Der Mensch – ein nackter Affe?

Der Mensch – ein nackter Affe? Gefängnisdirektor Thomas Galli und seine Auffassung vom Strafvollzug sowie ein traumatisierter Psychiater.

Von Dietmar Jochum, TP Berlin.

Thomas Galli stellt schon im Vorwort seines Buches „Die Schwere der Schuld – ein Gefängnisdirektor erzählt“ zunächst die Behauptung auf, dass das Gefängnis eine überholte Institution sei, in der sich eine ungerechte, unvernünftige und oft unmenschliche Verteilung der Schuld manifestiere. Zu dieser Überzeugung sei er nach fünfzehn Jahren Gefängnisarbeit gekommen.

Dann erzählt er in neun Kapiteln von (schweren) Straftaten und den Menschen, die sie begangen haben, dass sich ein Durchschnittsbürger wohl unweigerlich empören und fragen wird, wohin diese Straftäter oder – wie es die Boulevard-Presse eher nennen würde – Verbrecher wohl sonst hin gehören als in den Knast. Für Galli ist es dagegen „oft genug sogar erstaunlich, dass derart sozialisierte Menschen, nach allem, was sie selbst erlebt haben, nicht noch viel Schlimmeres getan haben“.

Das ist zum Beispiel der dreifache Polizistenmörder, Geiselnehmer und Vergewaltiger Thaler, der seiner Mutter, „als er vier Jahre alt war“, „endgültig zu viel“ wurde. Er habe gestört „mit seinem Geschrei, seinem Bettnässen, seinen Problemen, seiner Anwesenheit“. Er sei dann zu seiner Großmutter gekommen, „die von einer kleinen Rente lebte und das Kindergeld gut brauchen konnte“. Seine Mutter habe jeden Kontakt zu ihm abgebrochen. Später habe Thaler einem psychologischen Gutachter erzählt, er träume heute noch fast täglich davon, wie er zur Mutter will, renne zur Gaststätte, will die Tür öffnen, doch sie gehe nicht auf, er hämmere dagegen, er schreit, er fleht, er wimmert, doch sie öffnet sich nicht, diese riesige, schwarze Tür. Er will zurück, in die andere Richtung, doch da ist nichts, nur ein tiefer, tödlicher Abgrund. Später dann, schon in der Schule, wurde er immer aggressiver. Schlägereien, Beleidigungen der Lehrer, Schulschwänzen. Im Alter von zehn Jahren trank er bereits Alkohol und rauchte. Mit dreizehn oder vierzehn erste Drogen. Als die Großmutter starb,kam er in ein Heim. Auch hier machte er nur Probleme. Die Schule verließ er ohne Abschluss, eine Ausbildung hat er nie absolviert. Mit dem Diebstahl von Zigaretten, Alkohol und Süßigkeiten begann er mit zehn oder elf, später dann dealte er mit Drogen. Mit fünfzehn kam er zum ersten Mal hinter Gitter und verbrachte von da an nur noch wenige Monate in Freiheit.

In scharfem Kontrast zu Thaler schildert Galli Richtstein, einen Betrüger, der im Knast die für ihn zuständige Sozialarbeiterin geschwängert hatte.

Diese hatte es Galli gebeichtet.

Betrüger scheint Galli „gefressen“ zu haben: „Dieser Mann also war der Erzeuger von Annas ungeborenem Kind. Ausgerechnet Richtstein. Und ausgerechnet Anna!“

Obwohl der Geschlechtsverkehr freiwillig war, zieht Galli, von einer Fürsorgepflicht überwältigt oder als hätte der ihm die eigene Frau ausgespannt, kräftig über Richtstein her: „Angenehm und, wüsste man nicht von deren Taten, sympathisch sind oft Gewalttäter oder auch Gefangene, die wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern verurteilt worden sind. Weniger angenehm sind Betrüger wie Herr Richtstein. Verurteilt wegen mehrfachen Betruges in Millionenhöhe zu fast zehn Jahren Haft. Seit einigen Jahren schon hatte ich mit ihm zu tun. Ein Betrüger wie aus dem Bilderbuch.“

Betrüger, so Galli, „lügen und manipulieren ohne Rücksicht auf Verluste. Oft sind es sozial sehr kompetente und überdurchschnittlich intelligente Menschen. Im Gefängnis kenne man ihren Hintergrund und begegne allem, was sie sagen, mit einer gewissen Skepsis. Aber draußen, in ‚freier Wildbahn‘?

Wer hat gegen einen ‚guten Betrüger‘ eine Chance?

Er merkt genau, wie ein Mensch ‚tickt‘, welche Schwächen er hat, welche Töne auf der zwischenmenschlichen Klaviatur er zum Klingen bringen muss und wie er die sozialen Regeln zu seinem Vorteil ausnutzen kann, zieht Galli vom Stapel. Während viele von ihnen keine Hemmungen haben, ihre Opfer in schwere finanzielle oder psychische Krisen zu stürzen, wenden sie allerdings fast nie selbst körperliche Gewalt an.

Vielleicht liegt das daran, so Galli, dass in jeder Art von körperlicher Gewalt, so unrecht sie auch sein mag, zumindest ein Stück Ehrlichkeit steckt? Eine ehrliche Offenbarung von Aggression, zu der mancher Betrüger offenbar nicht fähig oder gewillt ist?, sinniert Galli.

Auch von einem Muttermörder erzählt Galli, der sich trotz aller Überredungskünste weigerte, nach 15 Jahren entlassen zu werden, obwohl er nicht mehr als gefährlich eingestuft wurde.

Dann auch von Drogenabhängigen, die zwar eine Urinabgabe nicht verweigern wollen, aber im Beisein von Bediensteten nicht können: Paruresis und psychogener Harnverhalt, laute der Fachausdruck dazu.

Recht amüsant dagegen die Schilderung über einen Psychiater, der „kein Messer in seinem Rücken stecken (hatte), keinen Strick um seinen Hals gebunden, keine Kugel im Kopf, und er war auch nicht mit einem Knüppel zusammengeschlagen worden“.

Aber dennoch beinahe hätte tot sein können, nachdem er von einem Gefangenen mit einem scharf zugespitzten Schraubenzieher angegriffen worden war. Nur durch großes Glück blieb er bis auf eine Prellung unverletzt.

Ein Amtsarzt habe dann über den Psychiater diagnostiziert: »Er darf keinen Kontakt mit Gefangenen haben. Ansonsten ist er voll dienstfähig.«

Weiteren Kontakt zu Gefangenen habe der Psychiater auch von sich aus abgelehnt wollte aber auch nicht auf seinen Beamtenstatus verzichten.

Was tun?

Nach langem Hickhack, worin die Justiz offenbar Übung hat, sei für diesen Psychiater dann ein betriebspsychiatrischer Dienst eingerichtet worden, den es bis dahin nicht gab. Seine Aufgabe sei es dann gewesen, für alle Bediensteten Ansprechpartner in sämtlichen Fragen rund um die psychische Gesundheit zu sein. Doch da wollte kein Bediensteter hin, weil sich niemand selbst kompromittieren wollte, etwa meschugge zu sein.
Auch hätte man gewusst, wie er oft über Gefangene geredet hatte, die zu ihm in Behandlung gekommen waren.

Dem Psychiater sei zunehmend langweilig geworden. Er habe Gruppengespräche für Kollegen angeboten, die er ursprünglich für Inhaftierte vorgesehen hatte. Auf seinen Aushang am schwarzen Brett und die Rundmail an alle, Interessierte könnten sich für das Seminar »Diagnose Depression – was nun?« anmelden, habe allerdings niemand reagiert. Zumindest einige Teilnehmer kamen zu Veranstaltungen, die er zu grundlegenden, philosophischen Fragestellungen anbot, wie zum Beispiel eine Podiumsdiskussion in der Sporthalle der Anstalt zum Thema »Der Mensch – ein nackter Affe?« Mit seiner These, die Menschen sollten wie die Bonobo-Affen alle Konflikte mit Sex lösen, konnten die Beamten allerdings nicht viel anfangen.

Irgendwann sei der Psychiater immer anzüglicher und grenzüberschreitender geworden. Er habe jedes Thema in einen sexuellen Kontext gebracht, habe jedes Problem, ja jeden kleinen Ärger, den ihm jemand mitteilte, auf sexuelle Konflikte zurückgeführt.

Das sei schließlich bis zu Strafanzeigen gegen den Psychiater eskaliert.

Galli nachvollziehend und konstatierend: Aber immerhin hätten die Beamten die Erfahrung machen können, die die Inhaftierten tagtäglich über sich ergehen lassen mussten, nämlich gegen ihren Willen behandelt, analysiert und diagnostiziert zu werden. Die Gefangenen können sich beides nicht aussuchen. Das Gefängnis nicht und die Ärzte nicht. Sie müssen sich so lange behandeln lassen, wie der Arzt es für richtig hält. Aber die Beamten können es sich aussuchen.

Der Psychiater bekam schließlich vor den Toren der Anstalt im Bereich der Dienstwohnungen für Anstaltsbedienstete ein Büro zugewiesen. Dort musste er Gutachten externer Sachverständiger über Gefangene auf ihre fachliche Stichhaltigkeit hin überprüfen. Er nahm allerdings so gut wie jedes Gutachten derart auseinander, dass die ersten externen Gutachter schon androhten, sie würden keine Gutachten für die JVA mehr machen, wenn diese dann derart unfachmännisch desavouiert würden.

Thomas Galli beschreibt auch die Situation oder den Konflikt, dass der Gefangene so schnell wie möglich entlassen werden möchte, die Anstalt aber kein Sicherheitsrisiko in Kauf nehmen möchte und dokumentieren müsse, was sie dem Gefangenen alles an Therapie- und Behandlungsmaßnahmen angeboten habe. So werde die Vollzugsplanung in vielen Fällen zur Farce, allerdings zu einer sehr aufwendigen, so Galli.

Insbesondere wenn es darum ging, ob eine lebenslange Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt werden konnte oder auch, ob eine Sicherungsverwahrung (weiter} vollzogen werden musste, ging es neben der Einschätzung einer fortbestehenden Gefährlichkeit des Betroffenen um eine Abwägung: Hat der Gefangene alles Zumutbare getan, seine Gefährlichkeit zu reduzieren, und hat die Anstalt dafür ihrerseits alles Zumutbare unternommen?

Ein Psychologe in der mit über achthundert Gefangenen belegten Anstalt sei fast ausschließlich mit diesen Motivationsgesprächen beschäftigt gewesen und musste sich auch selbst regelmäßig in der Motivationskunst schulen und weiterbilden lassen. Zu erfolgreich durfte er allerdings auch nicht sein, so Galli offenbarend, denn es standen nicht für alle Gefangenen ausreichend Therapieplätze zur Verfügung.

Thomas Galli beschreibt sehr ausführlich, fundiert und durchaus spannend die beklemmende Situation hinter dicken Gefängnismauern und den Konflikt, dem die Bediensteten zwischen dem verfassungsrechtlich garantierten Resozialisierungsanspruch der Inhaftierten und dem Sicherheitsanspruch der Allgemeinheit ausgesetzt sind. Oder vielleicht auch Vorurteilen und Anweisungen, über die sie sich nicht hinwegsetzen wollen und/oder können.

Ein Rezept, wie den vielen Handy-Funden bei Gefangenen anders entgegen gewirkt werden kann als mit rigiden Disziplinarmaßnahmen, hat Ober-Knast-Kritiker Galli allerdings nicht vorzuweisen. Dabei werden die Handys eher nicht genutzt, um Ausbrüche zu planen, sondern um den horrenden Preisen zu entgehen, die private Telefonanbieter den Inhaftierten geradezu wucherisch mit Segen der JVA’s abverlangen. In Bayern müssen Telefonate sogar noch ausdrücklich beantragt werden, weiß Insider Galli zu berichten, während in anderen Bundesländern die Apparate zur freien Verfügung an den Flurwänden hängen. Aber eben zu den horrenden Tarifen.

Thomas Galli: Die Schwere der Schuld, Ein Gefängnisdirektor erzählt, Verlag Das Neue Berlin 2016, 192 S. brosch., 12,99 €, ISBN 978-3-360-01 307-1, auch als eBook erhältlich

Aktueller Link zu einer Diskussion mit Thomas Galli am 30.09.2016: https://www.youtube.com/watch?v=fx6GE57nkpw

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