Zum Erfolg verdammt.

TP-Interview mit dem finanz- und haushaltspolitischen Sprecher, Bündnis 90/Die Grünen, im Berliner Abgeordnetenhaus, Jochen Esser.

TP: Herr Esser, Ihr Abgeordnetenkollege Dirk Behrendt hat nach zehn Jahren im Abgeordnetenhaus nicht mehr kandidiert – nun auch Sie nicht mehr nach 17 Jahren im Berliner Parlament. Vier weitere von Bündnis 90/Die Grünen ebenfalls nicht mehr. Was hat bei Ihnen zu diesem Schritt geführt?

Esser: Weil man sich irgendwann auf den Ruhestand freut; man weiß nicht wie lange man lebt, und ich möchte für den Rest des Lebens nochmal etwas anderes erleben als jeden Tag von morgens um zehn bis spät abends zu arbeiten.

TP: Oder noch länger.

Esser: Ja, manchmal auch länger, aber der Schnitt ist ein Zehnstundentag und die Wochenenden häufig auch. Und dann reicht es irgendwann.

TP: Sie waren ja jetzt (bis zur neuen Koalition sind Sie es noch weiter) der finanz- und haushaltspolitische Sprecher Ihrer Fraktion. In Ihrer Zeit wurden auch landeseigene Immobilien verkauft bzw. verramscht. Wie standen Sie dazu?

Esser: Ich bin seit 1999 Abgeordneter, und das Jahr 2000 war eigentlich das Katastrophenjahr hier in Berlin. Da war klar, wir kommen hinten und vorne nicht weiter: Die jährlichen Defizite im Haushalt sind zu hoch, der Bankenskandal bahnte sich an und ist dann 2001 so richtig geplatzt. Der Kern der Sache begann schon bei deren Versuch eine Bilanz für das Jahr 2000 aufzustellen, bei der man nicht zum Konkursrichter muss. Das war praktisch eigentlich schon nicht mehr möglich. Das führte dann im Jahr 2001 dazu, die Allgemeinheit diese Lasten zu tragen hatte.

TP: Also der Steuerzahler musste sozusagen bluten.

Esser: Danach war dann endgültig klar, dass in der Haushalts- und in der Finanzpolitik des Landes Berlin grundlegend umgesteuert werden müsste. Und dass das mit dem Senat von Diepgen und Landowsky…

TP: … Klaus-Rüdiger Landowsky, von 1991 bis 2000/2001 CDU-Fraktionsvorsitzender im Berliner Abgeordnetenhaus…

Esser: … nicht mehr ging. Das führte dann dazu, dass mit der Hilfe von Grünen und der Linkspartei Klaus Wowereit zum neuen Regierenden Bürgermeister gewählt wurde. Damit begann dann eigentlich eine 15jährige Geschichte der Haushaltssanierung, die man jetzt als abgeschlossen betrachten kann.

TP: Wobei die Grünen hierbei nur kurzfristig mitwirken konnten, denn es wurde nach kurzem Intermezzo sehr schnell eine rot-rote Regierung in Berlin installiert. In dieser Koalition wusste man sich offensichtlich nicht anders zu helfen, als landeseigene Immobilien zu verkaufen.

Esser: Na ja, das wird als Schutzbehauptung von der Linkspartei immer so gesagt. Wir haben heute in Berlin 60 Milliarden Euro Schulden. Wir hatten damals jährliche Milliardenbeträge, die dazukamen. Da kann man sich ja ausrechnen, dass der Verkauf zum Beispiel der GSW…

TP: … Gemeinnützige Siedlungs- und Wohnungsbaugesellschaft…

Esser: … durch SPD und Linke, die uns 260 Millionen eingetragen hat, noch nicht einmal ein Tropfen auf den heißen Stein ist.

TP: Die GSW hatte 1,7 Milliarden Euro Schulden.

Esser: Ja, die GSW war angeschlagen. Aber zur Haushaltssanierung hat ihr Verkauf nichts beigetragen. Wir haben Personal abgebaut im Gegenwert von 1 Milliarde Euro, und wir haben bei der bekloppten Westberliner Wohnungsbauförderung die Reißleine gezogen. Das hat jährlich 1 Milliarde Euro gebracht, aber nicht einmalig, sondern jährlich. Das sind eigentlich die Dinge, die den Haushalt saniert haben. Wenn man da die GSW nicht verkauft hätte, wäre die Bilanz heute genau die Gleiche.

TP: Bei den kläglichen 260 Millionen, die sie eingebracht hat, nachvollziehbar.

Esser: Ich denke, dass die SPD bereits in den 90er Jahren beschlossen hatte, dass eine Wohnungsbaugesellschaft verkauft werden sollte. Und da fiel die Wahl dann auf die GSW.

TP: Die aber, um das nochmals zu unterstreichen, 1,7 Milliarden Euro Schulden hatte.

Esser: Ja, die auch in einem schlechten Zustand war, das stimmt. Da traute man sich die Sanierung auch nicht mehr zu. Ich erinnere mich, dass die GSW noch nicht einmal die genaue Zahl ihrer Wohnungen benennen konnte, die sie besitzt. Trotzdem: Zur Haushaltssanierung hat das nichts beigetragen. Wegen der Haushaltssanierung hätte man es nicht machen müssen. Das lag an anderen Gründen, die die SPD dazu bewogen hatte. Die Linken haben das dann als der kleinere Koalitionspartner nach- und mitvollvollzogen.
Aber mit Sanierung hat das nichts zu tun. Wenn ich privat jeden Monat rote Zahlen auf dem Girokonto anhäufe, bis es gesperrt wird, dann muss ich mir überlegen wie ich meine laufenden Kosten gedeckt bekomme oder mehr Geld verdiene. Auf jeden Fall muss ich gucken, dass meine laufenden Ausgaben und Einnahmen miteinander in Einklang stehen. Ich kann natürlich einmal – wie zum Beispiel im Falle der GSW – die Uhr sozusagen zum Pfandleiher tragen. Das hilft mir über 1 Monat hinweg, und im nächsten Monat ist die Situation wieder wie vorher. Von daher kann sich jeder normale Mensch vorstellen, wenn ich einmal etwas verkaufe oder versetze, ersetzt mir das den eigentlichen Sparbetrag, der bei laufenden Ausgaben und Einnahmen stattfinden muss, nicht.

TP: Welche Löcher wurden denn nun eigentlich mit den 270 Millionen Euro gestopft, die der Verkauf der GSW eingebracht hat?

Esser: Ja gar keine. Das geht dann eben bei dem 15jährigen Weg, der strukturelle Einsparungen von 2,5 Milliarden Euro eingebracht hat, völlig unter.

TP: Demnach war der Verkauf der GSW pure Schutzbehauptung und hat nichts gebracht?

Esser: Völlig richtig, pure Schutzbehauptung. Das hat auch insofern nichts gebracht, weil wir immer noch Kredite aufnehmen konnten. Ich verstehe ja – um das Pfandleiherbeispiel nochmals aufzugreifen -, wenn jemand privat in Verdrückung ist und das Konto gesperrt bekommen würde, den Dispositionskredit ausgeschöpft hat, sich dann für eine Weile mit dem Uhrenversetzen behilft. Aber diese Lage war ja bei uns nicht da. Auf die Dauer hilft ihm das gar nichts, dann könnte er ja jeden Tag etwas hintragen.

TP: Wenn die GSW wieder rekommunalisiert, also wieder zurückgekauft werden würde, was müsste da das Land Berlin springen lassen?

Esser: Das weiß ich nicht. Das wären dann heute sehr viel höhere Beträge als 260 Millionen. Es gibt aber niemanden, der uns die GSW verkaufen möchte. Der jetzige Eigentümer jedenfalls nicht. Was vorbei ist, ist vorbei. Das kann man dann auch nicht mehr ändern.

TP: In Berlin geht’s ja nun wieder aufwärts, die Einnahmen sprudeln wieder, von einem jährlichen Überschuss von 500 Millionen Euro ist sogar die Rede.

Esser: Ja, wir hatten erhebliche Überschüsse, die jetzt aber zusammengeschmolzen sind, weil SPD und CDU im laufenden Haushalt ziemlich viel Geld ausgegeben haben. War ein typischer Wahlkampfhaushalt, hat ihnen bloß nichts genützt. Man darf natürlich auch nicht vergessen, die Unterbringung und Versorgung sowie die Integration von 60.000 Flüchtlingen gibt’s auch nicht umsonst. Wir haben aber niemandem deswegen etwas abziehen müssen, das heißt, das hat die Stadt bequem geschafft. Aber die Überschüsse in diesen Größenordnungen sind dann weg, weil uns das dann schon 600 bis 700 Millionen Euro im Jahr kostet.

TP: Die Flüchtlinge sind dann wiederum Einwohner, die dann, wenn sie sozusagen in Lohn und Brot stehen, auch wieder Geld bzw. Steuern einbringen.

Esser: Genau. Aber das dauert natürlich eine Weile.

TP: Wie lange?

Esser: Das weiß keiner so genau. Das hängt auch von dem Einzelnen ein bisschen ab, welche Qualifikationen er mitbringt, wie sehr er sich bemüht, wie schnell er sich zurechtfindet. Da sind wir mal gespannt. Es gibt darüber auch keine wirkliche Übersicht. Ich habe das Gefühl – das sagen auch alle, die beispielsweis als Flüchtlingshelfer mit denen arbeiten -, wir haben zumindest in der ersten Welle aus 2015 viele Leute aus den städtischen Eliten und der Mittelklasse abbekommen, wo man guter Hoffnung sein kann, dass sie sich hier gut und schnell zurechtfinden, wenn man sie nur lässt. Aber darunter sind natürlich auch andere, die aus Dörfern kommen, in denen das Schulsystem nicht funktioniert in solchen Ländern. Da ist das sicherlich schwieriger. Die lernen auch eine Sprache nicht so schnell, haben vielleicht wenig Schuljahre zuhause gehabt, mussten als Kinder schon auf dem Acker arbeiten. Da ist das sicherlich schwieriger. Aber ich glaube, es ist ein hoher Prozentsatz dabei, mit dem das relativ einfach werden könnte, der auch sehr lernbegierig ist.

TP: Als sie sich entschieden haben, nicht mehr für das Abgeordnetenhaus zu kandidieren, sind Sie da eigentlich davon ausgegangen, dass rot-rot-grün eventuell nicht zustande kommen könnte?

Esser: Nein, ich glaube, die Regierungsperspektive war von vornherein gegeben, dass das jetzt so endet, dass wir Grüne hier in Berlin seit Gründung unserer Partei, seit 38 Jahren, uns in der komfortablen Situation befinden, dass ohne und gegen uns keine Regierung gebildet werden kann. Das habe ich nun so auch nicht vorausgesehen. Aber das ist natürlich auch ein schönes Ende.

TP: Ihre Entscheidung nicht mehr zu kandidieren, hätte es demnach so oder so gegeben?

Esser: Das ist eine private Entscheidung, wo ein älter werdender Mensch sich überlegt hat, was er mit dem Rest seines Lebens noch anfängt.

TP: Sie hatten also nicht die Befürchtung nochmals 5 Jahre in der Opposition zu versickern?

Esser: Meine Entscheidung steht – unabhängig von Regierung oder Opposition. Aber ganz gewiss wollte ich nicht die gleiche Oppositionsarbeit, die ich die letzten 17 Jahre gemacht habe, nochmals 5 Jahre machen, bis ich 70 bin. Aber ich bin auch nicht davon ausgegangen, dass ich das dann auf der Regierungsbank machen möchte. Das ist eine völlig private Entscheidung.

TP: Auch keine Ambitionen gehabt, eventuell als Finanzsenator auf der Regierungsbank zu sitzen?

Esser: Nein. Es muss sich jeder selbst überlegen, was er mit seinem Leben machen möchte. Solange man sich noch aussuchen kann, was man mit seinem Leben machen will, muss man diese Entscheidung dann auch treffen. Und ich möchte nicht arbeiten bis ich tot umfalle – auch nicht als Senator.

TP: Wie wird der nächste Finanzsenator heißen, wieder Matthias Kollatz-Ahnen?

Esser: Das ist nicht raus, würde ich sagen.

TP: Wie sieht’s mit den Ressorts „Innen“ und „Justiz“ aus?

Esser: Will anscheinend keiner gerne machen…, ich weiß es nicht. Zwar wird das jetzt in den Zeitungen besonders gerne getan, aber über Ressorts können wir im Augenblick nicht vernünftig spekulieren.

TP: Auch nicht über die Anzahl der Senatoren?

Esser: Nein, die Gespräche sind ja noch nicht richtig losgegangen.

TP: In den Zeitungen stand ja, der Abschluss der Koalitionsgespräche sei in diesem Jahr noch zu erwarten. Wir sind davon eher davon ausgegangen, dass dies in den nächsten sechs Wochen der Fall sein wird.

Esser: Nein, das glaube ich eigentlich nicht, das ist mit 3 Parteien auch schwieriger. Ich habe das ja einmal schon mitgemacht bei den Gesprächen über die Ampelkoalition im Jahre 2001, die der rot-roten Regierung vorausgegangen und am Ende gescheitert sind. Und das ging auch fast bis Weihnachten ran. Das war ganz ähnlich wie jetzt. Ich glaube, dass das nun auch nicht innerhalb einiger Wochen passiert. Es ist irgendwann mal gesagt worden – das habe ich auch nur in der Zeitung gelesen -, dass sich Her Müller…

TP: … der derzeitige Regierende Bürgermeister…

Esser: … den 8. Dezember vorstellt, an dem der neue Regierende Bürgermeister gewählt würde.

TP: Aber an sein Wahlversprechen, nicht mehr mit der CDU zu koalieren, wird er sich halten?

Esser: Geht ja gar nicht anders.

TP: Kann ja die FDP dazukommen.

Esser: Geht ja auch nicht.

TP: Zu viele Wackelkandidaten?

Esser: Das kann man ja vergessen. Die Möglichkeit existiert nicht. De drei – SPD, Linke und Grüne – werden es miteinander machen müssen.

TP: Das können Sie sicher voraussagen?

Esser: Ich bin kein Prophet, aber alle drei sind zum Erfolg verdammt.

TP: Streng nach der Sartre‘schen Existenzphilosophie?

Esser: Da kann sich keiner davonstehlen, es sei denn, er riskiert, sich unmöglich zu machen, indem er die Berliner zu Neuwahlen zwingt. Vorhin sagte jemand zu mir: Drei Kellner ohne Koch. Und ich sagte: Dann müssen jetzt alle drei kochen lernen. Das ist dasselbe wie zum Handeln verdammt zu sein.

Interview: Dietmar Jochum, TP Presseagentur Berlin

Foto: Jochen Esser

Bildquelle: TP Presseagentur Berlin

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.

*