„Die Anklage gegen die drei Politbüro-Mitglieder ist unrechtmäßig erhoben worden“.

TP-Interview mit Werner Großmann, letzter Chef der DDR-Auslandsaufklärung (HVA).

TP:

Herr Großmann, war Franz Josef Strauß, der ehemalige CSU-Vorsitzende und bayerische Ministerpräsident, ein Agent der Staatssicherheit?

Großmann:

Nein, sicher nicht.

Frage:

In einem Schweizer Nachrichtenmagazin stand, daß Strauß einen westlichen Unterhändler, den Schweizer Bankier Holger Bahl – auf den wir noch zu sprechen kommen – bei Mielke denunziert habe, daß hinter ihm die Geheimdienste Westdeutschlands gestanden haben. Wer macht so etwas, wenn nicht ein Agent eines ihn anziehenden oder ihm angenehmen Geheimdienstes?

Großmann:

Davon habe ich keine Kenntnis. Das höre ich jetzt zum ersten Mal, daß Franz Josef Strauß eine solche Mitteilung oder eine Bemerkung in Richtung Mielke gemacht haben soll. Ich kenne das nicht, ich halte das beinahe auch für ausgeschlossen.

Frage:

Strauß hat sich ja später durchgesetzt mit seinem Milliardenkredit gegenüber dem sogenannten „Zürcher Modell“ – auf das wir ebenfalls noch zu sprechen kommen -, für das sich das ehemalige Mitglied des Politbüros des ZK der SED, Prof. Herbert Häber, eingesetzt hat.
Wenn Strauß schon kein Agent des Staatssicherheitsdienstes war, wie Sie es jetzt bestätigen, ist es nicht denkbar, daß er sich vielleicht zu gewissen Liebesdienereien hat hinreißen lassen, um sein Konkurrenzmodell des Milliardenkredites gegenüber dem „Zürcher Modell“ besser durchsetzen zu können?

Großmann:

Zu welchen Liebesdienereien denn? Daß Strauß ein äußerst einflußreicher Politiker und Repräsentant der CSU war, die nicht immer in allen Fragen mit der Deutschland- und Ostpolitik der CDU konform ging, ist wohl unstrittig. Daß sein Machterhaltungstrieb ihn für manch Andere auch zu schwer nachvollziehbaren Handlungen veranlaßte, wohl auch. In beiden deutschen Staaten standen hinter den beiden Modellen einflußreiche Gruppen. Eine hat sich durchgesetzt. Keine Liebesdienerei, pragmatische nüchtern kalkulierte Politik, auch zu persönlichen Vorteilen.

Frage:

Sie haben in Ihrem Buch „Bonn im Blick“, das im letzten Jahr erschienen ist, geschrieben, daß Sie sich für dieses „Zürcher Modell“ bei Mielke eingesetzt haben, aber bei ihm damit auf Ablehnung gestoßen sind und dann das Thema nicht mehr aufgreifen durften.

Großmann:

Ja, das stimmt. Dazu muß ich etwas ausholen: Wir haben von dem „Zürcher Modell“ etwa Anfang der 80er Jahre durch unsere Tätigkeit im Westen erfahren. Wir hatten ja im Westen geworbene Bürger, auch Funktionsträger in den verschiedensten Bereichen. Wir waren auch mit verschiedenen einflußreichen Politikern in persönlichem Kontakt, ohne daß es hier eine direkte Verbindung oder Beziehung z.B. durch eine Verpflichtungserklärung gab. Es bestand ein Gesprächskontakt. Einen solchen gab es auch über viele, viele Jahre mit Karl Wienand …

Frage:

… dem SPD-Politiker …

Großmann:

… wobei die Staatssicherheit oder die HVA als solche …

Frage:

… Hauptverwaltung Aufklärung, also die sogenannte Auslandsspionageabteilung der Staatssicherheit der DDR …

Großmann:

… keine Rolle spielte. Sein Gesprächspartner war – der Legende nach – ein Mitarbeiter von Willi Stoph, dem damaligen Ministerpräsidenten. So ist das über viele Jahre gelaufen. So haben wir dann von Wienand das erste Mal, als HVA, von einem Projekt erfahren, das sich „Zürcher Modell“ nannte. Das waren die ersten Erkenntnisse, die überhaupt zu uns kamen – durch unsere Tätigkeit im Westen.

Frage:

Mein erster Eindruck, als ich Ihr Buch las oder hörte, daß Sie sich für das „Zürcher Modell“ stark gemacht haben, war, daß HVA eigentlich nicht „Hauptverwaltung Aufklärung“ hieß, sondern „Hauptverwaltung Auflösung“. Wie Sie ja wissen, bezweckte das „Zürcher Modell“ Kredite für die DDR im Gegenzug für humanitäre Leistungen und die Herabsetzung des Reisealters bei Rentnern um fünf Jahre, was Reisen in westliche Ländern für Millionen DDR-Bürger bedeutet hätte.
Hätte diese Anzahl von Reisenden aber nicht zwangsläufig den Zusammenbruch der DDR bedeutet? Daher habe ich mich beim Lesen Ihres Buches gefragt, wie sich ein Geheimdienstchef der HVA, der Sie waren oder geworden sind, für dieses „Zürcher Modell“ einsetzen konnte. Hätte ein solches Engagement, so fragte ich mich damals, bei oder gegenüber Mielke nicht gleich mehr als eine Abfuhr bedeutet und Sie wären – bestenfalls – pensioniert worden?

Großmann:

Nein, so können Sie da nun nicht herangehen. Zunächst war ja von Anfang an der Zusammenhang nicht so hergestellt, wie Sie ihn schildern. Wir haben davon erfahren, daß es eine Absicht gibt, in der Schweiz eine Bank mit deutsch-deutscher Beteiligung einzurichten …

Frage:

… aus der sich die DDR dann mit den Krediten hätte bedienen können.

Großmann:

Herr Bahl als Bankier war uns nur namentlich genannt worden. Persönlich kannten wir ihn nicht. Es war auch nicht sofort die Rede davon, daß hier Geld fließen soll in Höhe von 4 – 5 Milliarden und dann so und so viele DDR-Bürger in die Bundesrepublik reisen können. Das war zunächst mal gar nicht so sehr der Ausgangspunkt, sondern überhaupt die Überlegung, der DDR aus der Devisenknappheit etwas herauszuhelfen, natürlich verbunden auch mit Maßnahmen auf humanitärem Gebiet. Erst im Laufe der Diskussion ist es zu diesen Zahlenspielen gekommen, wieviel auf jeder Seite eingesetzt werden könnte. Zunächst stand das aber nicht.
Hinzufügen möchte ich, daß wir aus einer zweiten Quelle Informationen erhielten, nämlich von Prof. Dr. Jürgen Nitz, der im IPW tätig war …

Frage:

… Institut für Internationale Politik und Wirtschaft …

Großmann:

… und mit dem wir – wie zu anderen auch – Kontakt hielten und mit ihm auch über viele, viele Dinge sprachen. Auch er hat uns im Laufe der Zeit, etwa im gleichen Zeitraum wie auch Wienand, über die Gedanken, die Ideen, so etwas wie das „Zürcher Modell“ zu installieren, informiert. Insofern hatten wir also zwei Richtungen, ohne daß beide voneinander wußten. Keiner wußte, daß uns auch der andere informieren wird. Weder Nitz wußte von Wienand, noch Wienand wußte, daß uns Nitz informierte, so daß wir also aus zwei Seiten Informationen hatten.
So, was tut ein Nachrichtendienst? Er nimmt Informationen entgegen, hat keinerlei Recht oder die Aufgabe, daraus Politik entscheidende Maßnahmen abzuleiten. Das steht ihm nicht zu. Dazu hat er auch keine Möglichkeit. Er kann also nur durch seine Informationen versuchen, die entsprechenden zuständigen Persönlichkeiten aufmerksam zu machen und sie in diese Richtung vielleicht zu beeinflussen durch die Informationsgabe, mehr aber auch nicht. Insofern haben wir die Informationen, die uns zukamen, insbesondere aus diesen beiden Quellen, natürlich verdichtet und haben sie auch weitergeleitet. Das ist meist so, und so ist es auch in diesem Falle gewesen, daß zunächst mal kaum ein Rücklauf gekommen ist. Das war auch nicht zu erwarten. Wir haben also informiert über die Angelegenheit, was da im Busche ist, was sich da tut, von welchen Seiten auch immer. Das war unsere Aufgabe und damit zunächst mal erledigt.

Frage:

Was hatte Mielke denn im Hinterkopf, als er z.B. sagte, dieses „Zürcher Modell“ wird auf Eis gelegt, das kommt nicht in Frage?

Großmann:

Nun muß ich sagen, daß wir, nachdem wir nach 1 oder 1 ½ Jahren auf unsere Informationen keinen Rücklauf bekamen, wie wir uns dazu verhalten sollen, wir auch mitbekamen, daß das „Zürcher Modell“ als solches möglicherweise doch nicht dasjenige sein wird, das zur Perfektion kommen wird – sowohl Nitz als auch Wienand sprachen von Schwierigkeiten -, das zum Anlaß genommen und bei Minister Mielke mal die Frage gestellt haben, welche Meinung es denn zum „Zürcher Modell“ generell gibt und was wir weiter dazu tun sollen: Sollen wir weiter aufklären oder auch nicht, oder in welche Richtung, wo liegen die Schwerpunkte, was will man wissen? Das war ja für uns wichtig, da wir das Problem insgesamt natürlich so auch nicht einschätzen konnten. Wir hatten keine Ahnung in dem Moment, wie die DDR-Führung – in welchen Bereichen auch immer – zu diesem Projekt steht und was sie möglicherweise damit machen will oder auch nicht. Das hatten wir nicht. So, und nun gab’s die Anfrage. Und da gab es die Antwort von Mielke, daß wir die Finger davon lassen und uns mit diesem Problem nicht mehr beschäftigen sollen. Er nannte das eine unseriöse Angelegenheit, hier seien Personen im Geschäft, die der DDR nicht helfen, sondern die die DDR schädigen wollen. Dabei nannte er insbesondere Herrn Bahl, den Schweizer Bankier, der – und das wurde so gesagt – auch Verbindungen zu westlichen Diensten habe. Es wurde keiner konkret genannt, lediglich „westliche Dienste“. Uns wurde gesagt, wenn mit Bahl weiter Kontakt gehalten würde, die westlichen Dienste „mit am Tische“ säßen – und davor sollten wir uns hüten. Wir sollten also überhaupt nichts mehr tun in dieser Richtung.

Frage:

Inwiefern hätten hinter Strauß nicht die westlichen Geheimdienste stehen können? Oder wurde Strauß so altruistisch eingeschätzt, daß er der DDR nur helfen wollte, damit sie nicht ausblutet oder wirtschaftlich nicht vor die Hunde geht?

Großmann:

Schauen Sie, das muß man einfach hinnehmen: Wenn der Minister jetzt in dieser Linie eine Weisung geben will, wie er das hier getan hat, dann führt er natürlich solche Argumente ins Feld. Und da wird dann nicht überlegt, ob es bei einem anderen genauso sein könnte. Natürlich könnte es da genauso sein, aber es war eben nicht gewollt.

Frage:

Lag das möglicherweise daran, daß bei Strauß humanitäre Gegenforderungen nicht so in den Vordergrund gestellt wurden, wie das bei dem „Zürcher Modell“ der Fall gewesen ist?

Großmann:

Das kann ich jetzt schlecht bewerten, weil wir hinsichtlich der „Schiene Schalck-Golodkowski/Strauß“ völlig außen vor waren. Da waren wir überhaupt nicht einbezogen, waren auch nicht informiert, wurden auch nicht gebeten in dieser Richtung etwas zu tun. Wir haben natürlich Kenntnis davon erhalten, daß sich in dieser Richtung etwas tut, aber nichts konkretes, so daß wir auch nicht bewerten konnten – und auch heute im nachhinein nicht bewerten können -, weshalb man dieser Richtung den Vorzug gegeben hat.

Frage:

Wer hat da einen „Schirm“ davorgehalten? Schalck-Golodkowski war schließlich Oberst der Staatssicherheit. Inwiefern konnte er an Ihnen vorbeiarbeiten bzw. das wollen?

Großmann:

Der hat nur an uns vorbeigearbeitet. Schalck-Golodkowski war Mittag unterstellt oder auch Honecker und Mielke. Wenn er etwas mit der Staatssicherheit getan hat, dann hat er es mit dem Minister selbst getan und nicht mit uns. Uns als HVA hat er im wesentlichen als Konkurrenzunternehmen gesehen und möglichst darauf hingearbeitet, daß wir nicht zu sehr Einblick in seine Tätigkeit bekommen. Wir hatten zwar Beziehungen, man hat sich unterhalten, und bestimmte Dinge waren auch notwendig, aber mehr auch nicht. Die ganz internen Dinge gingen von Schalck direkt zu Minister Mielke und nicht an uns.

Frage:

Prof. Herbert Häber war ja jemand, der sich für das „Zürcher Modell“ stark gemacht hat. Das dürfte unstreitig sein. War dieses „Zürcher Modell“ letztendlich der Fallstrick für Herbert Häber?

Großmann:

Das kann ich so auch nicht einschätzen. Wir hatten mit Herbert Häber einen sehr engen Kontakt. Das ergab sich auch aus seiner Funktion, die er einnahm – zunächst mal als Abteilungsleiter im Zentralkomitee und später dann auch als Mitglied des Politbüros und seiner Aufgabenstellung damit. Also wir hatten eine sehr enge Berührung. Aber ich muß sagen, ich kann mich nicht entsinnen, daß wir mit Herbert Häber jemals über das „Zürcher Modell“ gesprochen haben. Wir haben zwar alles Mögliche mit ihm besprochen, z.B. Kontakt zu den Grünen und vieles andere mehr, so die politischen Dinge, die da liefen. Aber das „Zürcher Modell“ war nach meiner Erinnerung kein Gesprächsthema. Und insofern weiß ich auch nicht, ob das nun eine Rolle gespielt hat dahingehend, was Herbert Häber widerfahren ist.

Frage:

Herbert Häber verteidigt sich in seinem Prozeß damit, er habe Bemühungen entfaltet, diese Mauer durchlässiger zu machen. Wäre die Mauer durch das „Zürcher Modell“ durchlässiger geworden?

Großmann:

Na sicher, wenn man das Reisealter senkt, meinetwegen von 65 auf 60 Jahre, dann kann man schon sagen, daß die Mauer durchlässiger geworden wäre. Aber das hätte sich dann auf eine – ich weiß nicht wieviele Personen das genau gewesen wären – entsprechende Anzahl von Reisenden beschränkt. Mehr aber auch nicht. Aber durchlässiger wäre die Mauer schon geworden.

Frage:

Wenn das „Zürcher Modell“ zum Tragen gekommen wäre, hätte das auch Tote und Verletzte an Mauer und Stacheldraht verhindert? Diejenigen, die über die Mauer geflüchtet sind, waren ja dem Reisealter ohnehin noch sehr fern.

Großmann:

Ja sicher, die Mauer wäre durch das „Zürcher Modell“ nicht beseitigt worden. Sie wäre etwas durchlässiger geworden, aber das hätte – Sie haben schon Recht – zunächst mal nur Personen der älteren Jahrgänge betroffen.

Frage:

Holger Bahl behauptet, in der DDR – hinsichtlich des „Zürcher Modells“ und auch hinsichtlich der Denunziation von Franz Josef Strauß, daß hinter ihm die westlichen Geheimdienste stünden oder gestanden haben – eine persona non grata gewesen zu sein.
Was war aber grundsätzlich so verkehrt, so gefährlich an diesem „Zürcher Modell“ – schließlich hätte es für die DDR auch die dringend benötigten Devisen gebracht. Oder war eben der Preis zu hoch, so und so viele Menschen dafür reisen zu lassen?

Großmann:

Zunächst möchte ich noch einmal sagen oder darauf verweisen, daß ja auch Minister Mielke uns gegenüber die Bemerkung gemacht hat, daß Bahl eben Kontakt zu westlichen Dienste hatte bzw. von dort gesteuert wird und damit also eine Person ist, der man mit großer Vorsicht gegenübertreten muß. Wenn es jetzt eine solche Erkenntnis gab, weiß ich nicht, woher sie kommt. Und – dann sage ich auch noch einmal -, ob es Strauß war, das möchte ich bezweifeln, ob’s andere Erkenntnisse, meinetwegen auch durch die Arbeit der Abwehrdiensteinheiten gab, kann ich auch nicht bewerten, weil ich da keinen Einblick habe. Aber die Aussage allein reicht ja aus, zu sagen, es gab zumindest solche Einschätzungen und da hat es sicher dann auch Maßnahmen gegeben. Ob das ein Einreiseverbot war, das weiß ich jetzt nicht, das waren nicht unsere Probleme, damit sind wir nicht beschäftigt gewesen. Ich weiß es nicht, aber es könnte sein.
Ich will mal die Frage ganz anders beantworten, warum nicht dem „Zürcher Modell“, sondern letztendlich, wie wir’s bezeichnet haben, der „Südschiene“ …

Frage:

… also dem Straußkredit …

Großmann:

… der Vorzug gegeben worden ist. Wissen Sie, in der Politik spielen manchmal auch rein persönliche Fragen eine Rolle, persönliche Animositäten auch, und, und und, ohne daß da große andere Überlegungen dahinterstecken. Manchmal siegt auch die Emotion über die Realität.
Sicher spielte auch die Konkurrenz in der Deutschlandpolitik zwischen der CSU, sprich Strauß, und der CDU, sprich Kohl, eine Rolle. Für mich war aber auch eines klar: Als Herbert Häber von Erich Honecker ins Politbüro gehievt wurde, war mir klar, daß er großen Widerstand zu erwarten hatte von zwei Seiten. Nämlich einmal von Mittag und zum anderen von Axen. Beide mußten befürchten, und befürchteten das auch, daß er nunmehr Kompetenzen erhält, die ihren Einflußbereich einschränken. Mittag verlangte für sich eine uneingeschränkte Zuständigkeit der Politik gegenüber der Bundesrepublik. Es gab eine Arbeitsgruppe des Politbüros, in der alle Fragen der Politik gegenüber der BRD und Westberlin beraten und auch beschlossen wurden. Selbst das Außenministerium mußte ja da Vorlagen einreichen und sich dort bestätigen lassen. Mittag leitete diese Arbeitsgruppe, Schalck-Golodkowski war Sekretär.

Frage:

Also war auch Herbert Häber in seinem ZK-Apparat nicht souverän?

Großmann:

Er war schon insofern etwas souverän, daß er an beiden vorbei mit Honecker persönlichen Kontakt hatte und mit Honecker natürlich auch über dringend zu lösende politische Probleme sprechen konnte. Sicher wurde auch mal einiges zwischen beiden besprochen: Wir werden das so und so machen oder so und so angehen. Und das wurde ja sowieso schon über die ganze Zeit mit Argwohn betrachtet, aber als Abteilungsleiter hatte er natürlich nicht die Macht, als dann im Politbüro als Politbüromitglied. Daß es zu Auseinandersetzungen kommen mußte, das war für mich vorprogrammiert.

Frage:

Es ging aber wohl mehr um die Frage, daß befürchtet wurde, Herbert Häber könnte der Kronprinz von Erich Honecker sein?

Großmann:

Ich habe es so nicht gesehen, andere möglicherweise doch.

Frage:

Noch mal zurück zu Holger Bahl. Er behauptet auch, ihm sei unterstellt worden, er habe die DDR wirtschaftlich abhängig machen wollen. War das bei dem Straußkredit nicht der Fall?

Großmann:

Eine gewisse Abhängigkeit entwickelt sich immer, ganz gleich, was man mit wem abschließt. Inwieweit das dann auch Einfluß nimmt auf die Politik insgesamt, das ist eine ganz andere Frage. Aber natürlich gibt es eine gewisse Abhängigkeit. Ich meine aber, das ist auch zweiseitig zu sehen. Es gibt ja dann eine Vereinbarung, daß diese Seite diese Maßnahme und die andere Seite jene Maßnahme unternimmt. Insofern sehe ich da auch keine Gefahren, daß man da in solche Abhängigkeit gerät, daß man überhaupt selbst nicht mehr bestimmen kann oder keinerlei Unabhängigkeit mehr besitzt. Ich glaube auch nicht, daß man jetzt großartig abgewogen hat, was besser ist, entweder die Selbstschußanlagen abzubauen – das ist ja wohl im Zusammenhang mit dem Straußkredit eine Frage gewesen – oder Reiseerleichterungen zu gewähren. Natürlich ist ein Abbau der Selbstschußanlagen billiger als so und so viele Leute reisen zu lassen. Und das war ja für die DDR nun tatsächlich immer ein echtes Problem. Es fehlte das Geld, es fehlten die Devisen, die dazu notwendig waren.

Frage:

Die hätte man mit dem „Zürcher Modell“ genauso gut bekommen als mit dem Straußkredit.

Großmann:

Ja sicher.

Frage:

Nun hätte der Abbau der Selbstschußanlagen ja schon aufgrund Helsinki – KSZE-Vereinbarungen – erfolgen müssen. Wieso bedurfte es erst des Straußkredits, um das zu realisieren?

Großmann:

Nun ja, wenn Strauß bereit gewesen ist, das zu tun, warum sollte man das nicht nehmen? Jetzt sage ich das auch mal so: daß man natürlich versucht, auch Vorteile zu erlangen, also jetzt für die DDR, das halte ich für legitim.

Frage:

Sie waren ja auch Zeuge bei dem Prozeß gegen Häber und andere. Als Sie hörten, daß Herbert Häber, von dem ja bekannt ist, daß er sich für das „Zürcher Modell“ starkgemacht hatte und auch, wie es heißt, sich auch ansonsten für eine Öffnung der DDR nach dem Westen hin stark engagiert hatte, was haben Sie darüber gedacht, daß er wegen „Totschlag durch Unterlassen“ angeklagt ist?

Großmann:

Hier steht die Anklage ja gegen drei Politbüromitglieder. Ich würde sagen, sie ist unrechtmäßig gegen alle drei erhoben worden, nicht nur gegen Häber. Ich mache da keine Differenzierung. Wenn es um die Frage „Totschlag durch Unterlassen“ geht, daß sich die Angeklagten also nicht dafür eingesetzt haben, das Grenzregime humaner zu gestalten, dann kann man sowohl Herbert Häber als auch Hans-Joachim Böhme und Siegfried Lorenz nicht dafür verantwortlich machen. Die beiden letzteren schon gar nicht in ihren Tätigkeiten in den Bezirken.

Frage:

Sie würden also das Engagement Häbers – „Zürcher Modell“ und die Westöffnungspolitik – nicht gewichtiger einschätzen hinsichtlich der Humanisierung des Grenzregimes als, wie es das Gericht angenommen hat, das „bloße Nichtstun“ der anderen beiden Politbüromitglieder?

Großmann:

Nein, ich hebe von diesen dreien keinen hervor. Schauen Sie, ich muß einfach auch von deren Verantwortung und deren Funktionen ausgehen. Herbert Häber war natürlich in einer Funktion, in der er sich mit Problemen beschäftigen mußte, wie es eben diese Verbindung zwischen Bundesrepublik und DDR war, Reiseprobleme usw., während die beiden anderen ganz andere Aufgaben hatten in Karl-Marx-Stadt oder in Halle. Die hatten natürlich diese Probleme in dem Maße gar nicht und auch gar nicht die Zuständigkeit. Da hätte man sie gar nicht gehört. Ich würde sagen, sicher hat sich Herbert Häber da stärker engagiert als die anderen beiden, aber das kam ihnen auch gar nicht zu, sich da weiter zu engagieren.

Frage:

Also schließen Sie Häbers stärkeres Engagement lediglich aus seiner Aufgabenstellung?

Großmann:

Ich billige ihm schon ein starkes persönliches Engagement zu, aber es war eben auch seine Aufgabe im Rahmen der Entwicklung der Beziehungen zwischen der DDR und der Bundesrepublik. Das war seine Aufgabe, politische Überlegungen anzustellen und Vorschläge zu machen. Was man den anderen unterstellt, unterlassen zu haben, war einfach nicht deren Aufgabe.

Frage:

Haben Sie Kenntnisse, daß sich Herbert Häber in Richtung Wiedervereinigung engagiert hatte?

Großmann:

Nein. Solange ich Herbert Häber kannte und mit ihm auch persönlichen Kontakt hatte, hat diese Frage der Wiedervereinigung nicht gestanden. Die Verbesserung der Beziehungen und die Fortführung der Politik von der Konfrontation zur Kooperation – ja, aber nicht in Richtung Wiedervereinigung.

Frage:

Also daß es auch zu keinen Schüssen mehr an der Mauer kommt?

Großmann:

Ja natürlich.

Interview: Dietmar Jochum, 14.11.2002

Bildquelle: Lutz Helmdach

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