raue und manchmal gefahrvolle Gegenwart. Und für den der Humor immer die andere Seite der Melancholie darstellt. Und Mario Adorf wird am Ende des Abends einem Kellner die Stimme geben, der mehr vom weihnachtlichen Geist begriffen hat als er vielleicht selber weiß. Danke, Mario Adorf, dass Sie uns die Ehre geben.

Und beide zusammen, Mario Adorf und Angela Winkler, erinnern uns an Bölls wichtigste politische Geschichte, „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“, in deren Verfilmung sie nämlich gemeinsam vor der Kamera waren – unvergesslich für alle, die Sie gesehen haben. Und wer die Erzählung jetzt noch einmal liest, für den hat sich die Frage nach der heutigen Aktualität Bölls schon beantwortet.

Das vielleicht schönste Beispiel für eine ganz neue Aktualität Bölls ist wohl seine Satire „Doktor Murkes gesammeltes Schweigen“, von der wir kurze Auszüge hören: Da geht es um die verlogene Korrektheit akademischen Sprechens, und da offenbart ein Kitschbild plötzlich eine Wahrheit, die jeden intellektuellen Hochmut beschämen müsste. Trifft diese Geschichte nicht wunderbar die gegenwärtig allgemeine Angst, irgendjemanden durch irgendetwas zu diskriminieren oder zu beleidigen, wenn man sich doch eigentlich zu etwas bekennen möchte oder sollte? Und ist es nicht die tiefgründige Geschichte einer ironischen Mystik des Verweigerns? Diese Satire wird von Ilja Richter vorgetragen, der sicher mehr vom Reden und vom Schweigen im Rundfunk und anderswo versteht als die meisten anderen hier im Saal. Vielen Dank, Ihnen, Herr Richter, dafür.

Heinrich Böll hat gerne mit anderen Künstlern zusammengearbeitet. Unter anderem mit dem Kölner Fotografen Chargesheimer. Sein Buch „Unter Krahnenbäumen“ zeigt eine heute verlorene Welt. Ich freue mich sehr, dass Wolfgang Niedecken heute zu uns gekommen ist, um sein Lied „Unger Krahnebäume“ zu singen. Heimat ist keine Idylle. Aber ohne Heimat wäre niemand, was er ist. Wolfgang Niedecken hat als Kölner nicht nur zu den Fotos Chargesheimers eine besondere Beziehung. Seine Lieder und seine Auffassung von Kunst sind – so sagt er selbst – ganz wesentlich von Heinrich Böll geprägt.

Zwei Gelehrte werden das Unmögliche auf sich nehmen, und uns jeweils in fünf Minuten einen wesentlichen Aspekt des Werkes von Böll aufschließen. Der Schweizer Andreas Isenschmid, in Basel geboren, also am Rhein wie Böll, zeigt uns aus sozusagen neutraler Perspektive einen Deutschen in seiner deutschen Dialektik.

Karl-Josef Kuschel ist ein echter Pionier der Begegnung zwischen Literatur und Religion. Seine Doktorarbeit wurde einst vom kritischen Katholiken Hans Küng und von einem Freund und Kollegen Bölls aus der Gruppe 47, von Walter Jens nämlich, begutachtet. Wer könnte uns also besser Auskunft geben darüber, was Religion für Böll bedeutet?

Sie haben gemerkt, indem ich Ihnen die Mitwirkenden vorgestellt habe, habe ich eigentlich über den gesprochen, der der Mittelpunkt dieses Abends ist, und über seine verschiedenen Facetten: Heinrich Böll.

Aber nun zu Ihnen, liebe Gäste: Sie sind Autoren und Verlagsmenschen, Kritikerinnen und Journalisten, Buchhändlerinnen, Redakteure, Psychologinnen, kritische Katholiken oder skeptische Protestantinnen, alte oder neue Linke, grüne, rote oder schwarze Friedensbewegte, gegenwärtige Ministerpräsidenten und Oberbürgermeisterinnen, in politischen Stiftungen Engagierte, ehemalige Präsidenten und Vizepräsidenten des Deutschen Bundestages, Jesuiten und Ungetaufte. Ich würde sagen, eine Mischung wie aus einem Böll-Roman. Eine Mischung, wie sie ins Schloss Bellevue gehört.

Wir haben heute den jüngeren und literarischen Böll in den Mittelpunkt gestellt. Dass dieser wiederentdeckt zu werden verdient, das ist auch sicher Ihre Auffassung, Helge Malchow, der Sie als Verleger alle Anstrengungen unternehmen, Ihrem großen Autor immer wieder zu literarischer Aufmerksamkeit zu verhelfen. Vielen Dank für diesen großen Einsatz.

Es gibt aber auch den politischen Autor, es gibt den PEN-Präsidenten Böll, es gibt den, dem die Versöhnung ein wirkliches Herzensanliegen war und ihm zum Beispiel Freundschaften zu russischen Gelehrten und Autoren wie etwa Lew Kopelew bescherte. Diesem Heinrich Böll soll im kommenden Frühjahr eine zweite Veranstaltung gewidmet sein, auch der Aktualität schriftstellerischen Engagements – und zwar dann in Bonn am Rhein, in der Villa Hammerschmidt.

Ich wünsche Ihnen und uns jetzt einen adventlichen Abend voller Erinnerung und voller Ermutigung.

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