Aus tatsächlichen und Rechtsgründen auf Kosten der Landeskasse „aus der Verfolgung gesetzt“.

Podiumsdiskussion im Auswärtigen Amt mit Nachkommen von NS-Verfolgten und NS-Tätern.

Nachdem Felix Klein, Sonderbeauftragter des Auswärtigen Amtes für die Beziehungen zu jüdischen Organisationen, Holocausterinnerung und Antisemitismusbekämpfung in seiner Begrüßungsansprache beklagte, dass immer weniger Zeitzeugen die Frage nach ihren Vorfahren zur Zeit des Nationalsozialismus beantworten könnten, reklamierte er, dass diese Frage ein wichtiger Teil in der Auseinandersetzung mit dem familiären Erbe – und dies „für Deutsche gleichbleibend relevant“ bleibe.

Selbst wenn ein früherer Kanzler einst das Wort von der „Gnade der späten Geburt“ geprägt habe und „wir als nachgeborene Deutsche persönlich keine Schuld an den Verbrechen des Nazi-Regimes“ trügen, so hätten wir diese Vergangenheit doch geerbt und müssten mit ihr umgehen, hätten so eine Verantwortung zu übernehmen.

So sehen das auch Ulrich Gantz*, Sohn eines NS-Täters, und Swenja Granzow-Rauwald*, deren jüdische Großeltern in der Nazi-Zeit verfolgt wurden. Beide haben sich ausführlich mit der Aufarbeitung ihrer Familiengeschichte und den Auswirkungen auf ihr eigenes Leben beschäftigt und organisieren Dialogseminare für Nachkommen von NS-Verfolgten und von NS-Tätern.

Am 6. November nahmen sie an einer Podiumsdiskussion im Auswärtigen Amt in Berlin teil, die von dem Leiter des Studienzentrums und stellvertretenden Direktor der KZ-Gedenkstätte Neuengamme, Oliver von Wrochem*, moderiert wurde.

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Bundesaußenminister Sigmar Gabriel, der in Interviews und öffentlichen Gesprächen schon auf seine eigene Familiengeschichte und das problematische Agieren seines Vaters – auch nach dem Krieg – hingewiesen hatte und andererseits mit der Tatsache umgehen musste, dass die Familie seiner ersten Frau ebenfalls nationalsozialistischer Verfolgung ausgesetzt war und er vor diesem Hintergrund mit seiner Tochter Yad Vashem besucht hatte, ging zunächst in einem persönlich gehaltenen Grußwort auch auf seine eigene Familiengeschichte ein.

Trotz der Massenverbrechen und Gräueltaten des Naziregimes sei es aber als ein Wunder zu bezeichnen, so Gabriel, dass diesem Land, von dem der Krieg ausgegangen ist, schon kurz danach die Gnade zuteil wurde, wieder an den Tisch der zivilisierten Völker zurückzukehren. Er finde es immer wieder beeindruckend, so Gabriel, dass Europäer, durch deren Länder Deutsche brandschatzend und mordend gezogen waren, „uns kurz nach dem Zweiten Weltkrieg dazu einluden, die Europäische Union mit zu gründen“.

Die Geschichte seines Vaters, so Ulrich Gantz zunächst, sei während des Dritten Reiches sehr unspektakulär gewesen. Nach seinen Erzählungen sei er bei der Polizei – während des Krieges in Norwegen, kurze Zeit in Russland – gewesen, sonst hätte sich da nichts abgespielt.

Nachdem er im Jahre 2002 verstorben war, haben er, seine Geschwister und seine Stiefmutter zusammen gesessen und darüber geredet wie es weiterginge. Da sei die Stiefmutter gekommen, habe eine Plastiktüte auf den Tisch gelegt und gesagt: So Ulrich, hier sind die Antworten auf die Fragen, die Du Dir immer gestellt hast. Die Reaktion seines Bruders sei sofort gewesen: Verbrennen! Es wurde jedoch eine Vereinbarung getroffen, die Papiere zu sichten und dann erst darüber zu entscheiden, was damit geschehen soll. Sein Bruder hatte jedoch darauf bestanden, was er – Ulrich Gantz – ihm versprochen hatte, dass „nur wir vier“ den Inhalt der Plastiktüte angucken und selbst „mit unseren eigenen Kindern nicht darüber reden“.

In der Tüte befanden sich sehr viele handschriftlichen Notizen seines Vaters. Anhand von Ladungen habe er festgestellt, dass er in der Zeit von 1960 bis 1980 zumindest in 18 Verfahren entweder als Zeuge oder Beschuldigter geladen war. In der Tüte war auch ein Beschluss des Landgerichts Kiel, in dem es im Rubrum/Tenor hieß: In der Strafsache gegen den wissenschaftlichen Assistenten Dr. Helmut Gantz wegen Mordes hat die 1. Große Strafkammer des Landgerichts in Kiel am 10. Mai 1961 beschlossen: Der Angeklagte wird aus den tatsächlichen Gründen des mangelnden Beweises seiner Beteiligung sowie aus Rechtsgründen auf Kosten der Landeskasse aus der Verfolgung gesetzt.

Sein Vater sei Chef der 2. Kompanie des Polizeibataillons 9 gewesen. In den Monaten Juli bis Dezember 1941 in der Einsatzgruppe B, deren 1. und 2. Zug im Raum von Minsk innerhalb von 3 – 4 Wochen an insgesamt 68 Erschießungen von Juden und Partisanen beteiligt war. Im Gerichtsbeschluss von 1961 wurde ausgeführt, dass er bestritten hatte an solchen Liquidierungsmaßnahmen durch Feuerbefehl oder selbst schießend beteiligt gewesen zu sein.

Zwar hatte er seinem Bruder versprochen, nicht über die Vergangenheit des Vaters zu reden; nachdem im Jahre 2003 jedoch ein Buch erschienen war, in dem über ihn auf ca. 60 oder 70 Seiten geschrieben wurde, habe ihm das die Sache erleichtert, offen damit umzugehen.

Hier wurde auch die Situation beschrieben, die sein Vater stets bestritten hatte, dabei gewesen zu sein.

Auf einem Foto des Buches habe er auch seinen Vater zu erkennen geglaubt, wie er vor Heinrich Himmler salutierend Haltung eingenommen habe. Der Verleger des Buches, um das Gantz 3 Jahre einen Bogen gemacht hätte, hätte ihm dann auf Anfrage bestätigt, dass es sich „ohne Zweifel“ um seinen Vater gehandelt hatte.

Er habe sich entschieden, das Versprechen gegenüber seinem Bruder zu brechen, weil dieses Versprechen dazu geführt hätte, die Verbrechen (des Vaters) zuzudecken, und dabei wollte er kein Komplize sei.

Swenja Granzow-Rauwald, die Verantwortung als eine Art Erinnerungskultur begreift, erzählte von ihren Großeltern, die vom KZ Auschwitz nach Außenlagern des KZ’s Neuengamme deportiert wurden. Später seien sie weiter nach Bergen-Belsen deportiert worden. Erst nach dem Krieg hätten sie sich kennen gelernt.

Die Großeltern, so Granzow-Rauwald, seien keine deutschen Juden gewesen. Ihr Großvater war Jude aus Budapest, ihre Großmutter, ungarisch sprachig, kam aus einem Dorf, das heute in der Slowakei liegt.

Ihr Großvater (geb. 1899) war wesentlich älter als die Großmutter (geb. 1921). Er war bereits verheiratet, hatte bereits zwei Kinder, die in den 30er Jahren geboren wurden. 1944 wurden auch Frau und Kinder nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Emotional total überwältigt erzählte Swenja Granzow-Rauwald von ihrer Großmutter, die über 50 Familienmitglieder durch den Genozid verloren hatte.

Eine Situation, die betroffen machte und mit der Oliver von Wrochem sehr behutsam umging.

Nach einer Unterbrechung der Schilderungen Granzow-Rauwalds (Ulrich Gantz berichtete zunächst weiter über seine Familiengeschichte), erzählte sie dann wie im Jahre 2014 aus einer Generationsbewegung, bei der sich Nachkommen von Verfolgten und Tätern getroffen haben, ein Impuls gekommen sei, ein solches Format zu etablieren.

So sei 2015 zum 70. Jahrestag des Kriegsendes und der Befreiung aus den Konzentrationslagern ein erstes Forum durchgeführt worden, zu dem Nachkommen aus verschiedenen Ländern Europas und von außerhalb angereist waren, um ins Gespräch zu kommen über Fragen: Wie können wir uns erinnern in einer Zeit, in der es immer weniger Zeitzeugen gibt und irgendwann gar keine Zeitzeugen mehr geben wird?

Diese Diskussionen fänden aber nicht nur unter Nachkommen ehemaliger Häftlinge und NS-Verfolgten statt, auch junge Erwachsene und Studierende waren und werden eingeladen. Weil der Gedanke an einen Dialog so wichtig sei, sei es auch wichtig gewesen, Nachkommen von NS-Tätern und Täterinnen einzubinden, die sich kritisch mit ihrer Familiengeschichte befassen wollen.

Das sei ein Format, das sich wieder besonderen Fragen in Diskussionen und Workshops widmet.

2015 sei es ein starkes Verlangen unter diesen Nachkommen gewesen, diese sehr fruchtbaren Austausche nicht immer nur am Ort der KZ-Gedenkstätte Neuengamme abzuhalten, sondern sie auch jenseits der Jahrestage fortzuführen. Da sei der Gedanke aufgekommen, dass sich das Internet dafür sehr gut nutzen ließe.

So sei der mehrsprachige Blog entstanden „Reflections on Family History Affected by Nazi Crimes (http://rfhabnc.org)“, der sich ursprünglich noch an das Format von 2015 angelehnt, aber ganz schnell in eine eigene Richtung entwickelt habe.

NS-Verfolgten sollte so eine Möglichkeit gegeben werden, ihre Geschichte, die ihrer Familie, aber auch den Umgang mit dieser Geschichte darzustellen. Dadurch, indem man sichtbar wird, auch einen Austausch zu ermöglichen und gleichzeitig ein Forum zu sein, wo Ideenprojekte vorgestellt und ggf. Mitstreiterinnen und Mitstreiter gefunden werden können.

Dieses Ziel der Vernetzung der Nachkommen sei eben auch, sich gegenseitig darin zu bestärken, herauszufinden, was die Interessen und Bedürfnisse und die erinnerungspolitischen Ziele von Nachkommen von NS-Verfolgten eigentlich sind. Dazu müsse gesagt werden, so heterogen die Gruppe der Verfolgten selbst gewesen ist, so heterogen sei auch die Gruppe der Nachkommen selber.

Es sei jetzt gerade angelaufen, sich darüber klar zu werden, wie man gemeinsam die erinnerungspolitische Diskussion beeinflussen kann, zumindest eine Stimme in dieser zu werden, in der man immer wieder darauf angesprochen werde und erwünscht sei mit Beiträgen.

Entgegen seiner ursprünglichen Absicht an der Podiumsdiskussion teilzunehmen, verließ Sigmar Gabriel aus terminlichen Gründen vorzeitig nach seiner Begrüßungsansprache die Veranstaltung im Auswärtigen Amt.

TP Presseagentur Berlin, Dietmar Jochum

Fotos (oben links, v.l.n.r.): Swenja Granzow-Rauwald, Oliver von Wrochem, Ulrich Gantz; (oben Mitte, v.l.n.r.): dieselben; (oben rechts): Großeltern von Swenja Granzow-Rauwald:

Fotos (unten Mitte): Bundesaußenminister Sigmar Gabriel

Bildquellen/Collage: TP Presseagentur Berlin

Amicale_Rede_Gaussot_13.11.2016

Pogromnacht

Synagogen brannten, jüdische Geschäfte wurden zerstört und Menschen getötet. Am 9. November 1938 griffen die Nationalsozialisten in ganz Deutschland jüdische Menschen an. Bis heute gilt diese Nacht als der Wendepunkt der damaligen Geschichte.

Publié par PHOENIX sur jeudi 9 novembre 2017

*Biografische Angaben:

Ulrich Gantz, geb. 1948, vier Jahre Bundesmarine, Chemiestudium und Promotion an der Ruhr-Universität Bochum, arbeitete für einen internationalen Konzern in Hamburg, Amsterdam, Houston/Texas, Den Haag und Freiberg/Sachsen. Seit 2012 im Ruhestand. Aktiv in der Dialogarbeit zwischen Nachkommen von NS-Tätern und NS-Verfolgten, Mitarbeit am Sammelband „Nationalsozialistische Täterschaften. Nachwirkungen in Gesellschaft und Familie“, hrsg. Von Oliver von Wrochem, Berlin 2016.

Swenja Granzow-Rauwald, geb. 1983, Politikwissenschaftlerin (B.A. Saginaw Valley State University, Michigan/USA, M.A. Universität Hamburg), arbeitet freiberuflich in der Jugend- und Erwachsenenbildung, u.a. für die KZ-Gedenkstätte Neuengamme. Seit 2015 betreut sie den Blog „Reflectiobns on Familiy History Affected by Nazi Crimes“ (http://rfhabnc.org), deren Menschen, deren Familiengeschichte von den Verbrechen der Nazis betroffen war, die Möglichkeit bietet, ihre Geschichten zu teilen, Kontakt miteinander aufzunehmen und zu einer nachhaltigen Zukunft der Erinnerung beizutragen.

Oliver von Wrochem, Dr. Phil., geb. 1968, Historiker, seit 2009 Leiter des Studienzentrums, seit 2014 zudem stellvertretender Direktor der KZ-Gedenkstätte Neuengamme. Derzeit unter anderem zuständig für die Erarbeitung der neuen Dauerausstellung im geplanten Dokumentationszentrum „denk.mal Hannoverscher Bahnhof“ (eröffnet 2021). Arbeitet seit 2009 mit Nachkommen von NS-TäterInnen und NS-Verfolgten. Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg, Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, Strafverfolgung von NS-Gewaltverbrechen, historisch-politische Bildung. Aktuellste Veröffentlichungen: (als Herausgeber): Repressalien und Terror. ‚Vergeltungsaktionen‘ im deutsch besetzten Europa 1939 – 1945, Paderborn 2017; (als Herausgeber) Nationalsozialistische Täterschaften. Folgewirkungen in Gesellschaft und Familie, Berlin 2016.

Grußwort von Außenminister Sigmar Gabriel anlässlich der Diskussionsveranstaltung „Nachkommen von NS-Tätern und NS-Verfolgten im Dialog“

06.11.2017

— es gilt das gesprochene Wort —

Vielen Dank für die Einladung und die freundliche Begrüßung. Ich bin gerne gekommen, weil mich das Thema zugegebener Maßen nicht nur politisch, sondern auch persönlich sehr interessiert.

An alle herzlich willkommen im Auswärtigen Amt im Lesesaal. Die Geschichte des Auswärtigen Amtes im Nationalsozialismus ist hier vorgestellt worden.

Der Umgang in Deutschland mit Tätern und Opfern, mit der Geschichte derjenigen, die entweder Kinder von Tätern oder von Opfern oder scheinbar Unbeteiligten sind, ist ja keine ganz neue Erfahrung. Allerdings stand sie nicht am Anfang der Republik. Eigentlich haben wir eine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und der Rolle der Deutschen als Bürger, als Beteiligte, als Mitläufer, als Täter so richtig erst begonnen mit den Ausschwitz-Prozessen in Frankfurt zwischen 1963 und 1965. Wenn man mal einen Eindruck bekommen wollte, wie schwierig das in den ersten Jahren gewesen ist, in einer Gesellschaft, die froh war, wenn sie alles verdrängen konnte und sich auf den Wiederaufbau konzentriert hat, der konnte das in mehreren Filmbeiträgen über Fritz Bauer nachvollziehen. Dem damaligen Generalstaatsanwalt in Hessen, der mit großen Widerständen zu kämpfen hatte, um überhaupt nationalsozialistischen Tätern habhaft zu werden.

Seit den 60er Jahren und natürlich auch in der Studentenbewegung haben wir das Erinnern an die Nationalsozialisten und ihre Verbrechen entwickelt, an das was Menschen anderen Menschen antun können. Das Erinnern auch an die Bedingungen, unter denen das möglich ist, gehört inzwischen zu der Staatsraison in Deutschland. Im Unterricht, in der Forschung, im Umgang mit Nachbarstaaten, im Fernsehen, all das ist inzwischen möglich geworden.

Am 27. Januar begehen wir jedes Jahr im Deutschen Bundestag mit einer Gedenkveranstaltung den Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Ausschwitz.

In all diesen Jahren gab es auch immer Gegendruck, gab es immer Streit. Man muss gar nicht zurückgehen bis zur berühmten Schlussstrichdebatte, die es ja in Deutschland mehrfach gegeben hat. Dieser Streit ist bei weitem nicht zu Ende.

Ich kann mich noch erinnern, dass ich als junger Mensch 1978 an einer Demonstration in meiner Heimatstadt Goslar für die Öffnung des noch immer erhaltenen spätmittelalterlichen jüdischen Friedhofes demonstriert habe. Für die Tatsache, dass wir das als junge Leute machten, wurden wir 1978 noch vom Staatsschutz beobachtet, als sei das ein revolutionärer Akt zur Gefährdung der Bundesrepublik!

10 Jahre später, 1988, hat meine Heimatstadt zum ersten Mal eine Gedenktafel für die nach Ausschwitz deportierten Mitbürgerinnen und Mitbürgern jüdischen Glaubens errichtet. Dabei hat sich übrigens gezeigt, wie wenig sie sich damit auseinandergesetzt hat. In dem Gedenkstein wurden die Geburtstage der Betroffenen mit einem Stern gekennzeichnet und das vermutete Sterbedatum mit einem Kreuz. Was den letzten anwesenden Überlebenden der jüdischen Bürger zu einem im wahrsten Sinne des Wortes Ohnmachtsanfall geführt hat. Bis heute kann man diesen Makel, sozusagen diese Dummheit und die damit natürlich auch offenbar gewordene Verweigerung der Auseinandersetzung, sehen. Ich habe meiner Heimatstadt seit Jahren empfohlen, diesen Stein auszutauschen.

In meiner Schule war es hochumstritten, den 8. Mai 1945 als Tag der Befreiung zu empfinden. In der offiziellen Lesart war das der Tag der Niederlage. Erst mit der Rede des großen Bundespräsidenten Richard von Weizäcker, 1985, hat sich das endlich geändert. Und in meiner Schulzeit, zumindest in meiner Realschule, endete der Geschichtsunterricht vor dem Beginn des ersten Weltkrieges, was etwas mit der politischen Auffassung des damaligen Geschichtslehrers zu tun hatte.

Ganz aktuell sehen wir, dass es innerhalb der politischen Kultur in Deutschland möglich ist, dass jemand, der gewählter Repräsentant ist, eine 180-Grad-Wendung in der Erinnerungskultur in Deutschland fordert. Was kann das eigentlich anderes sein, als sich nicht mehr erinnern zu wollen!

Das zeigt auch, dass auch in einem Land, das seit den 70er Jahren stolz auf seine Auseinandersetzung mit diesem Thema sein kann, dies nicht unumstritten und nicht selbstverständlich ist. Dass das immer wieder bestritten werden kann und sich immer wieder auch andere Interpretationen durchsetzen könnten, wenn es nicht eine gesellschaftliche Auseinandersetzung darüber gäbe.

Wie schwierig das ist, habe ich jedenfalls in meiner politischen Biografie immer mal wieder erleben dürfen. Bis Mitte der 80er Jahre z. B. trafen sich in Bad Harzburg hunderte Angehörige der ehemaligen SS-Division Leibstandarte Adolf Hitler. Und weil man in Deutschland ja auch nach dem 2. Weltkrieg Ordnung hält, war die Mannschaft in einem Hotel, die Unteroffiziere in einem anderen, die Offiziere in einem dritten untergebracht. Die Störenfriede waren wir, die das unmöglich fanden, dass sich eine Verbrecherorganisation in einem deutschen Ort treffen kann.

Was mit Erinnern zu tun hat, ist immer streitbefangen, gerade weil ein Land der Täter auch immer ein Land der Opfer ist.

Was haben die Vergasungen im Vernichtungslager Chelmno, Massenerschießungen in Babyn Jar, was hat der Hungertod tausender Griechen oder auch Russen, Bürger der damaligen Sowjetunion, was haben die Euthanasie-Versuche der Nazis mit uns heute, mit jedem Einzelnen zu tun?

Das Ende des Zweiten Weltkriegs ist eben 72 Jahre her und Kinder, die sich heute mit dieser Frage auseinandersetzen, waren damals nicht mal geboren. Was haben meine Eltern, meine Großeltern, manchmal die Urgroßeltern, damit zu tun, was haben sie gemacht, wie haben sie es erlebt? Die Frage betrifft viele, aber natürlich mit dem Laufe der Zeit empfindet man diese manchmal auch familiäre Betroffenheit natürlich ganz anders als wenn es sich noch um die direkte Generation von Vätern und Müttern handelte.

Der Zweite Weltkrieg ging 1939 eben nicht von irgendwoher aus, sondern aus dem nationalsozialistischen Deutschland. Die nationalsozialistischen Massenverbrechen und Kriegsgräuel der folgenden sechs Jahre haben in Europa und weit darüber hinaus in den Gesellschaften und bis in die einzelnen Familien hinein Spuren hinterlassen und es ist fast schon ein Wunder, dass diesem Land die Gnade zuteil geworden ist, relativ kurz nach diesen Verbrechen wieder eingeladen zu werden, an den Tisch der zivilisierten Völker der Welt zurückzukehren. Ich finde das immer noch beeindruckend, dass Europäer, durch deren Länder gerade eben die brandschatzenden und mordenden Deutschen gezogen waren, uns kurz nach dem 2. Weltkrieg einluden, die Europäische Union zu gründen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das in Frankreich, in Belgien, in Italien, in den Niederlanden besonders populär gewesen ist. Das waren mutige Leute, die dieses Europa mit Deutschland gründen wollten und manchmal muss man die Deutschen heute daran erinnern, welchen Mut die damals Anderen gehabt haben, Deutschland nach Europa zu bringen.

Damals ging es den Menschen im wahrsten Sinne des Wortes ums Leben, weil sie wussten, dass der Nationalismus, wie Francois Mitterand uns später mal gesagt hat, immer Krieg bedeutet.

Also ein großes Wunder, dass nach all diesen Verbrechen wir wieder eingeladen wurden. Aber eben auch eine große Verantwortung für egal welche Generation, sich deshalb daran zu erinnern. Nicht um schwere Komplexe zu perpetuieren – das wird man jungen Leuten kaum erklären können. Sondern die Verantwortung dafür im Bewusstsein zu halten, und zwar nicht nur als allgemeinen Glaubenssatz, sondern in der praktischen Arbeit, von der Politik bis hin zu Vereinen, bis in die Alltagskultur unserer Familien und unseres Umgangs miteinander.

Ob Deutschland ein Tätervolk oder ein Volk von Tätern ist, ob es eine Kollektivschuld gibt oder nicht, das ist ja vielfach diskutiert, verworfen, und wieder aufgegriffen worden.

Aber gleichwohl ist die Frage, wer ein Täter ist, lange nicht abgeschlossen. Die Täterforschung und – Identifizierung dauert zurecht an. Ich halte es für eine große Schande unseres Landes, dass wir es immer noch nicht geschafft haben, die jedenfalls noch lebenden Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Es ist wichtig, dass die Staatsanwaltschaft in Frankfurt am Main Anklage gegen einen jetzt 96-Jährigen wegen Beihilfe zum Mord erhoben hat. Aber wie immer das Urteil aussehen wird, er jedenfalls wird in seinem verbleibenden Leben keine gerechte Strafe mehr bekommen für das, was man ihm vorwirft.

Heute geht die Forschung von 200.000 bis 250.000 Tätern des Holocaust im engeren Sinne aus, also Deutschen und Österreichern. Hinzu kommt eine große Zahl von an NS-Verbrechen direkt oder indirekt Beteiligten, sowie der ausländischen Kollaborateure – in Ost- wie Westeuropa.

Wer – abgesehen von den Hauptkriegsverbrechern, die bald nach Kriegsende noch durch die Alliierten abgeurteilt wurden, übrigens auch relativ schnell wieder freigelassen wurden, weil man sie scheinbar brauchte, jedenfalls nach damaliger Auffassung – wer also als Täter gesehen wird, ist damit auch vom historischen, politischen und gesellschaftlichen Kontext abhängig und die Aufarbeitung dieser Fragen dauert bis heute an.

Das Auswärtige Amt hat die Frage, welche Rolle seine Diplomaten im nationalsozialistischen Deutschland gespielt haben, erst sehr spät beleuchtet. 2012 wurde der Bericht der Unabhängigen Historikerkommission „Das Amt und die Vergangenheit“ hier im Lesehof vorgestellt.

Beim Blick auf die Opfer und Verfolgten gibt es Gott sei Dank inzwischen wenig Raum für Interpretationen.

60 Millionen Menschen wurden im Zweiten Weltkrieg getötet, eine unvorstellbar große Zahl, die Hälfte von ihnen übrigens Zivilisten. 6 Millionen ermordete Jüdinnen und Juden. Es ist heute unvorstellbar, in Form einer industriellen Vernichtung, das Räderwerk dieses durchorganisierten Massenmordes ist bis heute unvorstellbar. Natürlich auch unvorstellbar dabei ist der Verlust an Leben und Menschlichkeit. Dazu kommt der unwiederbringliche Schaden, der Kultur und Gesellschaft zugeführt wurde. Die Vertreibungen, Enteignungen, Zerstörungen von Eigentum und Identität.

Kurz, der Zweite Weltkrieg führte zu einem beispiellosen Bruch in der Geschichte.

1945 war eben nichts mehr, wie es einmal war.

Was das in den Familien bedeutet, das in der Tat habe ich bei mir selber erleben können. Im Alter von 16 Jahren habe ich feststellen müssen, dass mein Vater ein Nationalsozialist ist und das war er, bis er vor drei Jahren gestorben ist, bis zum letzten Tag seines Lebens.

Ich wusste nicht, wieviel NS-Literatur es in Deutschland gibt. Erst beim Auflösen seines Haushaltes habe ich einen Einblick darin bekommen. Ich weiß nicht, ob es irgendeine Broschüre gibt, die er nicht abonniert hatte und an andere Leute versandt hat. Er war übrigens ein geduldetes Mitglied des öffentlichen Dienstes bis zu seiner Verrentung. Man konnte in Deutschland, wenn man Postbeamter war, Briefträger, damals noch beamtet, entlassen werden, wenn man der DKP angehörte. Aber am Beispiel meines Vaters können Sie sehen, dass er ein gläubiger Nationalsozialist sein konnte und Amtsrat hier in Deutschland in der öffentlichen Verwaltung werden, bleiben und davon natürlich auch noch Pension beziehen konnte. Gleichzeitig habe ich eine Tochter, deren Großvater Jude war. Er ist später zum Katholizismus übergetreten, er kam aber aus einer jüdischen Familie, deren Grabsteine Sie alle hier in Weißensee auf dem jüdischen Friedhof sehen können. Bis auf eine Generation, die ist mit dem letzten Transport aus Berlin, dem Fabriktransport, nach Ausschwitz gebracht worden. Die Großmutter meiner ältesten Tochter war auch eines der Opfer von Mengele, das haben wir bei einem Besuch in Yad Vashem herausfinden können.

Also in einer Familie Ausschwitzleugner und Auschwitzopfer. Sie werden sich vorstellen können, dass einen das umtreibt und man sich überlegt, wie man damit selber umgeht. Daher geht mir das Thema in der Tat persönlich nah und deshalb freue ich mich darüber, dass wir hier nun Gelegenheit haben, über die geänderten Bedingungen zu sprechen, unter denen dieses Erinnern heute stattfindet.

Es gibt ja doch ganz wesentliche Veränderungen gegenüber der Zeit nach den Ausschwitzprozessen. Wir werden auf immer weniger authentische Berichte von Zeitzeugen auf Täter- und Verfolgtenseite zurückgreifen können. Bei meiner ersten Gedenkstättenreise mit der Aktion Sühnezeichen nach Ausschwitz konnte ich jedenfalls noch mit einem sozialdemokratischen Häftling aus meiner Heimatstadt sprechen. Der übrigens nur ein einziges Mal an Selbstmord gedacht hat, nämlich als er Rentner wurde und zum Landesversicherungsamt ging und Rente beantragen wollte, auch für seine Haftzeit, immerhin von 1936-45. Und der Beamte ihn fragte, wie er belegen könne, dass er dort nicht zu Recht in Auschwitz gewesen sei. Da hat er das erste Mal überlegt, sich aufzuhängen. Er hätte praktisch prozessieren müssen in Deutschland, um das als Versicherungszeit anerkannt zu bekommen.

Diese Zeitzeugen der Massenvernichtung einerseits, aber auch des Umgangs damit in der neuen Bundesrepublik stehen uns bald nicht mehr zur Verfügung.

Aber es geht noch um mehr, unsere Gesellschaft verändert sich. Heute leben in Deutschland Menschen aus aller Herren Länder. Ein Teil davon aufgewachsen in Ländern, in denen sie Antisemitismus quasi mit der Muttermilch verabreicht bekommen haben. Und wenn man Schülerinnen und Schüler dazu bewegen kann, ihre wirkliche Meinung zu sagen und sie nicht aus Angst vor der Autorität zu verschweigen, gibt es welche, die sagen: „was haben wir eigentlich damit zu tun? Unsere Eltern kommen aus der Türkei, aus Marokko, aus Syrien. Wieso tragen wir Verantwortung für diesen Teil der deutschen Geschichte?“ In einer Migrationsgesellschaft müssen wir das Thema noch in einem ganz anderen Zusammenhang betrachten. Dass eine Identifizierung mit Deutschland stattfindet, die über einen formellen Pass hinausgeht. Dieses Land ist eben nicht irgendein Land. Nicht nur, was das Thema Nationalsozialismus angeht. Es ist ein ganz konkretes Land, mit bestimmten Vorstellungen über das Zusammenleben hier, mit einer Identität, die sich aus der Verfassung bildet. Diese Verfassung hat ihre eigentlichen Wurzeln in der Zeit des Nationalsozialismus und der Weimarer Republik. Deshalb ist auch das eine große Herausforderung.

Ich erinnere mich, als ich Vorsitzender der SPD war, schrieb Thilo Sarrazin ein Buch mit dem Titel „Deutschland schafft sich ab“. Darin ist die Eugenik wiederbelebt worden. Es findet sich der erstaunliche Satz, die Eugenik sei in der ersten Hälfte des 20. Jh sehr populär gewesen und er könne nicht verstehen, warum dies in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht mehr der Fall gewesen sei. Was das im Grunde bedeutet, ist lediglich dem leider zu früh verstorbenen Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Frank Schirmmacher aufgefallen. Der Rest hat das für eine denkbare Meinungsäußerung gehalten, obwohl das ganze Grundgesetz geschrieben wurde, um die Verbindung von sozialen mit genetischen Fragen zu verhindern, und zwar, weil die Väter und Mütter des Grundgesetzes den Nürnberger Ärzteprozess noch vor Augen hatten.

Sie beide, Frau Granzow-Rauwald und lieber Herr Gantz, Sie beide haben sich ausführlich mit der Aufarbeitung ihrer eigenen Familiengeschichte sowie den Auswirkungen auf Ihr persönliches Leben beschäftigt und reflektieren eben diese gesellschaftliche Auseinandersetzung aus einer ganz persönlichen Betroffenheit oder jedenfalls aus Erfahrungen in den eigenen Familien. Die KZ-Gedenkstätte Neuengamme leistet damit Pionierarbeit – Sie bauen direkte Beziehungen zwischen Menschen auf, den Nachkommen von Tätern und Opfern. Ich wünsche Ihnen weiter viel Kraft bei Ihrer Arbeit, sich immer wieder diesen Herausforderungen zu stellen und dafür zu sorgen, dass in Deutschland eben keine Kultur entsteht, in der darüber in Zukunft nicht mehr gesprochen werden soll.

Die Gedenkstätte Neuengamme löst damit auch den Wunsch von Shimon Peres ein, der 2010 am Holocaustgedenktag vor dem Bundestag den Wunsch äußerte: „Die Jugend muss sich erinnern, darf nicht vergessen, und muss wissen, was geschehen ist. Sie darf niemals, wirklich niemals, an etwas anderes glauben, sich andere Ziele setzen als Frieden, Versöhnung und Liebe.“ Jemand, der der höchste Repräsentant des Volkes war, dessen Vernichtung sich Deutschland zum Ziel gesetzt hatte, erhebt den Anspruch, in Deutschland, im deutschen Bundestag, nicht nur auf Aussöhnung und Frieden, sondern auf gegenseitige Liebe. Das muss bis heute auf uns beschämend wirken, denn umgekehrt hätte man sich solche Aussagen vor Jahrzehnten wahrscheinlich nicht vorstellen können. Und deshalb glaube ich, ist dieser Wunsch von Shimon Peres ein guter Auftrag für uns alle, und dass wir ein so kluges Projekt hier heute vorgestellt bekommen, dafür danke ich herzlich und wünsche Ihnen einen interessanten und hoffentlich nachwirkenden Abend. Alles Gute.

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